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Wahrheitseifer und Toleranz

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 27. November 1981
Verlag Helbing &Lichtenhahn • Basel 1981

Lochman, Jan Milic: Wahrheitseifer und Toleranz: Rektoratsrede, gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel am 27. November 1981 /Jan Millic Lochman. Basel: Helbing &Lichtenhahn, 1981. (Basler Universitätsreden; H. 75) ISBN 3 7190 0814 2. NE: Universität «Basel»: Basler Universitätsreden

ISBN 3 7190 0814 2
Bestellnummer 21 00814
© 1981 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel

I.

«Christus regiert der Antichrist wird vernichtet!»

Diese Worte prangten vor 550 Jahren, in der Adventszeit 1431, in der Mitte unserer Stadt, angeschlagen am Tor des Basler Rathauses. Es sind dies die ersten Worte eines langen «Briefes aus dem ganzen böhmischen Land», eines hussitischen Manifestes, welches Vertreter der tschechischen Reformation an die Bewohner Basels adressierten. 1

Basel stand damals im Zentrum der geistigen Aufmerksamkeit Europas: die Stadt, in welcher die geistige und kirchenpolitische Elite der Zeit zusammentraf, um das Konzil abendländischer Christenheit abzuhalten. Die Hussiten, die sich anschickten, am Konzil teilzunehmen, um dort ihr reformatorisches Anliegen zu vertreten, richteten ihr Manifest nicht nur an die Konzilsväter, sondern zugleich und über ihre Köpfe hinaus an die Gesamtheit der Basler, in der für sie typischen Erkenntnis und Hoffnung, dass die Erneuerung der Kirche und Gesellschaft nicht bloss die Elite, sondern das ganze Volk Gottes, auch eben das Volk der Konzilsstadt angeht.

In diesem Sinne ist das Manifest —wie auch das Ringen der repräsentativen hussitischen Abordnung am Konzil selbst, dieses «geistige Turnier» (wie es der tschechische Historiker F. M. BARTOS

treffend charakterisierte)2, welches kurz danach unsere Stadt monatelang in Atem hielt —ein Dokument radikal-christlichen Wahrheitseifers. Die Hussiten erwiesen sich darin als treue Nachfolger ihres Meisters JAN Hus, welcher sein reformatorisches Programm nicht von ungefähr und für seine Mitarbeiter offenbar unvergesslich im Aufruf zusammenfasste: «Suche die Wahrheit, höre die Wahrheit, lerne die Wahrheit, sage die Wahrheit, halte die Wahrheit, verteidige die Wahrheit bis zum Tod.»3

Die Erinnerung an dieses Ereignis gibt mir das erste Stichwort für die nachfolgenden Überlegungen: Wahrheitseifer. Aber es ist da noch ein anderes Jubiläum, welches mich in den letzten Wochen immer wieder beschäftigte. Im Herbst 1781, vor fast genau 200 Jahren, veränderte sich die geistige und vor allem kirchliche Situation im Herzen Europas, in Böhmen und Mähren (und in der ganzen habsburgischen Monarchie): es wurde den Resten der bisher hart bedrängten Evangelischen in diesen Ländern mit dem Toleranzpatent ein eigenständiges und öffentliches kirchliches Leben erlaubt. Das Toleranzpatent war einerseits die spätreife Frucht der Aufklärung, deren Welle für eine kurze Zeit in der Person des Kaisers Joseph II. sogar den habsburgischen Thron streifte; es war jedoch andrerseits —und meiner Ansicht nach im entscheidenden Mass —das Ergebnis zähen Widerstands der «Stillen im Lande», evangelischer Gruppen, welche über fünf Generationen der Verfolgung hinaus dem Erbe der Väter, der «erkannten Wahrheit», ihre Treue hielten und durchhielten.4 In Erinnerung an diesen Anlass lautet mein zweites Stichwort

Toleranz —und in der Verbindung der beiden das Thema dieser Rede: Wahrheitseifer und Toleranz.

Das Thema ist abgesehen von aktuellen Anlässen von sachlicher Bedeutung. Es handelt sich um ein spannungsreiches Thema. Das kleine «und» in unserer Formulierung wird immer wieder zum grossen Problem. Die geschichtliche Erfahrung illustriert es mit einer geradezu entmutigenden Anschaulichkeit — sowohl die der «grossen» Geistesgeschichte wie auch die der «kleinen», persönlichen Biographie.

Von beiden Seiten her drohen doch offenbar Gefahren: Es gibt Wahrheitseifer, der der Toleranz zuwiderläuft, sie verletzt und zerstört. Das griechische Wort, welches im deutschen Neuen Testament mit dem Begriff des Eifers übersetzt wird, heisst: zélos. Und da wissen wir alle: wieviele zelotische, also: militante, grundsätzlich unversöhnliche Wahrheitseiferer kennt unsere Geschichte —und Gegenwart. Es gibt mörderischen Wahrheitseifer, im buchstäblichen oder übertragenen Sinne —fiat veritas pereat mundus —, den ausschliessenden, exkommunizierenden Eifer, die «Ayatollah-Mentalität», welche so oft auch christliche Theologen (allerdings auch bewusst unchristliche Ideologen) kennzeichnet.

Aber auch andrerseits: es gibt Toleranz, welche jeden Wahrheitsbezug scheut, eine Verhaltensweise von Menschen, denen es leicht kommt, tolerant zu sein, weil sie an nichts mehr glauben. Unsere Geschichte und Gegenwart kennt auch solche Erscheinungen, im Lager der Skeptiker und grundsätzlicher Relativisten oder gar Nihilisten. Hier wird «Dienstverweigerung der Wahrheitsfindung» geübt, hier geht man jeder verbindlichen Entscheidung und Parteinahme von vornherein aus dem Wege, hier hält man dem Wahrheitseifer der Zeitgenossen in müder Trauer — oder schlimmer: mit mildem Lächeln —nur die ewige Gegenfrage entgegen: Was ist Wahrheit?

So fehlt es von beiden Seiten her nicht an Stimmen, welche das «und» in unserem Thema problematisieren und die dazu neigen,

es durch ein «oder» zu ersetzen: Wahrheitseifer oder Toleranz. Entweder der Eifer für die Wahrheit — dann aber konsequent, wahrhaft zelotisch, klassenkämpferisch. Oder die Toleranz — dann aber konsequent, im Verzicht auf jeden Eifer, in unbegrenzter Konzilianz. Ich nehme solche Stimmen, oder besser: die Schwierigkeiten, von welchen sie veranlasst werden, ernst. Doch der Schlussfolgerung, welche dazu neigt, die Verbindung zwischen Wahrheitseifer und Toleranz aufzugeben, möchte ich widersprechen. Die Spannung soll nicht aufgelöst, sondern aufgearbeitet und womöglich bewältigt werden. Es handelt sich um kein grundsätzlich lähmendes, sondern um ein potentiell und aktuell kreatives Spannungsverhältnis.

Auch diesen positiven Aspekt lehrt uns unsere Geschichte. Die Spannung zwischen den beiden Polen unserer Problematik ist zutiefst im Fundament unserer Zivilisation verankert. Sie gehört zur Grundverfassung des Abendlandes. Die Physiognomie europäischer Kulturgeschichte wurde daher unverkennbar geprägt. Sie ist ohne den missionarischen und weltverändernden Einsatz für die Wahrheit, aber auch ohne das Ringen um mehr Toleranz und Kommunikation mit den Andersdenkenden kaum zu denken. Wir können und wir sollen aus dieser Geschichte nicht aussteigen. Unsere geistesgeschichtliche Identität steht mit auf dem Spiel. Sicher, es werden heute im Blick auf die historische und gegenwärtige Entfaltung dieser abendländischen Identität an uns, an unsere Institutionen und — für uns besonders aktuell — an unsere Wissenschaft aus anderen Kulturen, aber auch aus der Mitte unserer Kultur selbst, kritische Rückfragen gestellt. Mit Recht. Die oben erwähnten Gefahren — vor allem wohl die des aggressiven Wahrheitseifers anderen Mitmenschen und Kulturen gegenüber —dürfen nicht unterschätzt oder gar verklärt werden. Wir haben in dieser Hinsicht im «christlichen Abendland» bedrückende Defizite zu begleichen. Doch die Aufgabe bleibt. Es wäre falsch, ihr auszuweichen, ob in einer Flucht in Wahrheitseifer ohne Toleranz oder in Toleranz ohne Wahrheitseifer.

Vielleicht kristallisiert gerade auf diesem Spannungsfeld Für Kirche, Kultur und Gesellschaft eine der kritischsten geistigen Herausforderungen der Zeit. Antworten darauf sind von Belang sowohl für den inneren Zustand der Zivilisation wie auch für unser verantwortbares Verhältnis zu Mitmenschen anderer Bereiche. Jeder wache Zeitgenosse und ganz bestimmt jedes Mitglied einer universitas literarum ist hier angesprochen. Was folgt, ist ein Versuch, den beiden Grundpolen des Themas in zwei Gedankengängen vom Standpunkt eines evangelischen Theologen nachzugehen.

II.

Es wäre historisch falsch und menschlich unerträglich, sollte der Eindruck geweckt oder gar Anspruch erhoben werden, als ob der Wahrheitseifer ein Monopolgut des jüdisch-christlichen Erbes wäre. Die Betroffenheit durch die Wahrheit ist ein Kennzeichen der Humanität im umfassenden Sinne des Wortes. Sie zeichnet, wenigstens potentiell, alle Menschen aus. Und was die konkrete abendländische Geistesgeschichte betrifft, so wird sie unverkennbar durch zwei ausgeprägte Wahrheitsbegriffe5 bestimmt: neben dem hebräischen ener (der die Verlässlichkeit, Tragfähigkeit und Verbindlichkeit eines Wortes oder einer Person anspricht) gibt es den griechischen alétheia (welcher auf das Enthüllen und Erfassen des wirklichen Sachverhaltes mittels der kritischen Vernunft, auf erhellenden Einblick in die wesentliche Struktur des Seienden hinzielt). Neben den grossen Propheten Israels stehen die massgebenden Denker der Antike als unsere Wahrheitszeugen. Ihre

Koexistenz im Einklang und Widerspruch markiert die spezifische Gestalt europäischer Humanität. Von einem «Wahrheitsmonopol» dieser oder jener Prägung kann keine Rede sein.

Doch mit diesem Vorbehalt möchte ich andrerseits behaupten: Wo die Frage nach dem Wahrheitseifer aufgeworfen wird — etwa in unserem mit Hinweis auf Hus und Hussiten angesprochenen Sinne — also nach der unbedingten Hingabe an die erkannte Wahrheit; nach dem verbindlichen Einsatz in ihrem Dienst; nach der Bereitschaft zum grenzüberschreitenden, die Nahen und die Fernen anredenden Zeugnis: dort haben wir es im geistesgeschichtlichen Gewebe des Abendlandes wenn nicht ausschliesslich, so doch einmalig wirksam mit dem prophetischen und apostolischen Element der jüdisch-christlichen Überlieferung zu tun.

Das war doch die Botschaft und der Einsatz der Propheten Israels: der Eifer für die Ehre, fr den Namen, für die Wahrheit Jahwes, so wie es am Geschick eines Moses, am Kampf eines Elias oder an der Passion eines Jeremias erfahren werden kann. Überall in der Vielfalt von Gestalten und Geschicken vollzieht sich das Eine Gemeinsame: der Eifer für die Ehre Jahwes, für die Unvergleichlichkeit seines Namens, für die Verbindlichkeit seiner Wahrheit. Die Spitzensätze in den Glaubenstexten Israels bringen dies unüberhörbar zum Ausdruck, so etwa das sema Israel oder das erste Gebot des Dekalogs: «Höre Israel: der Herr, unser Gott, ist ein Herr. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft» (Dtn 6,4f). «Du sollst keine andern Götter neben mir haben» (Ex 20,3). Hier, in solcher ausschliesslichen und umfassenden Hingabe an den einen, mit dem Namen benannten, unverwechselbaren Gott, Jahwe, wird der Wahrheitseifer der Propheten begründet.

Vom prophetischen Feuer nährt sich auch der Wahrheitseifer der neutestamentlichen Apostel. Das feu sacré von Ostern und Pfingsten setzt sie in einer eschatologisch beschleunigten Bewegung

«in die ganze Welt hinaus». Besonders klar wird dies an dem wohl eifrigsten Apostel spürbar, an PAULUS. Er ist kein undifferenzierter Eiferer: er weiss nur zu gut —nämlich aus seiner autobiographischen Erfahrung als ehemaliger Verfolger — von einem falschen Eifer (Phil 3, 6). Kein Zufall, dass der «Eifer» im Sinne einer ungeklärten Leidenschaft in apostolischen Lasterkatalogen auftaucht (Gal 5,20). Es gibt offenbar einen «Eifer ohne Vernunft» (Röm 10,2) — und vor dem warnt PAULUS. Wir wollen seine Warnung nicht vergessen: die Hitze des Eifers, die «Temperatur des Temperaments» entscheidet über seine Wahrheit noch nicht. Nur im Elemente der Wahrheit gedeiht der legitime, dann allerdings zu entfaltende und zu bewahrende Eifer.

Wie dies zu verstehen sei, möchte ich an einem zentralen, aber auch missverständlichen Spitzensatz des neutestamentlichen Wahrheitseifers eingehender zu klären versuchen: «Es ist in keinem andern das Heil» (Apg 4, 12). 6 Der Kurzsatz ist Zitat aus einer der ersten (literarisch stilisierten) christlichen Predigten. PETRUS begründet damit, warum die Apostel — trotz Verbot und Verfolgungsrisiko — nicht aufhören können, den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus zu bekennen. Das Zitat ist kein Zufallswort: Es gibt einen durchgehenden Akzent der neutestamentlichen Botschaft wieder. Das Neue Testament ist ein vielschichtiges, vielstimmiges Zeugnis. Seine verschiedenen Stimmen sind nicht immer leicht zu harmonisieren. Doch diese Polyphonie hat einen gemeinsamen cantus firmus: das Zeugnis von dem einmaligen und einschneidenden Sinn des Geschicks und der Geschichte des Mannes aus Nazareth. «Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus gekommen» (Joh 1, 17) drückt diese Überzeugung JOHANNES aus. «Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, Jesus Christus» (1 Kor

3,11) formuliert PAULUS. Und PETRUS —in Fortsetzung unseres Kurzsatzes —bekräftigt: «Es ist auch kein andrer Name unter dem Himmel für die Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen» (Apg 4, 12).

Eine grosse Übereinstimmung — und ein ungeheurer Wahrheitsanspruch. Nicht erst für unsere pluralistisch eingestimmten Ohren, bereits für die Zuhörer der Apostel war dies eine Zumutung. Mit dem Urchristentum tauchte im religionsgeschichtlichen Rahmen des Hellenismus eine Bewegung auf, welche eine ganz andere Strategie einschlug als die des vorherrschenden religiösen Synkretismus. Auf die Areopage ihrer nahen und fernen Umwelt traten die urchristlichen Missionare zwar durchaus in der Bereitschaft, «den Juden Juden und den Griechen Griechen zu sein» (1 Kor 9,20f), also auf die konkrete kulturelle und geistige Situation ihrer Mitmenschen verständnisvoll einzugehen; aber diese Bereitschaft beinhaltete in keinem Fall eine etwaige Relativierung des Namens und der Wahrheit Jesu Christi.

Damit wurden auf dem üppig bunten «Markt religiöser Möglichkeiten» die weitgehend eingespielten Marktgesetze des gegenseitigen Tausches von Heils- und Heilandsangeboten provokativ verletzt. In ihrem Wahrheitseifer insistierten die Christen auf klare, geschichtlich artikulierte Konturen der von ihnen bezeugten Wahrheit. Es ging ihnen um das Heil mit unvertauschbarem Gesicht, mit dem Antlitz Jesu von Nazareth. Solch ein Verhalten erschien zwar den meisten religiösen Zeitgenossen als unfeine Konkurrenz, ja als Zeichen religiöser Primitivität; und es kam bald auch in der Kirche unter dem Druck solcher «öffentlichen Meinung» zu Versuchen, diese «harte Linie» aufzuweichen, Kompromisse zu schliessen. Doch die apostolische Botschaft zeigte sich gegen synkretistische Versuchungen als ausgesprochen spröde: «Es ist in keinem andern das Heil; denn es ist auch kein andrer Name... durch den wir gerettet werden sollen.»

Die in unserem Zusammenhang entscheidende Frage lautet: Ist dieser starke Akzent im Sinne eines intoleranten Absolutheits-

und Ausschliesslichkeitsanspruchs zu verstehen? Wurden hier die Weichen gestellt, welche dann den historischen Zug des Christentums mit eiserner Konsequenz auf Geleise des Fanatismus und der Intoleranz leiten mussten? Manche Historiker und Philosophen neigen zu diesem Schluss, und sie geben uns zu denken. Doch einiges spricht gegen voreilige Schlussfolgerungen in dieser Richtung. Man muss schon unseren Kurzsatz in seinem biblischen Zusammenhang konkreter und präziser fassen, um dem spezifischen apostolischen Wahrheitseifer auf die Spur zu kommen. Ein anderer Geist spricht aus ihm als der Ungeist rechthaberischer Ausschliesslichkeit. Wenigstens drei Hinweise scheinen mir erwägenswert.

1. Es ist in keinem andern das Heil: Der Satz hat einen klaren Adressaten. Er bezieht sich auf kein anonymes oder gar beliebiges, sondern auf ein ganz bestimmtes, gleich mit dem Namen genanntes Subjekt: Jesus Christus. Hier wird also keine abstrakte Absolutheitsdoktrin aufgestellt, sondern der Glaube an Jesus, den Herrn bezeugt —und zwar, wohlgemerkt, an Jesus Christus allein, nicht etwa an die Christen und die Christenheit. Von einer «Absolutheit des Christentums» wird hier nicht geredet. An einem unter diesem Stichwort in moderner Religionsphilosophie und Theologie oft versuchten Erweis einer Überlegenheit des Christentums allen anderen Religionen gegenüber hat das Neue Testament primär kein Interesse: nicht sich selbst, den Reichtum eigener Ideen oder den Glanz eigener Tugenden predigen die Apostel, sondern, «exklusiv», «Christus den Gekreuzigten» (1 Kor 1,23). Dies ist ernst zu nehmen: Gerade vom Kreuze her werden alle menschlichen Ansprüche — auch und vor allem Ansprüche der Christen —gründlich durchkreuzt. Werden sie von Christen trotzdem aufgestellt - und wäre dies ad maiorem ecclesiae gloriam — so werden Schatten einer geistlichen Schizophrenie sichtbar: sie leben im Widerspruch zu ihrem wahren Glaubensgrund.

2. Es ist in keinem andern das Heil: Der Satz bezieht sich

nicht nur auf einen bestimmten Namen, sondern auch auf die mit diesem Namen verbundene Geschichte, die Geschichte Jesu von Nazareth. Er wird von dieser Geschichte her konkret gefüllt, bleibt in seinem Inhalt (und in seinem Anspruch) nicht leer und also beliebig dehnbar, sondern erhält seine verbindliche Kontur. Der Weg Jesu weist die Richtung und Linie, hat ein unverkennbares Gefälle: die Hingabe an Mitmenschen in ihrer mannigfaltigen Not. Eine profilierte, keine verschwommene Hingabe: in Parteinahme für die am Rande Gelassenen, Benachteiligten und Diskriminierten, «Mühseligen und Beladenen» (Mt 11, 28); doch darin gerade eine vorbehaltlose Hingabe —über alle Grenzen und Vorurteile hinweg. Diesen und keinen anderen Weg interpretieren die Evangelisten und Apostel als den «Auszug Gottes zu den Menschen», zu Nahen und zu Fernen, und sie folgen ihm nach in ihrer Mission, in einer einladenden und nicht ausladenden Bewegung, denn in Jesus Christus «ist nicht Jude und Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann und Frau» (Gal 3,28). Von dieser bestimmten, alle Grenzen überschreitenden Geschichte bezeugt die Urgemeinde «es ist in keinem andern das Heil». Das heisst aber: das eindeutige Bekenntnis zu Christus und zu seinem Weg baut keine Barrieren zwischen den Menschen, stellt sie vielmehr radikal in Frage. Der «exklusive» Ansatz des christlichen Glaubens initiiert eine «inklusive» Geschichte.

3. Es ist in keinem andern das Heil: Im Namen und in der Geschichte Jesu Christi geht es um das Heil, also nicht um neutrale Sachverhalte, nicht um ein «Ja und Nein» (und schon gar nicht um ein «Jein»), sondern um das Ja Gottes zu uns Menschen. Wie ist solches Heil zu bezeugen? Als ein Privileg der Christen? Im Sinne der Christusgeschichte wohl kaum. Wohl aber: als Ruf zum Glauben, als Einladung, in die Heils-Geschichte einzusteigen, die «gute Nachricht», die alle angeht, an die Mitmenschen weiterzugeben. Die gute Nachricht, keine zweideutige. Das griechische Neue Testament kennt nur das «Euangelion», kein «Dysangelion», kein Unheilswort. Ein Angebot der

Gnade, wobei beides betont werden muss: «Angebot», ein dringliches, sicher, aber kein Diktat; und «Gnade», keine billige, unverbindliche, bestimmt, aber kein Zwang. Es war ein sündhaftes Missverständnis, wenn in der späteren Bekehrungspraxis der mächtig gewordenen Kirche ausgerechnet aus dem weit einladenden Gleichnis Jesu vom «grossen Gastmahl» (Lk 14, 15-24), das sich —befreiend vorurteilslos und Konventionen überschreitend — gerade an die «Zaungäste» des Reiches Gottes wendet, nur das missverständlich übersetzte und interpretierte «compelle intrare» (nötige sie, hereinzukommen) herausgehört wurde —als Ermächtigung zum Bekehrungszwang! Von dem urchristlichen Bekenntnis «es ist in keinem andern das Heil» her kann solch eine, Strategie nicht gedeckt werden; sie steht vielmehr im Gegensatz dazu.

Was ergibt sich aus unseren drei Hinweisen Fürs Thema Wahrheitseifer und Toleranz? Zunächst: Widerspruch gegen die Vermutung, als ob das eindeutige Christusbekenntnis des Neuen Testaments mit «logischer Notwendigkeit» zu Verhaltensweisen der Intoleranz fuhren müsste. Beim Worte genommen, eben beim Christusnamen, weist dieses Bekenntnis in eine ganz andere Richtung: zur solidarischen Mitmenschlichkeit.

Nun empfiehlt es sich einem christlichen Theologen, seinen Widerspruch nicht allzu emphatisch und selbstsicher vorzutragen. Der Wind der Kirchengeschichte bläst uns ins Gesicht und pfeift: «Die Verhältnisse, die sind nicht so!» Das darf man nicht verdrängen. Dass ein eindeutiges Christusbekenntnis im Sinne einer falschen Exklusivität, also als Monopolanspruch und Arroganz, als Aggression und Inquisition, entwickelt werden konnte, lässt sich nicht leugnen und darf nicht geleugnet werden. Vestigia terrent: die Gefahr liegt in der Tür. Es gibt immer noch viel aufzuräumen im Hause der Kirche und Theologie bezüglich Toleranz. Doch zur Preisgabe des biblischen Wahrheitseifers werden wir durch aufzuarbeitende Erfahrungen nicht gezwungen. Das Kind —das Weihnachtskind —darf mit schmutzigem Bad

nicht ausgeschüttet werden. Die drei Hinweise zeigen: es gibt kein fatal geradliniges Gefälle vom Christusbekenntnis zur Intoleranz.

Die Frage wird nun fällig: Ist diese, zunächst eher abgrenzend formulierte Antwort alles, was vom Christusbekenntnis her zum Thema Wahrheitseifer und Toleranz zu sagen sei? Oder könnte man darüber hinaus an eine positive WeiterFührung denken, nämlich im Sinne einer gegenseitig fruchtbaren Annäherung der beiden Pole in unserem Spannungsfeld? Ich bin von solcher Möglichkeit überzeugt. Damit komme ich zum anderen Gedankengang meiner Überlegungen, in welchem nun das Thema Toleranz in den Vordergrund rückt.

III.

Die Toleranz erscheint in ihrer geistesgeschichtlichen Entwicklung und im zeitgenössischen Gebrauch als ein vielschichtiger Begriff und Sachverhalt. Darunter «kann man die ganze Stufenleiter verstehen von der Anerkennung nur der Gewissensfreiheit — unter der Bedingung, dass der Andersgläubige seine Überzeugung nicht öffentlich äussert —über das Zugeständnis privater Kultusausübung zum verbrieften Recht, öffentlich Gottesdienst zu halten, bis zur höchsten Stufe einer unbeschränkten Freigabe aller Kulte, die von dem ursprünglich allein herrschenden differieren7.» Die einzelnen Stufen hängen zusammen, gehen ineinander über, weil die Toleranzgeschichte ein dynamisches Geschehen ist, welches — wenn auch oft mit Rückschlägen — auf «höhere Stufe» drängt.

Vielschichtig wie der Sachverhalt ist auch die Motivation. Verschiedene Impulse wirkten sich in der abendländischen Toleranzgeschichte

aus. Die Erinnerung an das Toleranzpatent Josephs II. weist auf den beachtlichen Beitrag der Aufklärung hin: die Überzeugung, dass es nur eine allen Menschen gemeinsame vernünftige Humanität gibt, die es ermöglicht, ihre verschiedenen historischen Ausprägungen in Religionen und Kulturen nicht nur zu ertragen, sondern zu respektieren. Schon vorher haben die Humanisten der Reformationszeit auf Toleranz hin gearbeitet: wie könnte man in Basel das Werk eines ERASMUS oder CASTELLIO 8 vergessen, welchen sowohl die antike Überlieferung wie der Geist des Evangeliums in der gleichen Richtung wiesen, eben weg von jedem Fanatismus zur Toleranz. Und man darf nicht den ermutigenden Beitrag von eindeutig christlich. motivierten Denkern übersehen, welche —vorbildlich etwa JAN AMOS COMENIUS —trotz Widerständen im eigenen Haus wesentliche Impulse des biblischen Glaubens zugunsten der Toleranz wieder klarer herausstellten: den biblischen Nachdruck auf die Souveränität der Wahrheit und der Gnade Gottes, welche nie in verFügende Gewalt menschlichen Richtens gegeben sind, sondern nur in mitmenschlicher Solidarität der Liebe ihre Entsprechung finden, so wie dies im Worte und im Leben Jesu verkörpert wurde. Und vergessen wir nicht bei allen diesen Hinweisen: die Toleranzgeschichte hat nicht bloss ihre geistesgeschichtlichen Motive, sondern auch ihren handfesten politisch-ökonomischen Hintergrund, vor allem in der bitteren Erfahrung, die der französische Jurist und Literat ETIENNE PASQUIER 1570 in einem geistreichen Wortspiel zum Ausdruck brachte:

«Qui voudra Reünir avecq' Ruiner mettre

Il verra qu'il n'y a transport que d'une lettre»: eine intolerante, totalitäre Religionspolitik führt in ökonomischen Ruin.9

Ich möchte nicht die verschiedenen Toleranzmotive gegeneinander ausspielen. Sie haben alle auf ihre Art dazu beigetragen, Versuchungen von Fanatismus und Unduldsamkeit in mitmenschlichen Beziehungen einzudämmen —übrigens gilt dies selbst von den eingangs gestreiften begleitenden Stimmungen der Resignation oder gar des Überdrusses an der unbeantwortbaren Wahrheitsfrage, von skeptisch-relativistischen Verhaltensweisen der Gleichgültigkeit. Doch drängt diese schillernde Vielfalt der Motive zur Abgrenzung. In theologischer Perspektive ist jedenfalls zu präzisieren: Toleranz kann christlich nie mit Indifferenz gleichgesetzt werden. Nicht nur vom Wahrheitseifer und Christusbekenntnis her, die auf Entscheidung in der Wahrheitsfrage drängen; auch im Blick auf die Toleranz als sinnvolles Verhalten: das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe schliesst Beziehungen der Gleichgültigkeit aus. Die Liebe wirbt um den Mitmenschen, stellt sich ihm, ergreift für ihn Partei, und das heisst: sie ringt mit ihm um Wahrheit.

Toleranz im christlichen Verständnis ist also keine unbeteiligte «Laissez-faire-Duldung». Sie ist keine «indifferentia», vielmehr geschieht sie «in djfferentia», im Ertragen und im Aufeinanderbeziehen der Unterschiede. «Toleranz ist im weitesten Sinne das Ertragen des anderen Menschen in seiner Andersheit.»'° Es geht in einer so verstandenen toleranten Haltung nicht darum, Spannungen relativistisch zu verharmlosen und zu vertuschen, die Wahrheitsfrage zu bagatellisieren. «Die Toleranz ist

das eigentliche Kampffeld, auf welchem der Kampf für die Wahrheit gewagt werden muss.»11

Aber: Ist ein so gespannter Toleranzbegriff wirklich durchzuhalten? Werden hier die Geister, die man los sein wollte, eben die Ungeister der Unduldsamkeit, nicht wieder wach? Die Gefahr ist nicht zu leugnen. Weitere Klärung tut not. Eine biblisch-theologische Reminiszenz könnte ein Stück weit helfen.

Bei RUDOLF BULTMANN fand ich eine differenzierende Überlegung zu unserem Thema, und zwar in seinem Johanneskommentar, wo er eine der anspruchsvollsten Stellen des neutestamentlichen Christus- und Wahrheitsverständnisses, das grosse johanneische «Ich bin», zu deuten versucht. BULTMANN schreibt: «Das ego eimi Jesu besagt stets: es gibt nur einen Führer zum Heil, nur einen Offenbarer. Es gibt für die Frage nach Heil nicht verschiedene Möglichkeiten, sondern nur die eine. Entscheidung ist gefordert. Darin liegt die Intoleranz der Offenbarung... Freilich ist es die Offenbarung, die intolerant ist, Menschen können gegeneinander nur tolerant sein; und sofern Menschen den intoleranten Anspruch der Offenbarung zu vertreten haben, richtet sich dieser in erster Linie gegen sie selbst. Die Intoleranz des 'homo religiosus' und des Dogmatikers ist nicht die Intoleranz der Offenbarung.»12

Die Sätze BULTMANNS sind in ihrer zu allgemeinen Formulierung zum Teil missverständlich. Man muss sie, was der Intention des Autors durchaus entsprechen würde, konkreter fassen: es

geht um keine allgemeine Offenbarungsideologie, sondern um das Christuszeugnis. In diesem Sinne finde ich dann die zentrale Unterscheidung BULTMANNS wichtig: Die Toleranz gegenüber den Mitmenschen schliesst verbindliche Glaubens- und Bekenntnisentscheidung (und in diesem Sinne die «Intoleranz» in der Wahrheitsfrage, besser gesagt: den Wahrheitseifer) nicht aus — und umgekehrt. Beides ist zu unterscheiden. Wo nicht differenziert wird, wo entweder die Toleranz den Mitmenschen gegenüber zur Verwässerung der Wahrheitsfrage führt oder wo der Eifer der Wahrheitsverpflichtung in eine Intoleranz dem Nächsten gegenüber «verlängert» wird, dort wird das biblische Wahrheits- und Toleranzverständnis verzeichnet. Nur in der Spannung der unbedingten Verpflichtung gegenüber der erkannten und bekannten Wahrheit und zugleich der verständnisvollen und solidarischen Offenheit für Andersdenkende — die doch jeder «dem eigenen Herrn», nicht uns, «stehen und fallen» (Röm 14,4) —kann man dem Christuszeugnis entsprechen.

Ein biblisch orientiertes Ringen um verantwortbare Verhältnisbestimmung von Wahrheitseifer und Toleranz ist demnach immer ein «Zwei-Fronten-Kampf»: gegen Versuchungen, dem Wahrheitszeugnis mit Zwangs- und Herrschaftsmitteln nachzuhelfen (und wäre es aus bestgemeinten Beweggründen und im Dienst der wohltätigsten Ziele); und gegen Versuchungen, Toleranz als Dispens vom persönlichen und gemeinsamen Einsatz in der Wahrheitsfrage, für Christen: im Christuszeugnis, zu verstehen und auszuüben. Positiv gesagt: die beiden gehören zusammen, Wahrheitseifer und Toleranz; sie dürfen und sie sollen aufeinander bezogen werden. Die Spannung in unserem Thema ist durchzuhalten, ja sie ist zu bewahren und zu bewähren — und zwar um die beiden Werte vor Missverständnis und Missbrauch zu schützen. Denn (um in Anspielung an eine Formulierung von IMMANUEL KANT thetisch zusammenzufassen): Wahrheitseifer ohne Toleranz ist blind — Toleranz ohne Wahrheitseifer wird leer

Blinder Eifer und geistige Leere —das sind die beiden Krankheiten, wenn nicht zum Tode, so doch ernste krisenhafte Erscheinungen, die menschliches Leben —persönlich und sozial —auch und gerade in den Bedingungen des Wohlstands bedrohen. Wohl in jeder persönlichen und gesellschaftlichen Situation sind die beiden Gefahren latent gegenwärtig. Doch es kann im jeweils aktuellen Kontext unterschiedliche Stellenwerte und Gewichtungen der einen oder der anderen Versuchung geben. Täusche ich mich, wenn ich im Blick auf die uns umgebende Atmosphäre und Verhältnisse in einer westlich-pluralistischen Gesellschaft, konkret: in unserer Schweizer Kirche und Kultur, besonders auch die zweite Front als aktuell empfinde?

Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich unterschätze die erste Gefahr, die der persönlichen und organisierten Unduldsamkeit, keineswegs. Wie könnte ich, mit den Erfahrungen eines Menschen, der jahrzehntelang in den Bedingungen einer gefährdeten politischen und Religionsfreiheit zu leben hatte, in ständiger Auseinandersetzung mit einer Ideologie und Machtpolitik, die ihre «Wahrheit» mit allen Mitteln des Drucks und der Ausschaltung anderer Optionen durchzusetzen versuchte? So kann ich auch im Westen Tendenzen zur Intoleranz nicht aus den Augen verlieren, selbst wenn sie sich hier eher in Ansätzen und unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen — in der letzten Zeit auch im Verzicht auf ideologische Artikulierung — recht diffus zeigen. Dass solche Tendenzen, Abbruch des Dialogs und Verweigerung der Verständigungsbereitschaft, Unheil stiften können, das zeigen nicht erst spektakuläre Konfrontationen auf unseren Strassen.

Doch ist nicht die schleichende Inflation der Gleichgültigkeit im religiösen, ethischen und politischen Sinne unter uns eine womöglich noch grössere Versuchung? Ein Pluralismus, der sich nicht nur als Anerkennung legitimer Pluralität der Meinungen in einer offenen Gesellschaft versteht, sondern als «Weltanschauung» des Verzichtes auf Stellungnahme und Einsatz. Eine Permissivität,

die nicht nur für grösseres Verständnis für nonkonforme Verhaltensweisen und Mitmenschen plädiert, was durchaus berechtigt sein kann, sondern jede Norm und Verbindlichkeit in Frage stellt, und alle Blumen der Sittengeschichte und -gegenwart blühen lässt, auch (und manchmal mit besonderem Gusto) die Sumpfblüten. Eine Freiheit, die vorwiegend am Negativen, am Abbau der Bindungen und Grenzen interessiert ist, die positive Füllung in der Bindung an die Mitmenschen, im Einsatz für die Rechte der Anderen vernachlässigt, und im Leeren, Boden- und Uferlosen zu versinken droht... Wären dies nicht Auszehrungserscheinungen im Leben unserer Gesellschaft und Kirche, welche dann sinnsuchende Menschen, besonders in der jungen Generation, zum leidenschaftlichen Protest und zu krampfhaften politischen oder religiösen Sinngebungen reizen?

Ich formuliere im Konjunktiv, fragend, nicht im kategorischen Indikativ, als festgestellte Thesen. Auf keinen Fall sind meine Hinweise im Sinne eines Pauschalurteils zu verstehen, sondern eher eines Erfahrungsberichtes; vielleicht auch als Andeutung, warum auf manche, die vom Osten in den Westen kommen, der Übergang nicht nur befreiend (dies allerdings vor allem, trotz allem), sondern zum Teil auch beklemmend wirkt — besonders wohl auf diejenigen, welchen es um «Freiheit eines Christenmenschen» geht.

In diesem Zusammenhang sehe ich die besondere Aufgabe für Theologie und Kirche. KARL BARTH formulierte in einem der letzten Bände seiner «Kirchlichen Dogmatik» (also nicht in seiner «zornigen Sturm-und-Drang-Periode», sondern in seinem versöhnlichen Alter): «Mit der Horizontlosigkeit, Kontur- und Gestaltlosigkeit eines nach allen Seiten geöffneten, allen Winden preigegebenen und so der Auflösung und Zerstreuung verfallenen Daseins, mit dem Stolz und mit der Kläglichkeit eines uferlosen Meinens, Denkens und Strebens ist es für den Christen vorbei.»13

Tatsächlich: ist die Freiheit im christlichen Verständnis die in der Christusgeschichte erschlossene Freiheit, dann hat sie die charakteristischen Merkmale dieser Geschichte zu widerspiegeln. Dazu gehört —weil es sich im Blick auf Jesus nur um eine in der gewaltlosen Liebe begründete Freiheit handelt —gewaltlose, geduldige Toleranz und Gesprächsbereitschaft selbst «ärgerlichen» Zeitgenossen gegenüber; doch dazu gehört zugleich der Wahrheitseifer im Streben, die profilierten Impulse der <<guten Nachricht» in Verhaltensweisen und Verhältnisse unserer Zeit einzutragen. Es gibt —meiner Ansicht nach —nicht viel Überflüssigeres und Langweiligeres als Theologie und Theologen, Predigten und Prediger, welche für die anvertraute Wahrheit nicht mehr, einzutreten wagen, sie —angepasst an die Stimmungen der Zeit — «unter den Scheffel», ins relativistische Zwielicht stellen. Jesus hatte für solches Verhalten ein passendes Wort, als er vom «dummen Salz» (Mt 5, 13; Luther) sprach. Unsere Kirche und unsere Gesellschaft brauchen jedoch für ihre Gärungsprozesse das Salz der Wahrheit, konkret: das Salz Jesu. Es sollte —unserer Lauheit und Faulheit wegen —seine Schärfe nicht verlieren.

IV.

Ich möchte meine Ausführungen mit einer persönlichen Bemerkung schliessen. Im akademischen Jahr 1947-48 habe ich als Auslandsstudent in Basel studiert. Es war ein unvergessliches Jahr in einer der Sternstunden der Basler Universität, der Anfang ihrer «Karolingischen Zeit» : der Weg KARL BARTHS kreuzte sich mit dem Weg von KARL JASPERS, der gerade anfing, in Basel zu dozieren. Ich nahm an den Lehrveranstaltungen der beiden teil, intensiv, fasziniert. Doch daraus ergab sich für mich bald eine Spannung, deren Brennpunkte ziemlich genau mit unserem Thema markiert werden könnten. Sicher, beide waren Denker von «Wahrheitseifer und Toleranz» —doch jeder in seiner Art,

mit unterschiedlichen Akzenten. Bei KARL BARTH erschloss sich uns die Denkbewegung einer imponierend und umfassend durchgeführten «christologischen Konzentration», die betont, dass «die christliche Lehre ausschliesslich und folgerichtig in allen ihren Aussagen direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als von dem uns gesagten lebendigen Wort Gottes sein muss, um ihren Namen zu verdienen und um die christliche Kirche in der Welt zu erbauen».14

Bei KARL JASPERS wurden wir in eine anders strukturierte geistige Welt eingeführt. Auch hier wurde man zwar in eine Denkbewegung des Glaubens aufgenommen, eines philosophischen. Dieser Glaube zeigte viel Verständnis für wesentliche Motive der biblischen Überlieferung. Ohne Bibel, so hörten wir bei JASPERS, gleiten wir im Abendlande ins Nichts, werden menschlich und philosophisch entwurzelt. Doch an einem Punkt hörte die Aufgeschlossenheit gegenüber dem biblischen Denken beim Philosophen auf: dort, wo es mit dem Heils- und Offenbarungsanspruch auftritt. JASPERS fand immer wieder starke Worte, um hier zu widersprechen: «Dieser Anspruch ist in seinem Motiv wie in seinen Folgen das Unheil für uns Menschen. Wir müssen um die Wahrheit und um unsere Seele ringen gegen diesen tödlichen Anspruch.»15

Meine Jahre danach, inmitten einer marxistisch-leninistischen Gesellschaft, boten manche Gelegenheit, über die beiden Positionen nachzudenken und deren Tragfähigkeit in kritischen Situationen nachzuprüfen. Ich würde mich hüten, Pauschalurteile über die eine oder die andere zu füllen. Dass sich für mich persönlich und für viele meiner Mitchristen die BARTHSCHE Theologie mit ihrer Hinwendung zur befreienden Mitte des Evangeliums als wegweisend und hilfreich erwies, möchte ich

nicht verschweigen: darauf konnte man selbst auf Trümmern einer Epoche, in einer offiziell atheistischen Umwelt, christliche Gemeinde weiterhin erbauen.

Die JAsPERsschen Gedanken wirkten im Vergleich damit in ihrer beeindruckenden Liberalität eher wie ein Traum —fast zu schön, um hinter den stalinistisch verschlossenen Vorhängen wahr zu sein. Doch vergessen konnte ich die warnende Stimme des Philosophen nie, um so weniger, als wir alltäglich mit dem Druck einer verabsolutierten Ideologie konfrontiert wurden, zu schmerzlich, um je die Gefahren jeden «Absolutheitsanspruches» zu unterschätzen. So blieb die JASPERssche Analyse des Ausschliesslichkeitssyndroms höchst aktuell — und zwar auch und vor allem als herausfordernde Anfrage an uns Theologen: Wie halten wir es in unserem Wahrheitseifer mit der Toleranz? Theologischer Wahrheitseifer, der nicht bereit wäre, diese Fragen selbstkritisch zu hören und aufzuarbeiten, würde nur allzuleicht zum blinden «Eifer ohne Vernunft». Nicht nur die Scylla der Unverbindlichkeit in der Wahrheitsfrage, sondern auch die Charybdis der Intoleranz ist zu meiden. Auf dem schmalen Kurs zwischen den beiden Klippen ist das Schluein der Theologie und Kirche zu steuern.

Die Lektion, die wir an unserer Universität von den beiden massgebenden Lehrern und von manchen anderen, die hier im verwandten Geist wirkten —ich denke etwa an OSCAR CULLMANN —lernten, bleibt bis heute und in die Zukunft hinein gültig. Wir sind in Basel eine traditionsreiche Universität, eine noch mittelalterliche Stiftung. Die universitates literarum verstanden sich von Hause aus als Institutionen des Dienstes an der Wahrheit in der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Die Wappenworte der alten Universitäten bringen dieses Selbstverständnis recht eindrücklich zum Ausdruck — am kürzesten wohl unsere jüngere, doch ehrwürdige Schwester, die Harvard-Universität, in einem einzigen Wort: VERITAS.

Und unser Wappenwort? Seit Jahren betrachte ich immer

wieder das Siegel der Basler alma mater. Vier lateinische Worte: pie juste sobrie sapienter. Sie erscheinen zunächst als Arbeitsteilung und Rollenanweisung für die vier Fakultäten. Warum auch nicht? Es ist nur gut, wenn die Theologen auf ihre Frömmigkeit, die Juristen auf ihre Gerechtigkeit, die Mediziner auf ihre Nüchternheit und die Philosophen auf ihre Weisheit hin angesprochen werden. Doch das Wappenwort hat für mich noch einen anderen, nicht weniger wegweisenden Sinn: die vier Bestimmungen sind auf dem einen gemeinsamen Siegel vereinigt, sprechen uns alle als Glieder der einen Gemeinschaft an. Die vier Fakultäten, jede mit ihren spezifischen Aufgaben, leben doch unter dem gemeinsamen Siegel, verbunden durch die uns alle bewegende Freude und Verpflichtung der Wahrheit. Diese Verbundenheit zu bewahren und zu bewähren ist an dieser Universität noch eine offene Möglichkeit —trotz steigender Zahlen und wachsender Differenziertheit unserer Arbeit. Wir sollen sie ergreifen —in unserem eigenen Interesse und in dem unseres, uns alle tragenden Gemeinwesens. Das Programm des Ursprungs bleibt jedenfalls gültig: pie, juste, sobrie, sapienter — in Wahrheitseifer und Toleranz.