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Das älteste romanische Liebesgedicht

Vor tausend Jahren trug ein unbekannter Schreiber in eine Handschrift der Benediktinerabtei Fleury-sur-Loire in der Nähe von Orléans ein eigenartiges Gedicht ein. Die Handschrift war im 8. oder spätestens zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Fleury selbst entstanden und enthielt drei Werke des spätlateinischen Dichters Fulgentius (um 500 n. Chr.) sowie drei Listen von sogenannten Notae juris. Am Ende dieses Rechtstextes war eine halbe Seite frei geblieben. Auf sie wurde, wohl gegen Ende des 10. Jahrhunderts, das uns interessierende Gedicht geschrieben, begleitet von Neumen, das heisst einer mittelalterlichen Notenschrift, welche die zum Gedicht gehörige Melodie andeutet. Der Text lautet:

Phebi claro nondum orto iubare,
fert aurora lumen terris tenue.
Spiculator pigris clamat: surgitel
L'alba par, urne mar, atra sol.
Poy pas, a bigil, mira dar tenebras.
En incautos ostium insidie
torpentesque gliscunt intercipere,
quos suadet preco clamans surgere.
L'alba part, urne mar, atra sol.
Poy pas, a bigil, mira dar tenebras.
Ab arcturo disgregatur aquilo,
poli suos condunt astra radios,
orienti tenditur septemtrio.
L'alba part, urne mar, atra sol.
Poy pas, a bigil.

Das Gedicht besteht aus drei lateinischen Strophen, die je vom gleichen Refrain gefolgt sind, wobei nach der dritten Strophe der Text mitten im Refrain (nach dem Wort bigil) abbricht. Die Sprache des Refrains ist umstritten. Man hat darin schon Ladinisch sehen wollen, jene mit unserem Bündnerromanisch eng verwandte, vor tausend Jahren sicher in grösserem Umfang als heute am nordöstlichen Rand von Oberitalien lebendige Sprachform. Andere Forscher haben den Text als verballhorntes Latein gedeutet. Die meisten sind jedoch der Ansicht, es handle sich um Altprovenzalisch, die alte Sprache Südfrankreichs. Dies steht für mich fest, und ich glaube auch, dass sich der überlieferte Text ohne korrigierende Eingriffe einleuchtend erklären lässt. Das versuche ich in einer Studie zu zeigen, die im kommenden Sommer als Beitrag zu einer Festschrift für Mario Wandruszka erscheinen wird. Diese Deutung, die hier nicht näher erläutert werden soll, liegt auch der vorgelegten Übersetzung des Refrains zugrunde. Für die lateinischen Strophen übernehme ich die Übertragung von Philipp August Becker (p. 161).

Vor dem Aufgang des hellen Gestirns des Phoebus
strömt die Morgenröte ein schwaches Licht über die Erde.
Der Wächter ruft den Trägen zu: Stehet auf!
Die Morgenröte erscheint. Oh Mutter! Er (d. h. der
Freund) nähert sich allein.
Da ich zu ihm hingehe, ach Wächter, betrachte die
Helligkeit als Dunkelheit! (d.h. stell dich blind und
suche nicht zu sehen, was du im Licht der Morgendämmerung
sehen könntest: meine Begegnung mit dem Freund)
Siehe, die Nachstellungen der Feinde brennen darauf,
die Unachtsamen und in Trägheit Erstarrten abzufangen;
sie ermahnt der Warner mit lautem Ruf, aufzustehen.
Die Morgenröte erscheint...
Vom Arcturus trennt sich der Polarstern,
die Sterne am Himmel verbergen ihre Strahlen,
das Siebengestirn strebt dem Osten zu.
Die Morgenröte erscheint...

Aus den Neumen zu schliessen, besteht musikalisch ein scharfer Gegensatz zwischen Gedichtkörper und Refrain. Die langen lateinischen Verse werden alle zur selben Weise gesungen, die so in jeder Strophe dreimal wiederholt wird. Der ganze Refrain hingegen weist eine einzige durchgehende Melodie auf. Er klingt lebhaft und erregt, während die Strophen, selbst wenn sie Gefahr ausmalen, gleichmütig und gemessen sind.

Seit das Gedicht vor genau hundert Jahren entdeckt worden ist, haben sich viele Forscher nicht nur um das Verständnis des Refrains bemüht und dabei weit

über ein Dutzend verschiedene Deutungsvorschläge gemacht; auch das Wesen des ganzen Gedichts hat Anlass zu grossen Meinungsverschiedenheiten gegeben. Wie wenig man sich einig geworden ist, zeigt das folgende Zitat aus dem 1979 erschienenen Faszikel des neuen Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. In bezug auf unser Gedicht fragt sich Dietmar Rieger: «... handelt es sich um eine ursprünglich rein volkssprachige weltliche Alba, die bereits von heimlich Liebenden handelt, welche sich vor dem <Hinterhalt der Feinde> hüten sollen und vom Wächter zum Aufstehen ermahnt werden (J. Schmidt), um den halb ins Lateinische übertragenen provenzalischen Morgenruf eines Wächters ohne Bezug zur Tageliedsituation (E. Stengel), um einen lateinischen geistlichen Morgenhymnus mit volkstümlichem, ursprünglich volkssprachigem Refrain (L. Laistner) oder um ein geistliches Morgenlied, dessen Refrain der verballhornte Rest eines lateinischen Turmwächterlieds darstellt (Ph. A. Becker)?» (p. 45).

Drei dieser vier Möglichkeiten sind auszuschliessen. Wenn meine Deutung des Refrains angenommen wird, ist dieser weder «der halb ins Lateinische übertragene provenzalische Morgenruf eines Wächters» noch «der verballhornte Rest eines lateinischen Turmwächterlieds». Das ganze Gedicht kann auch nicht eine ursprünglich rein volkssprachliche weltliche Alba sein. Wer dies annimmt, projiziert eine spätere altprovenzalische Dichtungsform in unser Gedicht hinein. In der altprovenzalischen Literatur gibt es die sogenannte Alba, die ihren Namen von der Bezeichnung der Morgenröte nimmt. Die Morgenröte, als Zeichen des Tagesanbruchs, spielt nämlich in der im Gedicht geschilderten Grundsituation eine zentrale Rolle: zwei Liebende — die Dame ist verheiratet — müssen sich nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht bei Anbruch des Tages, der ihnen durch einen Wächter angekündigt wird, aus Furcht vor dem Entdecktwerden ihrer heimlichen Liebesbeziehungen — nicht zuletzt durch den eifersüchtigen Ehemann der Geliebten — trennen. Die Grundkonstanten dieser Dichtungsgattung sind in unserem Gedicht nicht vorhanden. «Die Feinde, die aus ihrem Hinterhalt hervorstürzen, sind sicher nicht eine Schar eifersüchtiger Ehemänner; die Vorstellung, dass sie um eine Art maison close herumspionieren, die voll träger und unbedachter Liebhaber ist, würde — wie Peter Dronke zu Recht sagt — das Lied zu einer Farce herabwürdigen» (p. 185).

Die vierte Auffassung, wonach es sich um einen geistlichen Morgenhymnus mit volkstümlichem Refrain handelt, weist den richtigen Weg. Wir müssen zuerst einmal nur die lateinischen Strophen betrachten. Sie stehen wirklich in der bekannten Tradition des christlichen Morgenhymnus, einer Tradition, die an Ostern des Jahres 386 in Mailand ihren Anfang nahm. Um die Übernahme der Basilica Portiana durch den arianischen Gegenbischof zu verhindern, durchwachte der Bischof Ambrosius mit der katholischen Gemeinde die Nacht in der Kirche. Bei dieser Gelegenheit führte er den bis dahin unbekannten Hymnengesang ein, den er im Wechselgesang vortragen liess. Zu den ersten Hymnen, die er zu diesem Zweck dichtete, gehören jene Morgenlieder, die den Keim der ganzen späteren Entwicklung in sich tragen.

Diese Entwicklung ist durch folgende Konstanten gekennzeichnet: Das anbrechende Licht des Tages wird als Abglanz der Herrlichkeit Gottes begrüsst, wobei Christus als Lichtspender gesehen wird. In dieser symbolischen Deutung der Naturvorgänge wird die Nacht zum Sinnbild der Sünde, der Schlaf zum Sinnbild des Todes, die Träume zu Einflüsterungen und Versuchungen des Bösen. Die Flucht der Dämonen bei Tagesgrauen ist Hinweis auf die Ankunft des Herrn. Der Tag wird angekündigt durch den Ruf des Hahnes, der die geistige Schläfrigkeit verscheuchen soll und an den kommenden Weltenrichter erinnert.

In der von Ambrosius geschaffenen Tradition steht als nächster Dichter Prudentius, der am Übergang vom 4. zum 5.Jahrhundert christliches und antikes Gedankengut zu einer vollendeten Einheit verschmolzen hat. Ein Hymnus dieses Dichters beginnt so:

Der geflügelte Ankünder des Tages zeigt das Nahen der Helligkeit an; uns ruft Christus, der Wecker der Seelen, zum Leben. Fort, ruft er, mit den Betten, die für Kranke, Schläfrige und Müssiggänger gut sind, haltet euch wach in Keuschheit, Rechtlichkeit und Enthaltsamkeit; denn mein Kommen ist nahe... Dieser Ruf... ermahnt die, die in schaurige Finsternis gehüllt sind und träg unter den Decken stecken, sich aufzuraffen, da es schon Tag werden will, damit die Morgenröte, wenn sie den Himmel mit ihren flammenden Ausstrahlungen überzieht, allen mit Mühe und Arbeit geplagten Menschen in der Erwartung des Tages neuen Mut einflössen kann (p. 1 52).

Neben klassischer Bildung fliessen in späterer, karolingischer, Zeit vor allem auch astronomische und naturkundliche Kenntnisse in die Tradition ein. So heisst ein anonymer Hymnus aus dieser Epoche:

Gott, der Du das Licht des Himmels bist und der Erschaffer des Lichts, der Du, vom Arm des Vaters gestützt, mit erleuchteter Hand den Himmel ausbreitest; schon verdeckt die Morgenröte die Sterne und zieht die rot bestrahlte Meerestiefe empor, mittels feuchter Winde die Erde mit Taugüssen beträufelnd. Schon verlangt der Morgenstern die Wagen mit den feurigen Speichen und Radkränzen, denn der Aufstieg zum Scheitel des Himmels duldet keinen Aufschub. Schon wird der Schatten der Nacht verscheucht, die Dunkelheit weicht vom Himmel und der Morgenstern, das Sinnbild Christi, weckt den schlummernden Tag auf. Du Heiliger, bist der Tag der Tage, bist selbst die Klarheit des Lichts, der Du über alles Macht hast, einträchtig allmächtige Dreieinigkeit (p. 156).

Es springt in die Augen, dass die drei lateinischen Strophen unseres Gedichts ganz in dieser Tradition des Morgenhymnus stehen. Noch einige besondere Hinweise zum Text:

Iubar Phoebi (Glanz des Phoebus) als Umschreibung für die Sonne verrät den Humanisten. Speculator (Späher, Wächter) wird in der Vulgata schon der Prophet

Ezechiel genannt, der das Haus Israel warnen soll, und der älteste unter den christlichen Schriftstellern römischer Zunge, Minucius Felix (um 200 n. Chr.), verwendet das Wort zur Bezeichnung für Gott, der alles sieht und vor dem nichts verborgen bleiben kann. Schliesslich sagt der bereits genannte Prudentius in einem Morgenhymnus:

Ein Wächter (speculator) steht über uns, der uns und unsere Taten Tag für Tag beaufsichtigt, vom frühen Morgen bis zum Abend. Er ist Zeuge und ist auch Richter, er sieht alles, was der Menschen Sinn ausdenkt; niemand kann ihn als Richter täuschen (p. 162).

Der praeco (Herold) in der zweiten Strophe nimmt den gleichen Gedanken auf, anknüpfend an die Tradition des Hahns, der mit seinem Schrei das Licht des Tages ankündigt und deshalb schon bei Prudentius als praeco lucis (Herold des Lichts) bezeichnet wird. In unserem Gedicht meint das Wort nicht mehr den krähenden Vogel, sondern den himmlischen Warner, dessen Sinnbild der Hahn war.

Dass die Schläfrigen und Schlafenden den Versuchungen des Satans, der Beeinflussung durch böse Geister ausgesetzt sind, wissen wir, und das Wirken dieser daemones wird in der Tradition häufig mit militärischen Metaphern beschrieben, wobei nicht nur — in zahlreichen Fällen —der Ausdruck hostes (Feinde) vorkommt, sondern auch einmal, in einem Hymnus aus dem Kloster Murbach, das Wort insidiantes (die hinterhältig Auflauernden) verwendet wird, das direkt mit unseren insidiae zusammenklingt. Durch das Aufstehen entgeht man diesen Feinden; deshalb die zweimalige Aufforderung aufzustehen (surgere).

In der dritten Strophe tritt vor allem naturkundlich-astronomisches Wissen in Erscheinung. Dazu führt Philipp August Becker aus: «Arcturus, der bunt flackernde Hauptstern des Bootes, liegt auf dem gleichen Meridian wie der Frühlingspunkt, aber auf der entgegengesetzten Seite des Himmels; der Polarstern (hier Aquilo) steht zwischen beiden. Wenn nun die Sonne bei der Frühlings-Tag- und -Nachtgleiche im Osten aufgeht, dann ist Arcturus im Westen im Verschwinden begriffen, während der Polarstern, in dem sich alle Meridiane schneiden, unbewegt an seiner Stelle verharrt. Auf halber Höhe zwischen Arcturus und Polaris, aber ihrer Verbindungslinie östlich voraus, schreitet der Wagen oder der grosse Bär, der zu den zirkumpolaren Sternbildern gehört. Er sinkt für uns nie unter den Horizont. Am Morgen des ersten Frühlingstages erlebt man also das Schauspiel, dass der Arcturus untergeht, das heisst vom sichtbaren Himmel verschwindet, während der Polarstern bleibt (Ab arcturo disgregatur aquilo); und dass der Wagen tief unten am Himmel seinen Weg nach Osten nimmt, ohne unterzutauchen (orienti tenditur septemtrio). Unsere Alba versetzt uns also mit ihrer dritten Strophe in die frühe Morgenstunde des ersten Frühlingstages, in jene Stunde, die Gott seinerzeit wählte, um die Welt zu erschaffen, und in der es ihm beliebte, als die Zeit erfüllt war, durch die Verkündung des Engels sein Los mit der Menschheit zu verbinden» (p. 162-l63).

Man mag diese Deutung für gesucht halten und aquilo seine primäre Bedeutung (Nordwind) geben. Dann sagt der erste Vers der dritten Strophe, dass sich bei Tagesanbruch vom Arktur her der Nordwind erhebe. Das ändert nichts Grundsätzliches am Gehalt der Strophe, welche die Beschreibung der Natur, wie sie zu Beginn der ersten Strophe anklingt, wieder aufnimmt und die selbstverständliche Ordnung der kosmischen Bewegungen den Anfechtungen und Gefahren des irdischen Lebens gegenüberstellt.

Trotz dieses Bogens, der so von der dritten Strophe zum Anfang des Gedichts zurück geschlagen wird, kann man sich fragen, ob nicht das natürliche Ende eines geistlichen Morgenhymnus durch die Anrufung Gottes im Gebet hätte gebildet werden müssen. Da unser Text mitten im Refrain der dritten Strophe abbricht —obwohl die Handschrift noch mehr Raum zur Niederschrift geboten hätte —, ist es denkbar, dass das Gedicht unvollständig überliefert ist und wir sein Ende nicht kennen. Was wir vor uns haben, genügt aber vollauf, um dieses Gedicht richtig einordnen zu können.

Nun werden aber die lateinischen Strophen durch einen romanischen Refrain voneinander getrennt. Dieser Refrain steht auch in einer Tradition, jedoch in einer ganz anderen, nämlich in der einer volkstümlichen Liebeslyrik. Wenn wir von unserem Text absehen, finden sich die ältesten Spuren dieser Lyrik im mittelalterlichen Spanien, und zwar in ganz besonderer Form.

Zu Beginn des 10. Jahrhunderts entstand in der andalusischen Stadt Cabra eine neue arabische Dichtungsform, der Muwassah. Es handelt sich um ein komplexes Strophengedicht. In der Mehrzahl der Fälle beginnt es mit einem Präludium, das am häufigsten vier Verse aufweist, die durch verschiedene Reimschemata miteinander verbunden sein können. Darauf folgen meist fünf Strophen von drei oder mehr Versen mit je einheitlichem Reim. Nach jeder Strophe steht ein Refrain, der die metrische Struktur, nicht aber den Text des Präludiums (oder des ersten Refrains, sofern das Gedicht (kahl>, das heisst präludiumslos ist) aufnimmt. Der Refrain nach der letzten Strophe heisst Harga (Ausgang) oder Markaz (Stütze, Grundlage). Aus Darlegungen arabischer Dichtungstheoretiker wissen wir, dass die Harga grundsätzlich vor den übrigen Teilen des Gedichts existierte und nicht schriftarabisch, sondern umgangssprachlich, volkssprachlich zu sein hatte. Nun waren die beiden Volkssprachen, welche um 900 in Südspanien gesprochen wurden, das Vulgärarabische und das Mozarabische, das heisst die romanische Sprache der christlichen Bevölkerung, die nach dem Arabereinfall von 711 unter arabischer Herrschaft weiter in Südspanien lebte.

Die Theorie wird durch die Überlieferung bestätigt: Es sind heute rund 50 Muwassahas bekannt, welche eine romanische, mozarabische Harga enthalten und Zeugnis davon ablegen, dass vor 711 in Südspanien eine volkstümliche Lyrik bestand. Arabische Dichter haben sich diese Tradition zunutze gemacht, um eine komplizierte zweisprachige Dichtungsform zu bilden. In der Verbindung mit arabischer

Kunstdichtung hat die mozarabische Volkspoesie ihre ursprüngliche Reinheit und Natürlichkeit selbstverständlich nicht voll bewahren können. Was wir in den Hargas überliefert haben, gibt uns nur indirekt Kunde von der ursprünglichen frühromanischen Lyrik Südspaniens. Es reicht aber dafür aus, dass wir uns von dieser Lyrik ein ungefähres Bild machen können: Rund vier Fünftel der erhaltenen Hargas werden durch die letzte Strophe vor dem romanischen Schlussrefrain jungen Mädchen in den Mund gelegt. Es ist klar, dass dies literarische Konvention ist. Ihr liegt aber etwas Tieferes zugrunde, das durch den Inhalt der Hargas bestätigt wird: Die mozarabische Lyrik ist Frauenlyrik, die romanischen Lieder, welche die arabischen Dichter ursprünglich als Ausgangspunkt für ihre Kunstgedichte verwendeten, waren Frauenlieder, Lieder, in denen ein Mädchen Liebesfreud und vor allem Liebesleid ausdrückt, über das Fernsein des Geliebten klagt, Kummer und Schmerz Ausdruck verleiht, Mutter und Schwestern um Rat fragt und weder ein noch aus weiss in seiner Liebe.

Wir kehren zurück zu unserem Gedicht. Seine strukturelle Verwandtschaft mit den andalusischen Muwassahas springt in die Augen. Es handelt sich grundsätzlich um eine zweisprachige Dichtung, schriftsprachliche Strophen mit volkssprachlichem Refrain, wobei allerdings bei unserem Gedicht auf jede Strophe der — immer gleiche — romanische Refrain folgt, während in den Muwassahas nur der Refrain der letzten Strophe romanisch ist. In bezug auf den Refrain selbst ergeben sich ebenfalls enge Verbindungen:

—Das Motiv der Morgenröte, der alba, kommt auch in der mozarabischen Lyrik vor, und zwar in der gleichen Form wie in unserem Refrain. Die Morgenröte ist nicht etwa —wie in späteren provenzalischen Albas — der Augenblick, da sich die Liebenden nach gemeinsam verbrachter Nacht trennen müssen. Vielmehr ist die alba die Zeit des Wiedererwachens der Lebens- und Liebesgeister, die Zeit der Liebe, der Freude, der Begegnung. So heisst eine Harga:

Morgenröte meines Glanzes!
Seele meiner Freude!
Da der Wächter diese Nacht nicht da ist,
verlange ich nach Liebe.

—Wie das Beispiel zeigt, wird das Mädchen für gewöhnlich bewacht. Die Figur des Wächters wird —wie in unserem provenzalischen Refrain — in fünf der erhaltenen mozarabischen Hargas ausdrücklich genannt.

—Ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Refrain unseres lateinisch-provenzalischen Gedichts spricht das Mädchen in rund einem Viertel der erhaltenen mozarabischen Hargas die Mutter an, als Vertraute und als Ratgeberin.

Die Tradition, in welcher der Refrain unseres Gedichts steht, scheint mir in diesem Sinne absolut deutlich sichtbar. Es ist eine Tradition frühromanischer

Frauenlieder. Die Tradition war sicher verhältnismässig weit verbreitet. Aus ihr stammen —neben den mozarabischen Hargas —die altportugiesischen Cantigas de amigo und —allerdings in verhältnismässig später Überlieferung —spanische und französische volkstümliche Gedichte (villancicos und refrains).

Wie konnte es nun aber dazu kommen, dass diese volkstümliche Tradition von Liebesliedern sich mit der kirchlich-gebildeten Tradition des geistlichen Morgenhymnus verbunden hat? Dass im 10. und 11 . Jahrhundert die Tendenz zu zweisprachigen Dichtungsformen bestanden hat, wird deutlich durch die südspanischen Muwassahas gezeigt. Wie eng die Beziehungen waren zwischen der Pyrenäenhalbinsel und den westfranzösischen Kulturzentren der Zeit —wobei neben Fleury-sur-Loire vor allem Saint-Martial de Limoges zu nennen ist —ist im einzelnen kaum zu bestimmen. Sicher ist aber, dass Beziehungen bestanden haben. Es ist deshalb nicht auszuschliessen, dass die zweisprachige hispanoarabische Dichtung als strukturelles Modell eine gewisse Ausstrahlung bis nach Frankreich gehabt hat. Sicher ist ebenfalls, dass im 11 . Jahrhundert gerade in Saint-Martial de Limoges zwei zweisprachige Werke in eine Handschrift eingetragen wurden: ein Annunziationslied zu Ehren der Jungfrau Maria, das aus 8 lateinischen und — im Wechsel damit — 11 romanischen Strophen besteht, und ein liturgisches Drama von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen, in dem lateinische und romanische Strophen ebenfalls abwechseln. Im ersten Fall ist es sicher, im zweiten nicht ausgeschlossen, dass der lateinische Text ursprünglich allein existierte und der romanische später eingeschoben wurde.

Dieser Vorgang hat sich ohne Zweifel auch bei unserem Gedicht vollzogen. Zwischen die Strophen eines lateinischen Hymnus wurde ein romanisches Liebeslied eingeschoben. Man mag sich fragen, warum so heterogene Teile miteinander verbunden worden sind. Dazu ist einerseits zu sagen, dass auch in den hispanoarabischen Muwassahas die Verbindung zwischen Gedichtkörper und Schlussrefrain thematisch zum Teil sehr lose ist und dass offenbar gerade durch den gemeinsamen inhaltlichen und sprachlichen Gegensatz eine artistische Wirkung angestrebt wurde. Auch in dem erwähnten Annunziationslied entsteht keine wirkliche Einheit zwischen den lateinischen und den romanischen Strophen; offenbar machte gerade auch der Wechsel, vielleicht durch Wechselgesang unterstrichen, den Reiz des Liedes aus. Anderseits ist aber auch darauf hinzuweisen, dass in unserem Fall doch ganz klare Berührungspunkte zwischen dem geistlichen Morgenhymnus und dem damit verbundenen Frauenlied bestehen.

Verbindendes Element ist einmal das Erlebnis des Morgens, des Tagesanbruchs. In beiden Fällen — und dies eben im Gegensatz zur späteren provenzalischen Alba, sofern diese nicht religiösen Charakter hat —trägt dieser Zeitpunkt positive Züge, als Überwindung der Dunkelheit und der Sünde im einen, als Erwachen zu neuem Leben und neuer Liebe im anderen Fall. Die Gestalt des Wächters ist ein weiteres verbindendes Element. Freilich steht er in verschiedenen Zusammenhängen: Im geistlichen Morgenhymnus warnt und bewahrt er vor Sünde, im

Frauenlied sucht er die Reinheit, die Keuschheit des jungen Mädchens zu bewahren. Es ist nochmals zu unterstreichen, dass der Wächter in der hier vorliegenden Tradition der Frauenlyrik nicht die Aufgabe hat, die Entdeckung sündhafter erfüllter Liebe zu verhindern. Die Liebe, die sich in dem Grossteil der mozarabischen Hargas und dann auch in den portugiesischen Cantigas de amigo ausspricht, ist die (noch) unerfüllte Liebe eines jungen Mädchens.

So sind klare Berührungspunkte zwischen den beiden Teilen unseres Gedichts vorhanden. Sie genügen, um die auf den ersten Blick erstaunliche Verknüpfung zu erklären. Aber natürlich genügen sie nicht, um eine wirkliche Einheit zu schaffen. Dies wurde aber sicher nicht angestrebt. Der Reiz liegt auch hier im Gegensatz, im Gegensätzlichen der beiden verwendeten Sprachen, im Gegensätzlichen der beiden Melodien. Und schliesslich hat dieser Gegensatz wohl gerade eine besondere Funktion. Er soll Hinweis sein auf den Gegensatz zwischen göttlicher und menschlicher Liebe.

Das zweisprachige Gedicht, das uns hier beschäftigt hat, ist wohl gegen Ende des 10. Jahrhunderts niedergeschrieben worden. Sein Refrain ist damit das älteste erhaltene romanische Liebesgedicht, denn die Überlieferung der mozarabischen Hargas beginnt erst rund ein halbes Jahrhundert später. Erst ein volles Jahrhundert später beginnt der provenzalische Minnesang. In unserem Gedicht stehen offizielle Kultur der klassischen Bildung und der christlichen Kirche einerseits, volkstümliche Lyrik anderseits nicht allzu eng verbunden nebeneinander, wobei der Gegensatz durch den Wechsel der Sprachen unterstrichen wird. In der altprovenzalischen Lyrik suchen sich die beiden Welten zu einer Einheit zu verbinden, sowohl inhaltlich als auch formal. Damit entsteht eine neue —romanische — Schriftsprache, und damit beginnt auch eine jener kulturellen Blütezeiten, die wir immer dort beobachten können, wo eine in der Überlieferung erstarrte Kultur bereit ist, sich wieder auf das spontane und lebendige Empfinden des einfachen Volkes einzulassen.

Meine Damen und Herren! Sie haben sich während meiner Rede vielleicht gefragt: Welchen Sinn hat es, sich mit einem tausend Jahre alten Liebesgedicht zu befassen? Gibt es nicht aktuellere Themen? Nach meinem Verständnis hatte ich Ihnen im Rahmen dieser Feier ein Resultat aus meiner Forschungstätigkeit vorzulegen. Dazu gehören — unter anderem — die ältesten romanischen Sprach- und Literaturdenkmäler. Und richtig verstanden, ist auch diese Forschungstätigkeit aktuell.

Ich bin Mitglied der Philosophischen Fakultät I, und wenn es ein verbindendes Element gibt zwischen den Fächern dieser Fakultät, so ist es die Frage nach dem Wesen des Menschen. Was ist der Mensch? fragen wir alle, und wir versuchen, eine Antwort zu geben aufgrund seines Denkens, seines Fühlens, seines sozialen

Verhaltens, aufgrund seines sprachlichen Ausdrucks, seines literarischen und künstlerischen Gestaltens, aufgrund all dessen, was er als Kultur im weitesten Sinne geschaffen hat, und auch aufgrund seiner historischen Wirklichkeit und Verwirklichung. Wenn wir die Frage nach dem Menschen ernst nehmen, so bemühen wir uns, selbst bei historischer Perspektive, immer auch um die Gegenwart und die Zukunft, denn wir haben es immer mit Verwirklichungen des Menschseins zu tun, die als Möglichkeiten im Wesen des Menschen auch weiterhin gegeben sind. Und so kann auch die Botschaft unseres Gedichts durchaus aktuell sein, welche uns zeigt, wie eine sehr starre, nur einer kleinen Minderheit von Gebildeten zugängliche Tradition sich öffnet und mit einem volkstümlichen Lied verbindet, welche uns zeigt, wie ein Kleriker plötzlich den Liebesschrei eines jungen Mädchens so ernst nimmt, dass er ihn aufschreibt:

Die Morgenröte erscheint. Oh Mutter! Der Freund kommt allein.
Da ich zu ihm gehen will, ach Wächter,
schau die Helligkeit als Dunkelheit an!