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Der Bürger in der modernen Demokratie

Der Bürger im modernen Staat (oder in der modernen Demokratie) — es ist vermessen, ein so weitläufiges Thema in einer knappen akademischen Rede aufnehmen zu wollen. Doch die Wissenschaft mag bei einem feierlichen Anlass auch einmal waghalsig, und die Staatsrechtswissenschaft im besonderen, entgegen ihrem Gelöbnis, ein wenig voreilig sein. Ich steure denn auch unvermittelt auf den Fragenkreis zu, in dem die wechselseitigen Beziehungen von Bürger und Staat in der westlichen Welt gegenwärtig zusammenlaufen und wohl die Prägung empfangen.

Ich meine, es gehe bei fast allen Kritiken, Turbulenzen und Fortführungen der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie — des «Modernen Staates« also — vorwiegend um den Stand der Freiheit, den der Bürger derzeit erreicht hat, um die Freiheit, die er nutzt und auf die hin der menschbezogene Staat sich formt und betätigt. Auffällig ist jedoch, dass wir nicht recht sicher sind, wo wir mit der Freiheit des Bürgers stehen, was man mit ihr historisch-tatsächlich anrichtet, was man auf die Zukunft hin mit ihr und für sie tun soll.

Wir stecken in Verlegenheiten: Hat der Bürger in der Tat Freiheit? Macht er zureichend Gebrauch davon? Stellt sich der Staat auf die erreichte Freiheit des Bürgers angemessen ein? Wie soll es weitergehen? — Niemand kann uns derzeit mit überzeugenden Theorien und zündenden Parolen aus derartigen Verlegenheiten herausführen. Aber es ist schon einiges gewonnen, wenn wir überhaupt wagen, uns dem Fragenkreis zu nähern und zuzugeben, dass unsere Zeit im tastenden Suchen begriffen ist. Die Gebärde dessen, der «es weiss», ist uns nicht mehr angemessen. Das heisst nicht, im Strudel der inneren Unsicherheiten unterzugehen, sondern fordert, sich aufzuraffen, Standkraft zu gewinnen und im Wagnis solchen Suchens Existenz zu behaupten.

Emanzipation und Autonomie

Wenn wir hier vom Stand der Freiheit — oder vorsichtiger: der Freiheiten — des Menschen im staatlichen Konnex reden, stellen wir Aspekte der äusseren Freiheit im politisch-gesellschaftlichen Bereich in den Vordergrund, zum Beispiel die Meinungsäusserungsfreiheit oder die Teilhabe an staatlichen Entscheidungen — ohne dabei zu vergessen, dass philosophische und theologische Hintergründe bei jeder Erörterung der Freiheit im Umfeld des Staates

dauernd anwesend, aber vor allem wegen der heillosen Zersplitterung dieser geistigen Basen nicht unmittelbar anrufbar sind. Die praktischen Wissenschaften vom Staat müssen sich gegenwärtig — das kann sich wieder ändern — in einer spezifischen Distanziertheit gegenüber philosophischen oder theologischen Festlegungen in bezug auf Mensch und Gesellschaft bewegen. Damit müssen sie aber in einem weiten Umfang die innere Freiheit des Menschen ausser acht lassen, wenn ihnen am fortführenden Diskurs und zugleich am Dienste an der praktischen Staatsgestaltung gelegen ist. Die Wissenschaften vom Staat heimsen dafür freilich den Vorwurf ein, relativ oberflächlich und final-praktikabel ausgerichtet zu bleiben.

Der westliche Mensch, der sich im politisch-gesellschaftlichen Raum aufhält und handelt, der Bürger als civis, der Citoyen (Rudolf Smend) und nicht das bloss anonyme Glied eines gesteuerten Kollektivs, der civis mithin, verzeichnet einen ungeheuren Gewinn, einen unerhörten Zuwachs an Freiheiten, zumindest an äusseren Freiheiten. Der Bürger unserer Zeit hat den Weg zur sichtbaren Mündigkeit — zu dem er sich vor rund 200 Jahren weniger mit Immanuel Kants Aufforderung, sich der Verstrickung in die Unmündigkeit durch Selbst-Denken zu entwinden, als mit den Fanfaren der amerikanischen und der französischen Revolution im Sturmschritt aufgemacht hat — beinahe abgeschritten. Er ist am Ziele nahezu angelangt: Er ist jetzt offenbar mündig, beinahe mündig.

Wollen wir an dieser Stelle dem komplexen Begriff der Freiheit ausweichen und einen zum Schlagwort entarteten, jedoch zutreffenden Ausdruck aufnehmen, so können wir von ausgreifender Emanzipation und von hochgradiger Autonomie reden. Denn das sind wir in der Tat: emanzipiert, abgelöst und losgelöst, aus Munt und potestas entlassen. Jeder ist angeblich auf sich selbst gestellt, in und von den überindividuellen Zusammenhängen wenig bedrückt, vielmehr gefördert und bestätigt. Abgeworfen sind die Fesseln dogmatisierter Knechtungen durch Kirchen und konfessionelle Einbindungen, durch geschlossene Gesellschaften, durch verkrustete Konventionen, durch sinnentleerte Sitten und Gebräuche, durch hemmende Vorurteile, durch geistige Dürftigkeiten, durch verbreitete materielle Armut. Die formalisierte und vielleicht verspannte Pflichtidee — sie dominierte etwa noch den Menschen des Zweiten Weltkrieges — hat sich verlaufen, und die pathologischen Verformungen der Seele sollen nach dem Gebot der Stunde individuell

und kollektiv methodisch abgestreift werden. Über dem Horizont ist die Sonne der persönlichen Entfaltung, der Selbstverwirklichung, der Selbstbestimmung auch in Kollektivzusammenhängen aufgestiegen, von der ein Rousseau — gemessen an heutigen Massstäben — erst vag-imaginär gesprochen hatte.

Sonderbarerweise ist anhaltender Jubel ausgeblieben, hat sich nicht einmal Zufriedenheit eingestellt. Wo Errungenschaften noch belobigt werden, klingt es gequält oder simpel. Der Grundton ist auf Krise gestimmt.

Diagnosen des Niedergangs und Befürchtungen der Auflösungen von Einheiten in Staat und Gesellschaft fluten ungestüm daher, und sie haben gar die Gewalt des Plausibleren und Hellsichtigeren an sich. Die erlangte Emanzipation ist ja auch Erwachen, und was sie jetzt erblickt, erfüllt die eudämonistisch-hedonistischen Erwartungen pueriler Epochen nicht. In staatsrelevanten Tatbeständen wird der losgelöste Mensch vielfach inne, dass er Mass und Massstäbe verloren, dass er stützenden Halt eingebüsst hat. Statt nun auf sich selbst zu stehen, statt sein Selbst finden und verwirklichen zu können, ist er der Unsicherheit von Bodenlosigkeiten preisgegeben.

Er trifft freilich auf eine Menge von Hilfsangeboten. Empfehlungen erstrecken sich von der persönlichen Lebensführung und den Techniken der Berufserfolge über wirtschaftlich-gesellschaftlich-politische Verhaltensanweisungen bis zur endgültiges Glück verheissenden Sozial- und Staatsgestaltung. Doch diese Darreichungen verwirren in ihrer Vielfalt. Sie enttäuschen in ihrer Abstraktheit oder in ihrer Menschen- und Weltfremdheit. Sie versagen in ihren Wertverlegenheiten, sobald der Mensch in Grenzsituationen, der Staat in Handlungs- und Existenzbedrängnisse eintritt.

Die totale Säkularisation, die der Westen nun seit einigen Jahrhunderten entgegen mannigfachen Beteuerungen angriffig betreibt, ergreift den Menschen und den Staat erst jetzt in ihrer brutalen Wirksamkeit. Die Glaubensverluste sowie die Ablösungen von religiös durchdrungenen Verhaltensnormierungen machen im staatlich relevanten Sein eine Verlorenheit bewusst, von der etwa der staatsindifferente oder manchmal staatsnaive Existenzialismus dieses Jahrhunderts für den einzelnen Menschen ausgegangen ist. Die reichlich dargebotenen Rezepte von Erneuerungsbewegungen oder von Traditionsgefestigten

wollen bislang für die Beziehung Mensch und Staat nicht anschlagen. insbesondere scheint es, als ob man erst jetzt die Härte des sonst längst gebilligten Satzes aufnähme, dass es kein Zurück gibt, selbst da nicht, wo das Verlangen danach in Neo-Lehren und in Innovationsverkleidungen gesättigt werden möchte. Restaurative Aufschwünge etwa haben wir in diesem Jahrhundert vielfach erlebt; sie sind regelmässig nach kurzer Dauer ermattet. Das schärft Zurückhaltung und Skepsis gegenüber Angeboten neuen oder erneuerten Haltes, zum Beispiel gegenüber aufklärerischem Optimismus, gegenüber kirchlichen Dogmatismen, gegenüber Belebungen griechisch-jüdisch-christlicher Traditionsanschlüsse, gegenüber futuristischen Heilsversprechungen. Zumal wenn sie, wie die marxistischen Hereditäten, vorerst durch das Fegefeuer totalitärer und absolutistischer Regimenter führen. Auf Bedenken stösst aber auch, was auf erneuerten Wogen Hegelscher Ansätze das, was ist, mit dem, was gut ist und sein soll, gleichsetzen möchte.

Es ist offensichtlich: Wir befinden uns in einer Epoche des Suchens, des Experimentierens. Denn ganzheitliche oder dauerhafte Lösungen sind derzeit wirklichkeitsfremd und entziehen sich angesichts der pluralistischen Wert- und Sozialordnung ohnehin der grossen Gefolgschaft, ohne die sich aber imponierende Wendungen nicht einstellen. Die Wissenschaften vom Staate müssen sodann die Zumutung abwehren, gültige Konzepte für politische Systeme oder anthropologische Verhaltensmuster vorzulegen und ihre Befolgung anzupreisen. Sie können freilich — und das sollten sie — einige Beihilfe leisten, indem sie Situationen und Voraussetzungen beschreiben, die im Gebirge jenes Suchens herrschen.

Unausweichliche Widersprüchlichkeiten im modernen Staat

Begegnen sich in dieser freiheitlich gestimmten, zugleich halt-armen und orientierungsbedürftigen Situation des Suchens Staat und Bürger, werden Besonderheiten des Staates leicht übersehen. Sein Janus-Gesicht, seine Sinn-Vielfalt, seine strukturelle Komplexität, seine Multifunktionalität verbieten es, ihr Zusammentreffen mit einfachen Formeln erfassen und bestimmen zu wollen. Deshalb greifen etwa Parteiparolen zur Staatsgestaltung und Staatsbetätigung meistens zu kurz.

Widersprüchlichkeiten in Anlage und Handeln des Staates sind nicht auszutreiben. Wenn sie mit Aufschrei selbst im Westen zu Widerspenstigkeiten, zu

Abneigungen und zur Abwendung führen, so ist meist der Umstand daran beteiligt, dass man die dem Staat eingeborenen Antinomien und Polaritäten nicht wahrhaben will.

Es beginnt schon damit, dass man seine geschichtliche Sendung zu einfach sieht. Der moderne Staat war das wirksame Instrument und das verheissungsvolle Ziel, als vom 16. bis ins 19. Jahrhundert die Absolutismen abgeschüttelt wurden. Dieser Aufgabe ist der Staat nicht entledigt. Er ist und bleibt Ursprung und Ausdruck der erlangten Freiheiten. Er ist das institutionelle Gehäuse der Emanzipation, die ihm einerseits entspringt, anderseits ihn hervorruft. Dank seiner sind Freiheiten real und unter Geboten der Gleichheit allgemein geworden. Er schützt mit einer effizienten Ausstattung, zum Beispiel mit der Verfassung, mit der Verfassungsgerichtsbarkeit und mit dem Vorbehalt des verfassungsmässigen Gesetzes für alles staatliche Handeln — er schützt also den Bürger vor staatlicher Übermacht und hält sich selbst in Schranken.

Als das 20. Jahrhundert vollends erkannte, dass die Freiheiten, welche Demokratie und Rechtsstaat konstituieren, auf breiten materiell-ökonomischen Voraussetzungen beruhen, das heisst auf einem durchgehenden und relativ gleichmässigen Wohlstand mit einer gefestigten sozialen Sicherheit, da erweiterte sich der moderne Staat fast wie selbstverständlich zum Sozialstaat, der die lastenreiche Aufgabenfülle des individuell-helfenden wie des gesellschaftsgestaltenden Gemeinwesens aufnahm. Heute zählt, wie Alois Riklin kürzlich wieder überzeugend dargetan hat, die entwickelte Sozialstaatlichkeit zu den unabdingbaren konstitutiven Elementen der schweizerischen Staatsidee, des modernen Staates überhaupt.

Aber da treten auch seine spannungsreichen Anlagen offen zutage: Der moderne Staat kann auch verkommen.

Einerseits kann er sich entpersönlichen und zum anonym-perfektionierten Apparat, zum technisierten Grossunternehmen, zur selbsttätigen Machtballung mit einer freiheitsgefährdenden Totalpräsenz steigern. Der gezähmte Staat kann zähmender, ja dressierender Staat werden.

Anderseits kann er inmitten des guten Willens, Freiheiten ausleben und die Freizügigkeiten des sympathischen Pluralismus gewähren zu lassen, in die Schwächen dessen geraten, der Recht nicht mehr durchsetzt, der die integrative Sammlungskraft der Handlungseinheit preisgibt, der letztlich quietistisch

und willensschwach Mensch und Gesellschaft sich selbst überlässt, also den anarchischen Zuständen ausliefert, in denen Freiheit sich unvermeidlich verliert.

Auf beide Weisen — über die imperativ-dominierende wie über die permissiv-auflösende Möglichkeit — ist der moderne Staat imstande zu zerstören, was er nun während Jahrhunderten und Jahrzehnten mühevoll und unter Opfern zustandegebracht hat. So ist der herangereifte Zentralwert der Freiheit immer noch und immer neu den Vernichtungspotentialitäten ausgesetzt, die im Staate und in der Gesellschaft angesammelt sind.

Der Bürger indessen, der Freiheiten gewonnen hat, ist darob seine eigenen Widersprüchlichkeiten, seine Egoismen, seine Zügellosigkeiten, Bequemlichkeiten und Begehrlichkeiten nicht losgeworden. Die Emanzipation hat ihn bisher nicht beherrschter, vielmehr oft forscher, fordernder, hemmungsloser, vielleicht auch unzuverlässiger gemacht. Er geniesst gleichsam, dass er «losgelassen» ist. Offenbar gehört zur nutzbaren Freiheit, nicht an die Urne zu gehen, Gemeindeversammlungen fernzubleiben, politischen Parteien mit Geringschätzung den Rücken zu kehren, sich Amtsübernahmen zu entziehen, Behördemitgliedern den Respekt zu versagen, rabiat und trotzig zu verwerfen, was nach Askese-Predigt klingt oder Worte wie Disziplin, Pflicht oder Dienst verwendet. Mit wenig Bedenken wird der Rückzug ins Private und Privative mit dem Vorbehalt, wieder hervorzutreten und den Staat wirksam mitzubestimmen, wenn es einem so gefällt, als Ausdruck lebendiger Freiheit gedeutet. Zumindest wird es als zulässigen Gebrauch der Freiheit hingestellt, sich dem Staat — wo erwünscht: auch ungebärdig — entgegenzuwerfen. Als ob der Staat nicht die Hervorbringung seiner Bürger, nicht ihre eigene politische Existenz, nicht das von ihnen festgelegte Gemeinwesen wäre, für das der Einzelne die ständige Mitverantwortung eines Trägers und Zugehörigen nicht abzustreifen vermag, solange er sich im Staatsverbande aufhält und sich dem Staatsvolk zugesellt. Der Mensch ist vorderhand in seinem Widerspruch geblieben. Was an ihm als vorgegebene Natur gilt, stellt sich auf die gewonnene Freiheit erst zögernd ein. Höchst zurückhaltend folgt der äusseren Umwälzung eine innere oder ganzheitliche — auch wo sie Wandlungen zugänglich wäre — , so dass Asymmetrien herrschen: Der Bürger hat sich jenen Freiheitsbegriff noch nicht vollends zu eigen gemacht, der mit der Loslösung die komplementäre Selbstlenkung in gehobener Selbstverantwortung in sich aufnimmt, die Emanzipation also mit der verantwortlichen Disziplinierung

verknüpft. Insofern sind wir wohl mündiger, aber eben schwerlich schon mündig geworden.

Entgegen der anfänglichen Annahme stehen wir mit der Erlangung der Freiheit immer noch in einer Entwicklung, nicht schon am Endpunkt. Wir sind zwar in der Reifung begriffen. Wir sind aber damit längst nicht am Ziel, sondern auf weiter Flur unterwegs. Deshalb sind Unvollkommenheiten und Gefährdungen im Spiel. Das tritt etwa da vor Angesicht, wo Freiheit im Auf und Ab ihrer Ausbildung mehr als Last denn als Gewinn empfunden wird. Ein weiteres Mal wird dann Stütze vom Staat erwartet.

Doch eines ist bis jetzt als unausweichlich zu erkennen: Keinesfalls kann der moderne Staat die Rolle der hegenden Mutter nach archaischen Bildern mit Aussicht auf Erfolg übernehmen. Er kann die Kühle, die die Freiheit ist und bringt, nicht künstlich in Wärme wandeln, die Nebenfolgen der Entfernung, des Alleinseins und der Verantwortlichkeitssteigerung nicht institutionell abhalten. Er ist weder Kirchenersatz noch Kreator einer säkularisierten Moral, an der sich der orientierungsdurstige Mensch innerlich aufzurichten vermöchte — obschon nachdrücklich herauszuheben ist, dass die moderne staatliche Neutralität gegenüber Weltanschauungen, Konfessionen und ethischen Strömungen nicht absolut ist und nicht in Gleichgültigkeit absinken kann. Der Staat bleibt empfänglich dafür, woran sich der Bürger — in relativer Freiheit — bindet, und das bedeutet, dass er auch auf emotionale «Ligaturen» (Rolf Dahrendorf), wie zum Beispiel Ehe, Familie, Vereinigungen, soziale Gemeinschaften, baut und partiell ihre Hegung sicherstellen hilft.

Der Staat des emanzipierten Bürgers ist nicht nur ein gemachtes Gefüge der nüchternen Rationalität, sondern auch ein Prozess subtiler und komplizierter Beziehungen von rationalen wie emotionalen Bestimmungsfaktoren. Deshalb lässt sich nicht formelhaft-einfach bestimmen, wie Bürger und Staat derzeit zueinander stehen und ihre Relation im Praktischen und Konkreten fortbilden sollen. Wenn man diese Offenheit Krise nennen will, so mag man es tun; nur soll man dann einrechnen, dass es ein erstreckter Gang ist, eine Aufgabe, ein Dauersachverhalt, der nicht wie ein Fieberzustand soziopharmazeutisch coupiert werden kann. Wir und die Nächsten haben sich mit dem Freiheitsthema im Staat weiter zu beschäftigen, und das heisst, mit der fortgesetzten Krise zu leben.

Freiheitsentwicklung im modernen Staat

Im modernen Staat liegen die tiefgründigen Probleme «an und für sich» nicht beim Energiewesen, beim Umweltschutz, bei der Meisterung des Verkehrs und der Raumordnung, auch nicht bei der Finanzbeschaffung und der Staatsorganisation. Die Zuversicht reicht doch aus, diese Aufgaben als jetzt und morgen lösbar aufzufassen. Das Vertrackte und Heikle hat sich vielmehr bei der Emanzipation und Autonomie eingenistet — mit den eingangs erwähnten Verlegenheiten, wie sich der Bürger und der Staat auf die erreichte und erreichbare Freiheit angemessen einstellen. Erweitert gefragt: wie sie beide, Bürger und Staat, Freiheit halten, festigen, fortbilden und effektiv machen sollen.

Diese Fragen treten insbesondere dann ins Blickfeld, wenn konkrete Lagen von bedrängender Natur im Staate zu bewältigen und die Beziehungsgeflechte aus dem Freiheitsaspekt zu beleuchten sind. Wir wollen auf drei derartige Brennpunkte hinweisen und damit zugleich einige aktualisierte Freiheitsprobleme namhaft machen.

Ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ruht bekanntlich auf Tugenden des Bürgers, ist also von tief verankerten normativen Haltungen getragen, zu denen entschiedener als bisher die Geduld zu zählen ist. Man könnte es auch anders wenden und sagen: Es geht darum, mit dem Zeitbedarf der Freiheitsentwicklung zurecht zu kommen.

Die persönlichen und die institutionellen Aufbereitungen auf den Stand der äusserlich erreichten Freiheiten brauchen in der Regel Jahre und Jahre, teilweise Generationen. Zum rasend beschleunigten sozialen und kulturellen Wandel, dem Bürger und Staat auch ausgesetzt sind und den sie mitmachen, schafft das merkwürdige Diskrepanzen. Im Aktionsfeld der Freiheit indessen ändern weder die menschlichen Grundzüge noch die Institutionen des Staates in derselben Geschwindigkeit und Gleichmässigkeit. Wesensgemässe Verzögerungen und willentliche Bremsungen sind üblich, indem man sich Revisionen verschliesst, überkommene Gewohnheiten pflegt und Relikte nostalgisch bewahrt.

Dazu gehören etwa die überlangen staatlichen Entscheidungsprozesse, etliche der ineffizienten Parlamentsverfahren, die Dauerüberlastung letztinstanzlicher

Gerichte, Verschliessungen in internationalen Beziehungen, Verweigerungen gegenüber neuzeitlichen Informationsmöglichkeiten in der realen Domkratie. Das sind immerhin nicht nur uneinsichtige Erstarrungen, sondern es können auch freiheitsbegünstigende Gegengewichte beteiligt sein, mit denen bedächtig Fehldispositionen der Hast verringert werden. In diesem Fall erheben sich mitunter tragende oder schmückende Säulen der Konstanz und der Kontinuität auf dem Boden der Bedächtigkeit, die der Schweiz wiederholt böse Erfahrungen mit modischen Strömungen erspart hat. Der Langsamkeit sind freilich umgekehrt Versäumnisse, verpasste Chancen und kostspielige Provisorien anzulasten.

Für unseren Zusammenhang kommt es nicht darauf an, Tempo gegen Beharren abzuwägen, wohl aber der übergeordneten Pflege der Geduld das Wort zu reden. Umwege sind auch Wege, die zum Ziele führen, und lrrwege können Orientierungshilfen dafür sein, wie ein Ziel schliesslich sicher angegangen werden wird. Weder hat der Mensch im Status des Bürgers noch der Staat im Status der freiheitlichen Ordnung das optimierte Sein für sich und das harmonisierte Miteinander gefunden, selbst in der von der Freiheit und für die Freiheit privilegierten Schweiz nicht.

Aufeinander zu warten, Angewöhnungen zu gewähren, Imperfektes in langwierigen Übergängen zu dulden, Überbordungen und Zurückhaltungen hinzunehmen, auf das Einspielen der beruhigten Gleichmässigkeiten zu vertrauen — das sind Stichworte der historischen und politischen Geduld im Saatfeld der Freiheit. Die «pragmatische Vernunft» (Hermann Lübbe) verbietet durchaus nicht, auf Änderungen zu drängen, und sie fordert auf, die Anstrengung darauf zu werfen, sich Neuem und Besserem aufzuschliessen. Allein, sie lässt der Freiheit um der Freiheit willen den Atem, erstickt ihre Entfaltung nicht in der Übereilung und im Perfektionismus, die uns sonst zum Habitus geworden sind. So gedeiht in der Pflege der Freiheit ein Gegenzug, der mit den Qualitäten des Beharrlichen, des Ausdauernden, des Unentwegten, des Zielsicheren verwandt ist. Im letzten gründet die Geduld im Vertrauen auf den Menschen selbst, der in seiner Würde für sich und sein Gemeinwesen nicht davon ablässt, der Freiheit Lebensbedingungen zu bereiten, die jedoch nur langsam heranreifen können. Ich denke: Wir müssen uns auf einen langen Marsch durch die Wüste, auf Mühsal und auch Rückfälle gefasst machen.

Die Lebensbedingungen der Freiheit zu bereiten — das ist partiell machbar. Wir kommen mit dieser gewagten Behauptung zum zweiten Element. Die Gegenwart scheut zwar vor moralisierenden Forderungen zurück und hält im staatlichen Einzugsgebiet keine grossen Stücke darauf, dass man Mensch und Organisation, Bürger und Staat zumutet, freiwillig und ohne erheblichen Rechtszwang und Sozialdruck Verhalten zu ändern.

Vorerst einmal gilt: Der Mensch ist, wie er ist, und er stagniert in seiner Unvollkommenheit. Mitmensch und Staat haben ihn zu tragen und zu erdulden. Und so bleiben auch Gesellschaft und Staat in einem festgelegten Lauf, den Wille und Zielgebungen nicht einfach umzuleiten vermögen. Sobald ernsthaft Wandel und gar Umkehr gefordert werden, machen sich Zweifel an der Realisierbarkeit breit. Die öffentliche Meinung, so sehr sie sonst dem Machbaren verschrieben ist, folgt hier leichten Fusses deterministischen Tendenzen, die hinnehmen, was geschieht. Indem sie mit geschichtsbestimmenden Quellen und notfalls mit einem diffusen «Mythus des Staates» (Ernst Cassirer) rechnen, werden die Schwierigkeiten, multikausale Sozialprozesse zu durchschauen und ihnen korrigierende Eingriffe entgegenzustellen, schlicht beiseite gedrängt. «Es kommt, wie es kommt», und: «So sind wir nun einmal» prägen das Welt-, Staats- und Menschenbild, wenn die leichtfertigen Oberflächlichkeiten des billigen Zweckoptimismus und der Immer-Munteren einmal durchbrochen sind.

Solcher kaum religiös oder erkenntniskritisch, sondern eher in Trägheit erwachsener politischer Resignation steht jedoch vielem zum Trotz die Erfahrung entgegen, dass guter Wille motivationsfähig, dass «Wissen und Bildung» durchaus inhaltsgestaltend zu Tauglichem hin wirken können. Damit brauchen nicht die Bildungsarroganz und nicht der Wissenschaftsaberglaube wieder erweckt zu werden. Aber der moderne Staat fusst darauf, dass Lernen möglich ist, dass trotz der Beschleunigungen der sich selbst dauernd überholenden und damit unberechenbaren Wissenschaften nutzbare Erfahrungen gemacht werden können. Ferner, dass der Bürger bereit bleibt, sich zu formen und auf Wirksamkeit im Staat hin sich zu bilden. Dies alles, ohne zu überfordern, ohne von den Behörden-Mitgliedern Übermenschliches und Fehlerfreies zu erwarten, ohne den Staat als Zuchtanstalt oder Dauerschule zu betrachten. Nicht erwartet ist der Bürger als Fachmann für alle politischen Entscheidungen, und die staatsleitenden Organe werden nicht veranlasst, alles

verfügbare Wissen eines Zeitpunktes bei sich anzusammeln. Indessen geht es um Fähigkeiten, Ganzes zu überblicken, Zusammenhänge zu begreifen und staatsleitende Fragen verstehend aufzunehmen, um darauf relativ frei gewollte Antwort zu geben.

Freiheit wird Möglichkeit, wo Dumpfheit und Nichtverstehen lernend, erfahrend, wissend durch erzogene Menschen eingedämmt werden. Wie man die ökonomischen Voraussetzungen freiheitlichen Seins mit sozialstaatlichen Vorkehren sicherzustellen sucht, so werden mit frischem Impuls die wissensmässigen Voraussetzungen des freiheitlichen Seins mit edukativen Institutionen wieder zu gewährleisten sein. Einfacher gesagt: Der moderne Staat braucht Erziehung.

Und er, der Staat selbst, wird sich wieder erneut um Erziehung kümmern. Der harte Kern inmitten von Schulung und Ausbildung ist nicht Technik und Handlungswissen des Rationalismus, auch nicht die sogenannte Bildung des überheblich-leblosen Traditionalismus. Es geht in klarer Priorität um die Erziehung auf die Freiheit hin, nämlich ihr gewachsen zu werden, sie zu ertragen und dann zu verantworten.

Dieser Erziehungsauftrag trifft auch und gerade die hohen Schulen, die mit der Vermittlung von Wissen und Technik und einigem Können das Eigentliche nicht mehr leisten, selbst wo sie didaktisch Gipfel gestürmt zu haben wähnen. Das Eigentliche ihres Auftrags ist die edukative Prägung derer, die dereinst voranzugehen haben in verantworteter Gestaltung realisierbarer Freiheit. Das setzt zum Beispiel auch für die Auswahl der Hochschullehrer die Akzente, indem ihre Kraft zur Erziehung dank reifer und einsatzbereiter Persönlichkeit höher einzuschätzen ist als die Breite ihres Wissens, ihre Schnelligkeit, die Zahl der Publikationen und die Brillanz der Darbietung.

Auf nächste Brennpunkte treffen wir da, wo staatliche Institutionen unter den erlangten Freiheiten des Bürgers beunruhigt in Bewegung geraten, ohne dass wir Zeitgenossen imstande wären, den erreichten Standort präzis anzugeben und für morgen institutionelle Sicherheiten vorzuzeichnen. Angesichts der sonst einschneidenden Veränderungen von Mensch und Gesellschaft mag man freilich umgekehrt argumentieren und erstaunt fragen, warum im staatlichen Institutionengefüge noch so viel Überkommenes Bestand hat und leidlich funktioniert. Zum Beispiel: das Parlament als eine doch

meist dilettierende Riesenversammlung des Redens und der politischen Betriebsamkeit, jedoch weiterhin ausgestattet mit der Fähigkeit, als Repräsentation der Nation das Staatsganze zur legitimierenden Anerkennung zu bringen und an der Staatsleistung tatsächlich beteiligt zu bleiben — oder: der amerikanische Präsident, ausgelesen und gewählt unter den Deformationen der Massen lenkenden Apparaturen und ohne Gewähr für die Führungsqualitäten, jedoch immer noch imstande, einer Weltmacht innen- und aussenpolitische Steuerungsimpulse einzugeben — oder: die Justiz, die altmodisch, schwerfällig und langwierig die Rechtsbewahrung und friedliche Gesellschaftsgestaltungen zustandebringt und mit der Verfassungsgerichtsbarkeit gar staatsleitende Funktionen erfüllt — oder: das bizarre Getümmel von Mehrheit und Opposition in den parlamentarischen Regierungssystemen, wo in einer grandiosen Zeit- und Energieverschwendung weit mehr dem politischen Spieltrieb gefrönt als Machtkontrolle praktiziert wird.

Die staatlichen Organisationsstrukturen und die institutionellen Beziehungsordnungen zwischen Staat und Bürger halten sich seit ein- bis zweihundert Jahren, passen sich funktional neuen Lagen zögernd an, verlagern zähflüssig Schwergewichte der Geltung im Gewaltengefüge — zum Beispiel vom Parlament auf die Verwaltung —, bilden indessen in ihrer erstaunlichen Konstanz Faktoren des Vertrauten und damit des Vertrauens, der Stabilität und der Beruhigung für den flottierenden Bürger in der verwirrlichen Sozialentwicklung und im Schwund seines inneren Haltes. Dass zum Beispiel in der Schweiz eine Totalrevision der Bundesverfassung nicht an- und vorankommen will, hängt unter anderem damit zusammen, dass man institutionallsierte Gewissheiten für den Bürger, auch wenn sie holprig sind, nicht zu tauschen wagt gegen Zeitgemässes, für das niemand uneingeschränkt einzustehen vermag, dass es wirklich Zeitgemässes und dazu tatsächlich Zukunftsweisendes heraufführen könnte.

Trotzdem vollziehen sich in der Begegnung von Staat und emanzipiertem Bürger Änderungen, die zu institutionellen Klärungen und allmählich zu Neugestaltungen drängen, ohne dass man ihren Gehalt in vollkommener und überzeugender Gewissheit schon anzugeben verstände. Die jeweils beteiligte konkrete Freiheitsproblematik ist in Komplexitäten verstrickt und für staatsgestaltende Grundentscheidungen derzeit schwer durchschaubar. Der Beispiele sind viele: so die verfassungsrechtliche Bestimmung der Wirtschaftspolitik

im Geflecht der ungewissen Freiheitsbegriffe und Freiheitsauswirkungen im Wirtschaftsbereich; so die normative Umschreibung des Sozialstaates, jetzt aber endlich mit der redlichen Angabe seiner ökonomisch-finanziellen Bedingungen und mit seiner postulierten Inhaltsausweitung auf die Verschaffung weniger nur ökonomischen Wohlbefindens als auf die Sicherstellung der humanen Sozialeinfügung des bedrängten Menschen mit Chancengleichheiten; so die Ausdehnung und ausweitende Neudeutung der Grundrechte, namentlich der Freiheitsrechte, mit der Auflage, dass der Staat aktiv und nicht nur defensiv ihre Verwirklichungsmöglichkeit zu gewährleisten habe und damit zum haftenden Garanten praktizierter Freiheit des Einzelnen und der Sozialgruppe werde.

Das sind Hinweise auf vulkanische Eruptionsherde im freiheitsschaffenden Verfassungsstaat. Wir können davon auf den Schluss unserer Betrachtungen hin lediglich noch ein einziges Thema streifen, das die Offenheit der Bürger-Staats-Beziehungen speziell in der Schweiz grell beleuchten mag.

Die politischen Rechte des Bürgers für Sachentscheidungen sind in ein rutschiges Terrain geraten. Der emanzipierte Bürger verlangt Mitentscheidungsgewalt nicht nur bei der wichtigeren Rechtssetzung, wo er für generellabstrakte Anordnungen des Staates über Referendums- und Initiativrechte verfügt. Er sucht massgebliche Partizipationen zunehmend auch für konkrete Sachentscheide, und zwar über das gewohnte, aber nicht sonderlich wirksame Finanzreferendum hinaus, so beispielsweise für technische Grossanlagen oder für umweltwirksame Betätigungen, aber auch schlicht für Verwaltungsakte seines engeren Lebenskreises, ungeachtet der Bedeutung für das Staatsganze.

Rothenturm, Kaiseraugst, Nationalstrassen-Endausbau sind nur hochgespielte Reizworte für etwas, das weiter reicht und vielleicht tiefer greift: Entweder sucht eine erhöhte Bereitschaft zu echter Mitverantwortung des befreiten Bürgers neue Bahnen, oder aber es ist eine noch ungeformte Welle des Demokratismus von vielerlei Schattierungen im Anzug: Betroffene gäben das Placet, Betroffene hätten Vetogewalt, Betroffene bestimmten den Entscheidungsinhalt, und dies für Belangvolles wie für Partikuläres, für Breitgestreutes wie für Lokales. Soweit man im ersten oder im zweiten Begründungszusammenhang die Gemeindedemokratie überschreitet, stösst man in das Neuland einer radikaleren Demokratie der Betroffenen vor, in Demokratievorstellungen,

die wir freilich vorwiegend aus einem wenig demokratiegefestigten Ausland importieren, dabei aber eine Zuneigung nicht verleugnen würden. Denn mit der Demokratie der Betroffenen würde sich die alte Rousseau'sche Hoffnung erfüllen, dass der Bürger nur solchen Normen und Imperativen unterläge, denen er tatsächlich zugestimmt hätte, und er würde endlich niemand anderem zu gehorchen haben als seinem eigenen Willen. Die Vollkommenheit einer direkten, einer identitären Demokratie verspräche, in Griffnähe zu rücken. Die politische Freiheit des Bürgers würde nahezu perfekt. In Tat und Wahrheit stösst man auf Hindernisse.

Dass es schwierig bis unvermeidlich willkürlich werden kann, zu bestimmen, was Betroffenheit heisst, wer in Ansehung eines anfallenden Staatsentscheides Betroffener wäre und wie Gruppen von Betroffenen zu bilden wären, liegt zutage, liesse sich aber mit der Festlegung nach dem sonst verfemten Dezisionismus vielleicht praktikabel, wiewohl nicht willkürfrei machen. Vollends unbewältigt hingegen sind die Fragen, ob mit der Demokratie der Betroffenen für das staatliche Handeln die Fundierung in den Kategorien des Allgemeinen und Grundsätzlichen aufgelöst und für das Staatshandeln gänzlich in das Konkrete überführt würde, womit wir uns dem «konkreten Ordnungsdenken» (Carl Schmitt) des totalitären Staates näherten. Und würden die Kohärenz und Konsistenz des Staatsganzen, das wir mit demokratischen Mehrheitsentscheiden durch das Gesamtvolk leidlich pflegen, im Punktuellen, im Nahsichtigen, in der dauernden Auseinandersetzung von Interesse und Anti-Interesse einer pluralistischen Überdehnung aufgelöst? Müsste in diesem Fall das durchgehende Mehrheitsprinzip, das bisher der halb-direkten Demokratie Handlungsfähigkeit verschafft hat, einem neuartigen Gruppen-Einstimmigkeitsprinzip Platz machen? Verfielen wir im günstigen Falle nicht zumindest einer verfliessenden Verhandlungsdemokratie?

Die Belebung und gezielte Einführung von Verwaltungsreferenden, ja, die Schaffung einer Volksinitiative für besondere Verwaltungsakte halte ich zur Stärkung der Mitwirkungsmöglichkeiten des Bürgers durchaus für möglich. Man kann sodann Petitionsrechte sowie informelle Teilhaben an Inhaltsgebungen kräftigen. Allein, das selbst erfordert umsichtige verfassungsrechtliche Festlegungen und kann nicht auf dürftigem Weg der simplen Duldung in die Staatspraxis Eingang finden, wenn die Beziehung Bürger-Staat in der Zügelung einer verfassungsrechtlichen Ordnung bleiben soll.

Das Beispiel mag belegen, dass die Stellung des emanzipierten Bürgers im modernen Staat nicht der Beliebigkeit politischer Launen und modischen Strömungen ausgeliefert werden kann, welche Freiheit nur plakatieren, aber deren institutionelle Voraussetzungen und Notwendigkeiten nicht mitbedenken. Ohne solches Mitbedenken können der erlangten und auszureifenden Freiheit Bestand und Entwicklung nicht beschieden sein.

Der Umgang mit der Freiheit

Um was geht es zentral im modernen Staat? Um den zureichenden Umgang mit der Freiheit, wie sie sich im emanzipierten, im autonomen Bürger angesammelt hat! Es geht um die Gestaltung des Staates im Blick auf diesen Bürger. Es geht um den Bürger im Blick auf das, was der Staat sein muss und sein kann.

Das ist nicht schlagartig und mit einer Grossaktion, nicht mit einer Kraftanstrengung und einem bekennenden Entschlusse herzustellen und dann als Zustand zu bewahren. Es ist ein nicht endender Vorgang prozesshafter Natur, für den wir die geistige Ausstattung und die politische Zurüstung erst und immer wieder zu suchen und aufzubereiten haben. Der Umgang mit der Freiheit ist beschwerlich und gefährdet. Und weder der emanzipierte Bürger noch der moderne Staat sind jetzt verlässlich gewappnet, ihn wirklich zu prästieren. Es bedarf offensichtlich des steten und zusätzlichen Bemühens in Besonnenheit, um zu begreifen, was Freiheit in der Beziehung von Staat und Bürger bedeutet und sein kann, und zu tun, was am Menschen liegt und ihm zugänglich ist, um sich als Bürger im modernen Staat von der erreichten Emanzipation zur Freiheit des Gereiften fortzuführen und den Staat darnach zu prägen.