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Rektoratsrede von

Prof. Dr. Klaus Wegenast

1. Vorbemerkungen zum Problem der Traditionskrise

Die Reformation des 16. Jahrhunderts hatte den mittelalterlichen Einklang von Religion und Gesellschaft gestört und die Integrationswirkung des Christentums für die abendländische Gesellschaft beeinträchtigt. Wo zwei Parteien unter Berufung auf eine Ur-Kunde sich gegenseitig ausschliessende Grundsätze vertreten, ist es nur eine Frage der Zeit, bis nach anderer Wahrheit gesucht wird, die jenseits von Streit und Ungewissheit Frieden und Sicherheit verspricht. Im 17. und 18. Jahrhundert war es die «Vernunft», von der man sich solche neue Einheit und Frieden versprach. Für den sich jetzt herausbildenden «aufgeklärten» Staat war die Religion deshalb nicht mehr der Massstab aller Dinge, sondern entweder etwas unterhalb der Staatsraison mit der Aufgabe, die bestehende Herrschaft auch noch religiös zu legitimieren, oder aber dann «Privatsache», die keinen Einfluss auf die öffentlichen Dinge beanspruchen durfte. Zu herrschen war das Metier des Fürsten oder der gnädigen Herren, ansonsten konnte, wenigstens im Preussen Friedrichs II., jeder «nach seiner Façon selig werden». Nicht mehr das «Es steht geschrieben» des Herkommens entschied von nun an im Streit, sondern der Hinweis auf die Vernunft, vor deren Richterstuhl auch die Bibel zu erscheinen hatte. Als im Verlauf des 18. Jahrhunderts dazuhin das historische Bewusstsein die geschichtliche Relativität aller Überlieferung, auch der christlichen Offenbarung, als wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis zu erachten zwang, war der Traditionsverlust und darin das traditionslose Denken der Neuzeit zum Schicksal zumindest des westlichen Europa geworden. 1 Das Dogma schien widerlegt, die Grundlage der mittelalterlichen Herrschaft der Religion als Irrtum entlarvt. Die Bildung, bisher vornehmlich ein «Annexum» der Kirche, galt von nun an, vor allem aber seit der Verstaatlichung des Schulwesens im 19. Jahrhundert, als der unter dem Schutz staatlicher Neutralität von jeglichen weltanschaulichen Imperativen unabhängige und deshalb vernünftige Weg in eine hellere Zukunft der Menschheit. 2 War damit auch eine tragfähige Basis für eine integrative säkulare Moral und eine gerechte Gesellschaftsordnung geschaffen, oder lagen die Dinge nicht doch eher so, dass die geglückte Emanzipation von der Religion lediglich einer neuen Willkür Platz machte, die sich zwar vernünftig wähnte, aber

Prof. Dr. Klaus Wegenast Professor Klaus Wegenast ist 1929 in Stuttgart geboren. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie, Philosophie und der Klassischen Philologie an den Universitäten Tübingen und Heidelberg war er zuerst Vikar in mehreren Gemeinden Württembergs, danach Gymnasiallehrer für Religion und Latein an einem Stuttgarter Gymnasium. Von 1962 bis 1972 amtete er als Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Lüneburg. Seit 1972 ist Professor Wegenast Ordinarius für Praktische Theologie (Religionspädagogik) an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern. 1974 bis 1976 war Professor Wegenast Dekan dieser Fakultät. Sein gegenwärtiges Forschungsinteresse gilt der Integration theologischer, sprachwissenschaftlicher, humanwissenschaftlicher und historischer Methoden für eine Vermittlung des Evangeliums an sich rasch verändernde Generationen von Heranwachsenden. Interdisziplinarität des Denkens ist da Voraussetzung, nicht Zielvorstellung! Zu den speziellen Interessen von Professor Klaus Wegenast gehört auch die Entwicklung moderner Lehrmittel für Kinder und Jugendliche.

im Grunde nur ein Ausdruck der jetzt bestehenden Machtverhältnisse war?

Das 19. Jahrhundert liess dann auch die Vernunft als etwas Geschichtliches erscheinen. Mit Erstaunen, ja mit Schrecken entdeckten jetzt aufmerksame Zeitgenossen, dass weder eine experimentelle noch eine deskriptive, aber auch keine kategoriale Empirie die von Immanuel Kant auf den Nenner gebrachten Grundfragen «Was kann ich wissen?», «Was soll ich tun?» und «Was darf ich hoffen?» zu beantworten vermochte. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schlossen das Thema vorerst ab, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer «Dialektik der Aufklärung» 3 nachzuweisen versuchten, dass die neuzeitliche Rationalität zwar den Mythos der Religion vom Thron zu stossen imstande war, aber seit langem selbst in der Gefahr stand, zum Mythos zu werden. Zur Lösung der Wert- und Normprobleme der Neuzeit und anderer Dilemmata war sie aber offensichtlich nicht in der Lage.

Das alles ist kein Gottesbeweis, setzt die Religion auch nicht endlich wieder in ihr angestammtes Recht, lässt aber doch danach fragen, ob das aus den Traktanden gefallene Christentum aufgrund seiner je neu zu interpretierenden Tradition und Erfahrung Wege aufzeigen könnte, die aus dem gefährlichen Dilemma der Neuzeit herauszuführen imstande waren.

Wie immer, Peter Berger, der scharfsinnige Beobachter der Moderne, diagnostizierte in seiner Arbeit «The Homeless Mind» von 1973 meines Erachtens zu Recht. dass die beschriebene


Erfahrung der Entfremdung des Menschen von seinen die gesellschaftliche Welt tragenden Traditionen, welche die Geschichte der Neuzeit begleitet, in einem direkten Zusammenhang mit der Privatisierung der Religion steht. 4 An die Stelle von Religion und Glaube traten — so Berger —Bürokratisierung, Technik und Industrialisierung und in ihrem Gefolge Anonymität, Orientierungsarmut und Sinnentleerung. Im Gegensatz zu der sonst seit Max Weber vorherrschenden Annahme einer immer weiter vordringenden Säkularisierung kommt Berger jedoch zum Schluss, dass die Dynamik der von den Mächten der Industrialisierung und Bürokratisierung bewirkten Sinnentleerung zu Reaktionen führen musste, die grossenteils irrationaler Art waren, weil sie sich selbst im Hinblick auf den Sachverhalt, auf den sie reagierten, nicht zureichend zu verstehen vermochten. Zu denken ist zum Beispiel an den Mythos von «Blut und Boden» des Nationalsozialismus, an den überbordenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts, aber auch an den Aufstieg des klassischen Bildungsgedankens des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Die Privatisierung der Religion 5 und ihr Verlust integrierender Kraft zeitigt sich jedoch nicht nur in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen, sondern auch im Selbstbewusstsein der abendländischen Christen, welche die Konstitution ihrer Identität und ihres Selbstwertes nicht mehr im Rahmen der Religion zu gewinnen trachten, sondern sich diese im Beruf, in der Politik, in Beziehungen oder notfalls in der Freizeitwelt zu beschaffen suchen. Der Glaube tritt da nur noch als Appendix hinzu: als kirchliche Einstellung etwa oder als persönliches Empfinden ohne notwendige Folgen für den Alltag. Der Kanon des Christlichen definiert sich folglich nicht mehr nach den Lehren der Kirche oder nach dem Evangelium, sondern eher nach «Massgabe der bürgerlichen Plausibilitäten» 6 und dient im besten Fall «als Ornament und Kulisse für bürgerliche Lebensfeiern, die privatim und gratis» 7 zur Verfügung stehen. Am Sonntag der Geschmack für das Unendliche, am Werktag das gnadenlose Prinzip der Konkurrenzgesellschaft mit dem Recht des Stärkeren, das im Grunde von niemand mehr in Frage gestellt wird. Das Ergebnis ist eine säuberliche Scheidung zweier sich gegenseitig in Frieden lassenden «Reiche». Hier ein gnadenloses Menschentum und dort die alles überwölbende Gnade. Solche Religion wird zwar niemand allzusehr enttäuschen, da sie ja im Grunde auch nichts verspricht, aber sie vermag auch keine Hoffnung zu begründen, die zum Beispiel produktiv sein könnte für neue Modelle des Lebens in der Gesellschaft jenseits des alles bestimmenden Besitzindividualismus, der Konsumorientierung und des augenfälligen Strebens nach vornehmlich persönlicher Sicherheit. Wenn es aber wahr ist, dass nur ein im Alltag anschaubares und handlungsleitendes Christentum, das überzeugende Modell gemeinschaftlichen Lebens bei sich hat, für Jugendliche interessant ist, wird eine sich als christlich verstehende Erziehung, die nicht

auf solche anschaubaren Modelle verweisen kann, trotz aller Bemühungen vieler Lehrer, Pfarrer und Eltern höchstens dazu führen, dass der Glaube zu einer Bewusstseinsstelle wird, die intellektuell behauptet zu werden vermag, nicht aber zur Grundkraft und Gewissheit eines Lebens in der Gesellschaft auf Zukunft hin. 8

2. Jugend heute

Zu Begriff und Geschichte eines umstrittenen Phänomens der Neuzeit

Der alltagssprachliche Begriff «Jugend» als Bezeichnung der Menge derer, die sich in einer bestimmten, zeitlich abgrenzbaren Lebensphase befinden, ist nicht nur ungenau, weil er aus einem «zeitlichen» (Lebensphase) einen Sachbegriff (politisch-kulturelle Kraft) macht, sondern täuscht dazuhin noch vor, sämtliche Angehörigen dieser abgrenzbaren Gruppe könnten als einheitliches Phänomen zum Objekt von Untersuchungen gemacht oder als Subjekt bestimmter Haltungen angesehen werden. 9 Jugend ist jedoch kein einheitliches, vor allem aber kein in erster Linie biologisches oder entwicklungspsychologisches Phänomen, sondern ein historisches, bestimmt aber ein soziales; ein historisches, weil Jugend als eigene und von den Erwachsenen durch wesentliche Aufgaben und Merkmale getrennte und deshalb eigenständige Gruppe eine relativ neue Erscheinung ist, ein soziales, weil Jugend als Folgephänomen des gesellschaftlichen Prozesses der Arbeitsteilung und der mit diesem für fast alle jungen Menschen verbundenen Notwendigkeit, weit über die Geschlechtsreife hinaus in altershomogenen Gruppen nachsozialisiert zu werden, verstanden werden muss.

Erst in dieser Dimension altershomogener Gruppen bildet sich ein spezifisch jugendliches Selbstbewusstsein und Verhalten. Je grösser die Zahl der altershomogenen Gruppen ist, in denen sich ein Jugendlicher bewegt, um so weniger werden sein Selbstbewusstsein, sein Verhalten, seine Vorlieben, Werte und Normen in altersheterogenen Gruppen wie der Familie oder der Gemeinde geformt werden. Es ist hier nicht der Ort, die facettenreiche Entwicklung des Phänomens Jugend näherhin zu beschreiben, aber es sollte doch ein Doppeltes deutlich herausgestellt werden:

— Der Strukturwandel der modernen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert schuf durch seine künstliche Verzögerung des Erwachsenwerdens im Rahmen einer immer länger werdenden Ausbildungsphase den geistigen und sozialen Raum, in dem sich jeder junge Mensch im anderen wiedererkennen und in der Gemeinsamkeit von Inhalten und Identifikationen mit anderen sein Dasein stabilisieren konnte.

— In der sich immer mehr differenzierenden und ausdehnenden Struktur der modernen Gesellschaft verlieren primäre Gruppen wie Familie, Gemeinde und Kirchgemeinde immer stärker den Charakter eines natürlichen Identifikationsraums. zumal

sie für die Vorbereitung auf die wesentlichen Rollen in der Gesellschaft nur noch eine marginale Bedeutung haben. Wesentlich bleiben primäre Gruppen, vornehmlich die Familie, nur noch für die Herausbildung der soziokulturellen Persönlichkeit.

Unter den genannten historischen und sozialen Voraussetzungen ist Jugend die vielgestaltige Gruppe derer in der Gesellschaft, die schon geschlechtsreif sind, aber noch nicht die volle gesellschaftliche Verantwortung in Beruf, Familie und Staat übernehmen können oder wollen. Das bedeutet, dass es «Jugendliche» gibt, die das 30. Lebensjahr, etwa als Studenten, bereits überschritten haben, und dann zum Beispiel sich selbst versorgende Hilfsarbeiter, die bereits mit 16 den Erwachsenenstatus zu übernehmen gezwungen erscheinen.

Diese vielgestaltige Jugend und ihre Gruppierungen pflegen für alle sichtbar eine durchaus vielschichtige Kultur, besitzen eigene Wertvorstellungen, die sich nicht selten hart im Raum mit den Werten der Erwachsenengesellschaft stossen, eigene Verhaltensmuster, eigene Normgefüge, Symbole, Orientierungsmuster und Formen der Verbindlichkeit. In den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang von einer Wertdifferenz, welche die heranwachsende Generation von den Erwachsenen trennt, zuweilen sogar von einem grundsätzlichen Wertwandel. 10

Nicht Ruhe und Ordnung, Verteidigung des Vaterlandes und Verbrechensbekämpfung, wirtschaftliches Wachstum und Stabilität der Währung, gutes Auskommen und soziale Sicherheit sind jetzt die Höchstwerte Jugendlicher, sondern individuelle Selbstverwirklichung, universale Teilhabe, Mitspracherechte in allen Bereichen, gesunde Umwelt, mitmenschliche Kommunikation. Persönliche, durchaus immaterielle Bedürfnisse treten an die Stelle herkömmlicher Leistungsvorstellungen und Ziele.

Erklärt wird der Wertwandel damit, dass Wertorientierungen stets die Verhältnisse widerspiegeln, unter denen eine Generation aufgewachsen ist. Kärgliche Bedingungen in der Kindheit führen zu materiellen Wertorientierungen, Überfluss zu sogenannten postmateriellen Wertschätzungen. An solchen Erklärungsversuchen mag manches zutreffend sein, zureichend erscheinen sie mir jedoch nicht. Zumindest sollten in diesem Zusammenhang Phänomene wie der Traditionsverlust, die schleichende Korrosion des bürgerlichen Sinnsystems, die Einsicht, dass Fortschritt, wie wir ihn bisher verstanden haben, Fortschritt ins Verderben sein kann, und ähnliches mitbedacht werden. Dass bei Jugendlichen auch eine spezifische Form des Narzissmus, der Selbstbespiegelung, eine Rolle spielt, sei nur angemerkt. 11 Kurzum, zu Beginn der achtziger Jahre war ein deutlich wahrnehmbarer Wertwandel vor allem bei Jugendlichen zu verzeichnen. Traditionelle Pflicht- und Akzeptanzwerte wie Fleiss, Karriere, Disziplin, Mut, Leistung, Strebsamkeit, Präzision und überkommene sozioökonomische Werte wie Sicherheit, Eigentum, Arbeit Fortschritt Wachstum Konsum

wichen Selbstverwirklichungs- und Sozialwerten: Selbstentfaltung, Selbstbestimmung, Geborgenheit, Vertrauen, Unabhängigkeit, Glück, Freundschaft, Kommunikation, Solidarität, Lebensqualität, Umwelt, Natur, Partizipation.

Seit 1986 ist wiederum Neues zu entdecken, das sogar von einem «Wertwandel des Wertwandels» 12 sprechen lässt. Eine neue Konsumwelle hat viele Jugendliche erreicht, traditionelles Leistungsdenken und ein entsprechendes Konkurrenzverhalten sind wieder unübersehbar; das allerdings nur neben früheren, durch den sogenannten ersten Wertwandel bestimmten Wünschen und Haltungen. Man könnte mit der Sinusstudie des bundesdeutschen Gesundheitsministeriums 12 von einer Wertmischung oder mit der Shell-Studie von 1985 14 von Wertverschiebungen reden. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um nicht selten unbewusste Widersprüche in der sozialpsychischen Orientierung. So begegnen uns auch in Bern Jugendliche, die nach allen Regeln der Kunst konsumieren, daneben aber durchaus mit einem alternativen, ja asketischen Lebensstil sympathisieren, oder solche, die in ihrer Grundeinstellung auf alle Sicherheit verzichten wollen, gleichzeitig aber eine soziale Absicherung durch Familie und Staat für selbstverständlich halten. Besonders signifikant zeitigen sich die beschriebenen Wertwidersprüche und Harmonisierungen aber im Rahmen von Zukunftsaussagen Jugendlicher. Befragt man sie nach ihrer persönlichen Zukunft, antworten nicht wenige positiv, etwa so:

«Ich bin jetzt 20 und bin froh, dass es mich gibt. Ich habe alles, was ich brauche: einen lieben Freund, prima Familie, einen guten Job (der auch ordentlich bezahlt ist); eben alles. Ich kann die Leute nicht verstehen, die ihr Leben wegwerfen. Kann man denn so verzweifelt sein, dass man kein einziges schönes Ziel mehr vor Augen hat?» 15

Und dann:

«Früher wollte ich eine Familie mit Kindern haben. Aber heute frage ich mich, ob es überhaupt eine Zukunft für uns Menschen gibt... Wir behandeln unsere Welt so, als ob wir noch eine zweite im Kofferraum hätten.» 16 Gute Zukunft im Privatbereich steht einem befürchteten atomaren Holocaust dem Tod des Waldes und dem Umkippen der Meere offenbar unvermittelt gegenüber.

Es ist kein Zweifel, dass diese harmonisierten Widersprüche einen Einfluss auf das Wertverhalten Jugendlicher besitzen. Ich exemplifiziere am Widerspruch zwischen Machbarkeit und Schicksalsergebenheit, der bei vielen Jugendlichen auffällt: «Das ist doch alles machbar» äussert ein Jugendlicher in einer Diskussion über Gefahren der Atomindustrie. Er redet wie ein Vertreter der Elektrizitätsindustrie. Eine Stunde später hört man den gleichen Jugendlichen in einer anderen Situation sagen: «Da kann ich ja doch nichts machen; in der Familie nicht, in der Schule nicht und auch im Betrieb nicht.» Ähnlich liegen die Dinge bei der Sinnsuche im individuellen Bereich.

Viele Jugendliche suchen in der kleinen Gruppe Wärme, Nähe und Intimität, gleichsam als Schutz der eigenen Individualität gegen gesellschaftliche Anonymität und Kälte. Aber offenbar reicht das nicht aus. Deswegen suchen die gleichen Jugendlichen auch nach fundamentalen Sicherheiten in der Welt des vermeintlich Objektiven, in Wissenschaft und Kunst, in der Wirtschaft und auch in der Religion. Selbstbehauptung und Selbstverlust, Machbarkeitsglaube und Schicksalsergebenheit, Individuierung und Suche nach objektiver Sicherheit. Ein widersprüchliches Bild. Sagen wir es mit einem Wort eines 17Jährigen Mädchens:

«Ich möchte still sein;
doch es schreit in mir.
Ich möchte lächeln,
doch mein Mund gehorcht nicht.
Ich will die Hand heben,
doch sie zittert.
Ich will weglaufen,
doch die Füsse sind zu schwer.» 17

Es wäre jetzt notwendig, das Bild vom Wertwandel des Wertwandels zu erklären, die gesellschaftlichen und innerpsychologischen Gründe abzuwägen und zu qualifizieren; die Zeit fehlt dazu.

3. Zukunft

Etymologische, theologische und jugendkundliche Bemerkungen

Das deutsche Wort «Zukunft» ist zweideutig. Zuerst bezeichnet es das, was zukommt, den «adventus», dann aber auch das im Entstehen Begriffene, das «futurum». In dieser zweiten Bedeutung ist Zukunft unter anderem die in einer Person angelegte Entfaltungsmöglichkeit, die sich realisiert; etwas, was sich von der Vergangenheit her durch die Gegenwart hindurch auf ein morgen hin verwirklicht. In Massen ist solche Zukunft voraussehbar, planbar und vielleicht sogar machbar. Menschlicher Einsatz ist ihr gegenüber sinnvoll. Wir denken an Erziehung, Ausbildung und, was die gesellschaftliche Entwicklung anbetrifft, an Wissenschaft, Technik, politische und private Aktion. Anders ist das bei dem «adventus»: Ein Mensch, der mich liebt, ein Schicksalsschlag, der Augenblick, zu dem ich sagen möchte: «Verweile doch, du bist so schön», ein plötzlicher Erfolg oder unerwartetes Scheitern, eine Entscheidungssituation. Da ist alles kontingent, zufällig. Machbar ist wenig; nur Reaktionen sind möglich. Was die Theologie anbetrifft, hatte die Zukunft beider Spielarten um die Mitte der sechziger Jahre Konjunktur. 18 Es war die Zeit kurz vor dem gesellschaftlichen Aufbruch der Jugend zu einer Erneuerung von Staat und Institutionen der Gesellschaft. Das Alte und das Neue Testament wurden mit Eifer nach den Implikationen von Hoffnung, von gelungenem Leben, Gerechtigkeit und Freiheit durchforscht. Überall konnte man lesen, dass christliche Hoffnung eben nicht, wie manche nicht aufhörten zu behaupten, das Ende sinnvollen Fortschrittes bedeute oder gar eine Weise unbilliger Vertröstung, sondern Inspiration für den Einsatz in allen Bereichen des Lebens. «Der Christ geht auf

die Zukunft Gottes zu, indem er auf seine innerweltliche Zukunft zugeht.» 19

Inzwischen ist es ruhiger geworden um Zukunft und Hoffnung, und das nicht nur in der Theologie, sondern auch bei der Jugend. An die Stelle des Aufbruchs zu Neuem und der mitreissenden Bilder von Freiheit, Gerechtigkeit und umfassender Teilhabe sind schon in den siebziger Jahren nicht selten Schreckensvisionen von einer rauchenden Erde oder einer in Kälte erstarrten Welt getreten. Nicht mehr das «Prinzip Hoffnung» eines Ernst Bloch, 20 der die Jugend als symbolisches Subjekt von Sehnsucht, Hoffnung und Zukunft verstand, von Träumen des Noch-nicht-Seienden und als Trägerin einer Praxis von Hoffnung auf das «Inland der Humanität», bestimmte jetzt Fühlen und Denken, sondern eher eine Zukunft als sinnleerer Raum oder als Ort blosser industrieller und bürokratischer Wiederholung ohne Sinnperspektive. Das Träumen von «Luftschlössern, aus denen die Paläste von morgen wachsen», war fragwürdig geworden.

Genau da ist aber der Ort, wo von neuem darüber nachgedacht werden sollte, was Hoffnung ist und was sie begründet. Doch wer klärt uns da auf? Etwa das alte Hellas, das von Zeus erzählt, der den Menschen die verführerische Pandora schickte? Sie trug, wie man weiss, eine Büchse voller Geschenke bei sich. Doch als sie den Deckel lüftete, flogen alle Herrlichkeiten weg, und den Menschen blieb allein die Hoffnung zurück, eine, wie sich zeigen sollte, durchaus zweideutige Gabe der Gottheit; verführend und irreleitend ebenso wie stärkend und ermutigend. Und Thukydides berichtet von den Bewohnern Athens, dass sie die Hoffnung nur dann für kraftvoll zu halten vermochten, wenn den Hoffenden auch die Kräfte und Mittel zur Verfügung standen, die Hoffnung zu verwirklichen.

Oder müssen wir doch eher in Israel in die Schule gehen, das in seiner Geschichte auch dann nicht der Verzweiflung anheimfiel, wenn es eigentlich nichts mehr zu hoffen gab? «Und wenn ich schon wandelte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück», singt der Psalmist. Nicht auf Zuhandenes schaut Israel, sondern auf die Verheissung dessen, der Himmel und Erde nicht darum gemacht hat, um sie zu zerstören, sondern um alles zu einem guten Ende zu führen. Diese Hoffnung erstarb, wie wir wissen, auch nicht im Holocaust der Konzentrations- und Vernichtungslager.

Oder ist es die christliche Tradition von der Gottesherrschaft und der Auferstehung der Toten, die Erkenntnis schafft? Eine Antwort ist schwierig, aber deutlich ist, dass die Alten offensichtlich mehr Sinnvolles zum Problem zu bieten hatten als etwa der Fortschrittsglaube der Neuzeit oder die Fülle der Ersatzorientierungen und kurzfristigen Selbstzweckbestätigungen der Gegenwart. Dies alles hat vor allem auch bei Jugendlichen an Vertrauen eingebüsst, übrigens ebenso — das sollte nicht verleugnet werden — wie die eschatologische Botschaft vom Reich aus der jüdisch-christlichen Tradition, die für das geschlossene Welt-


und Wirklichkeitsverständnis der Neuzeit nicht nur für Jugendliche schwer verständlich geworden zu sein scheint. Ist dann im Blick auf Zukunft nur noch die Alternative achselzuckender Resignation sinnvoll, oder dann das «Fresset und saufet, denn morgen seid ihr tot», wie Martin Luther ein Zitat des Propheten Jesaja übersetzt hat?

Wie immer, eine Wendung hin zu einer Zukunft öffnenden Hoffnung scheint derzeitig nicht in Sicht, auf keinen Fall ist sie aber durch einen heroischen Entschluss zu beschaffen. Und dennoch gilt: Wo die Hoffnung stirbt, stirbt die Welt. An dieser Stelle fragt sich der Religionspädagoge, was er als akademischer Lehrer, als Vater und als einer, der immer wieder bei Jugendlichen in den Schulen unserer Stadt unterrichtet, jungen Menschen sagen soll, die ihre Hoffnung entweder ganz individualistisch auf sogenannte immaterielle oder auch materielle Werte setzen, die im Clinch liegen mit den geltenden Normen der modernen Industriegesellschaft oder aber überhaupt keine Perspektiven besitzen und in den Tag hineinleben.

Was sagen wir dem Jugendlichen, der uns im Seminar, im Konfirmandenunterricht oder in einer Schulklasse mit der sich beschleunigenden Verknappung der Ressourcen unserer Erde konfrontiert, der uns seine Angst vor einer weiteren Eskalation der Folgeschäden der Umweltbelastung und -zerstörung bekennt, der die ungerechte und ungleiche Verteilung von Produktion und Konsum im Weltmassstab, aber auch im nationalen Binnenraum anprangert, oder der seine lähmende Hilflosigkeit gegenüber einer Zukunft offenbart, die ihm als abschreckender Ort schon jetzt präsenter Probleme erscheint?

Neben diesen eher globalen Problemen gibt es auch noch die sogenannten kleinen Fragen, die an uns herangetragen werden: Werde ich die Lehrstelle meiner Wahl bekommen? Stimmt das eigentlich, dass der Beste oder die Beste auch die grösste Chance haben, einen Arbeitsplatz zu bekommen, oder sind es nicht viel eher andere Faktoren, welche da entscheidend sind: Die Beziehungen der Eltern, der Name...

Ideologien vom ständigen und alle Probleme lösenden Wirtschaftswachstum oder von sozialstaatlich zu organisierendem Fortschritt verfangen da in der Regel nur bei wenigen, aber auch die Prophezeiungen ehedem revolutionärer Theorien haben kaum eine Chance, akzeptiert zu werden. Das gilt auch für Problemlösungsangebote unserer Politiker und Behörden. Zu halbherzig, durch partielle Interessen blockiert und schleppend erscheint da alles.

Angesichts solcher Fehlanzeigen versuche ich es trotz allem noch einmal mit der Tradition, die der Theologie zu bedenken aufgetragen ist. Ob sie noch unerkannte Wege weist, die in die Zukunft führen könnten?

4. Theologische und pädagogische Erwägungen zum Problem Zukunft und Jugend

Jesu Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft 21 lebte aus der Gewissheit,

dass die Überwindung aller lebensfeindlichen Mächte nahe bevorstand. Die Zukunft wird den Sieg Gottes bringen; Gerechtigkeit, Frieden als gelungenes Leben, Einklang mit Gott und den anderen und Freiheit. Gegenüber dem zeitgenössischen Judentum fehlen alle nationalistischen Töne. Auffallend auch das Fehlen von spektakulären Beschreibungen des Kommenden. Nüchternheit ist es, was die Sprache Jesu bestimmt: «Seid bereit, denn ihr wisst nicht, zu welcher Stunde der Menschensohn kommt» (Mt. 24, 44). Die Gottesherrschaft ist für Jesus aber nicht nur etwas noch Ausstehendes, sondern sie ist schon jetzt da. «Die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein...» (Mt. 11, 5), «den Armen wird die frohe Botschaft von der Gottesherrschaft» verkündigt — und das jetzt. Sind das nicht wahrhaftige Zeichen der Nähe Gottes? Denen, die seinem Wort Glauben schenken, seien es Sünder oder Fromme, Randständige oder Integrierte, sagt er schon jetzt die unbedingte Güte Gottes zu und feiert mit ihnen das bevorstehende Heil gleichsam auf Vorschuss.

Hoffnung oder das Erhoffte ist dabei für ihn nicht der Lohn für gehabte Bemühungen, sondern zuerst Hingabe an die Güte des Vaters und darin Vertrauen. «Sorget nicht», heisst auch im Blick auf die Zukunft die Devise.

Was im übrigen zum kommenden Reich und zur Hoffnung zu sagen war, äusserte Jesus in Gleichnissen, in metaphorischer Sprache also, in Bildern, die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern in gewisser Weise erst konstituieren. Denken wir zum Beispiel an das Gleichnis von den Gärtnern im Weinberg (Mt. 20), in dem erzählt wird, dass der Herr des Weinbergs allen, sowohl denen, die einen langen Tag, als auch denen, die nur wenige Augenblicke gearbeitet haben, den gleichen Lohn gibt. Offenbar bemisst sich Lohn bei Gott nicht nach Leistung, sondern nach dem Bedürfnis des Arbeiters oder nach der Güte des Herrn.

Wer Ohren hat zu hören, der hört. «Das Verstehen... ist (eben) kein Vorgang, der innerhalb jener Alternative von Wort und Tat lokalisierbar wäre, ... (sondern) ein Vorgang, der immer auch handgreifliche Folgen hat. Verstehen gibt es nicht anders als in der verständnisvollen Tat.» 22

Wir wissen, wie das weitergegangen ist. Das ersehnte Reich der Gerechtigkeit und gelungenen Lebens ist nicht gekommen, aber die christliche Gemeinde hat nach Ostern das Vertrauen zu dem Gott bewahrt, der Tote lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein ruft und ist von Ostern her immer wieder freigeworden von Angst und Sorge für die Liebe, die nicht das Ihre sucht.

Aber was heisst «Reich Gottes», was «Leben» angesichts des Todes, der Ungerechtigkeit und der Angst? Sind das für Jugendliche nicht nur schillernde Bilder, die über eine wenig überzeugende Wirklichkeit hinwegtrösten sollen; ebenso illusionär wie die Rede vom neuen sozialistischen Menschen? Solche Fragen angemessen zu beantworten ist schwierig, aber eines steht fest: Das Reich, das Jesus ansagte,

wirkte für seine Nachfolger nicht als Vertröstung, sondern ragte gleichsam in die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens hinein. Ihm entsprach nicht der sehnsüchtige Blick zum Himmel, sondern geglaubte und gelebte Liebe mitten im Hass, Hoffnung im Scheitern, Heil im Unheil.

Vieles blieb und bleibt auch jetzt noch zu fürchten. Der Hoffende wird ja nicht zum Zuschauer eines sich von selbst entwickelnden Prozesses zum Guten hin, weil für die Hoffnung Gott nur so da ist, wie er für den Gekreuzigten da war: «sub contrario tecta», unter dem Gegenteil versteckt. «Gerade in der Vergegenwärtigung des Kreuzes Jesu hält der Christ nun auch dem Nichtigen, Leeren-Sinnwidrigen, dem Tode stand, ohne hier deutend zu bagatellisieren.» 23 Lassen Sie mich zum Schluss einen möglichen unterrichtlichen Prozess skizzieren, den ich mir für 16-bis 18jährige Schüler vorstellen kann: 24 Für solche, die der Kirche bereits den Rücken gekehrt haben, für intellektuell an Religion interessierte und vor allem auch für solche, die mit Religion Erfahrungen gemacht haben, welche aus ihnen neue Menschen machten. Dabei verzeihen Sie es mir, dass ich es unterlasse, die vom Didaktiker zu beachtenden Bedingungen und Voraussetzungen von Unterricht im einzelnen zu verifizieren, zum Beispiel den Stand der Entwicklung des kognitiven, moralischen und religiösen Urteils, die milieu- und gesellschaftsbedingten Einstellungen und Haltungen der Jugendlichen, den Kenntnisstand usw.

Verzichten muss ich auch darauf, meine eigene Theologie vor Ihnen auszubreiten und die Vermittlung von Tradition und Situation methodisch zu verantworten. Dazu fehlt die Zeit.

Ziele eines solchen Prozesses zum Fragenkreis «Zukunft und Hoffnung» sind:

— Schüler werden sich ihrer eigenen Hoffnungen, ihrer Ängste und Befürchtungen bewusst

— Sie reflektieren ihre Einstellungen und Haltungen angesichts der Zukunft und fragen nach der Bedeutung des Kommenden für ihr jetziges Leben, Handeln und Denken

— Sie lernen Inhalte und Vorstellungsweisen jüdischer und frühchristlicher Hoffnung und der Verkündigung Jesu kennen

— Sie erkennen, dass Jesu Hoffnung, wie sie etwa in den Gleichnissen von der «selbstwachsenden Saat» (Mt. 4, 26-28) oder von den «Gärtnern im Weinberg» (Mt. 20, 1-16) begegnet, Zuversicht zusagen und zum Handeln motivieren

— Sie werden auf Taten der Hoffnung in Gegenwart und Zukunft aufmerksam

— Die Schüler lernen Hoffnung als Kraft gegen die Angst kennen und messen an dieser Form von Hoffnung ihre eigenen Vorstellungen und Befürchtungen in Sachen Zukunft.

Der Weg des Lernprozesses geht von einer Sensibilisierung für ein offenes Problem über ein Bewusstmachen und sprachliches Artikulieren eigenen Denkens zu einer Konfrontation mit einem Entwurf von Hoffnung und Zukunft, der sich im Leben von wirklichen

Menschen bewährt hat, aber der heute unter viel Schutt von Reflexion und Unverständnis, auch in der Theologie, verborgen scheint.

In der Mitte des geplanten Lernprozesses sehe ich eine Behandlung des Gleichnisses «von der selbstwachsenden Saat» (Mk. 4, 26ff.).

«Und er sprach: Mit der Gottesherrschaft ist es so: Ein Mensch hat Samenkörner auf das Land geworfen; (danach) legt er sich schlafen und steht auf, Nacht für Nacht und Tag für Tag, und die Saat sprosst und wird gross, während er sich nicht darum kümmert. Von selbst bringt die Erde die Frucht hervor, zuerst den Halm, dann die Ähre und schliesslich den vollen Weizen in der Ähre.»

Das Verständnis dieses Gleichnisses entscheidet sich an der Situation, in der es zuerst erzählt worden ist. Stammt es aus der Auseinandersetzung Jesu mit jüdischen Eiferern, welche das Kommen des Reiches Gottes durch gewaltsame Aktionen gegen alle Gesetzlosigkeit und alles Fremde herbeizwingen wollten, liegt alle Betonung auf dem «von selbst» des Wachstums. Das Reich kommt «von selbst», wenn es an der Zeit ist. Wenn die Saat gesät ist, hat der Landmann das Seine getan, die Erde tut nun das Ihre. Es ist jetzt Zeit, gewährte Zeit, die zwar im Licht der kommenden Ernte steht, aber für die nicht rastloses Tun die Devise ist, sondern Gelassenheit und Vertrauen, freie Zeit des Glaubens und der Liebe. Was Gott begonnen hat, wird er auch hinausführen. Anhand eines durchaus «profanen» Stoffes hat Jesus hier eine Sicht einer bestimmten Situation befördert, die von anderen durchaus anders verstanden wurde. Seine Betrachtungsweise wird aber in dem Moment bewusstseinsändernd wirksam, wenn sich die aktuelle. Situation des Hörers und die Erzielung miteinander verschmelzen. Damit sind wir beim theologisch «Elementaren» des Textes, das eindeutig in der von Jesus propagierten Weise des Hoffens auf Gott zu sehen ist, die jenseits von Resignation und aufgeregtem Aktivismus ihren Ort hat.

Welche jugendlichen Erfahrungen könnten es sein, die mit der Botschaft des Gleichnisses in Beziehung gesetzt zu werden vermögen?

Warten, Harren und Hoffen sind für Schüler des in Frage stehenden Alters bekannt. Sie kennen Ungeduld, gespanntes Harren, Unrast, Zweifel, ohnmächtige Wut; vor allem aber die Ungeduld: Sie will nachhelfen, auch da, wo es nichts zu helfen gibt; wie der Löwe im Käfig wandern wir ruhelos umher; zuweilen schreien wir los, verfluchen den Säumenden, grübeln, ob er wohl den Termin vergessen, die Strasse nicht gefunden hat.

Warten kann auch noch anders aussehen. Wir denken an Jugendliche, denen der Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt einfach zu lasch gehandhabt wird, Veränderungen, die dringend notwendig sind, böswillig verzögert zu werden scheinen. Und warum müssen eigentlich Millionen von Menschen verhungern? Warum gibt man das Geld für Waffen und nicht für Sinnvolleres aus? — Wut, Zorn, Ohnmacht — und dann der Entschluss: Es

muss etwas geschehen. Der Weg zur Gewalt ist nicht weit.

Noch eine andere Weise des Wartens zeigen die, welche uns in den Unterführungen des Bahnhofs «Wachttürme» anbieten und nach den Zeichen des Endes am Himmel und auf der Erde fragen, aber keine «Zeit» haben. Alle diese Weisen sind unserem Text suspekt. Gelassenes Vertrauen und geduldige Tat für das Kommende, dessen «Gesetz» bekannt ist, die Liebe nämlich, heisst die Alternative; Phantasie und Wagnis im Lichte des Kommenden. Was heisst das für Jugendliche, wie wir sie beschrieben haben, besonders für solche, die sich nicht mit kurzfristigen Verdrängungen oder Ersatzerfüllungen (Geld für Ferien, gelungenes Wochenende, ein neues Motorrad) zufriedengeben?

Was heisst da «Zeit» gewährt bekommen für das «Jetzt»?

An dieser Stelle gilt es, Gedanken darüber anzustellen, was an der Zeit ist. Wie kann dem Willen Gottes, der Leben und volles Genüge für alle fordert, gerade jetzt und von uns Genüge getan werden? Wie bewähren wir unser Vertrauen heute? Was ist politisch und gesellschaftlich dran und muss in Angriff genommen werden?

Der Antworten wird es viele geben, aber alle werden im Horizont des Vertrauens und der Liebe bewährt werden müssen.

Möglicherweise wird es an dieser Stelle zum Streit in der Gruppe kommen. Weil wir aber das gute Ende durchaus nicht beschaffen müssen, sondern «Vorletztes» zu bedenken haben, sollte daraus keine unversöhnliche Gegnerschaft entstehen. Vielleicht kommt es auch zu einem Entschluss, gemeinsam etwas Mutiges zu wagen, das an der Zeit erscheint.

Der Weg des Lernprozesses ist deutlich. Er geht vom Sprachgewinn für das eigene Hoffen, für Zorn und Wut über eine Begegnung mit Texten der Hoffnung, welche Erfahrungen früherer Menschen aufbewahren, zu neuem Fragen und vielleicht sogar zu Entschlüssen für Neues, für eine Zukunft, die schon beginnt. Dabei geht es um eine Erziehung zur Verantwortung, nicht um Befehlsausgaben. Kommt ein erkennbarer und identifikationsfähiger Lebensentwurf exemplarischer Erwachsener hinzu, sehe ich sogar eine Chance, dass Hoffnung nicht nur ein Bewusstseinsinhalt bleibt, sondern zur Grundkraft gelebten Lebens werden kann.

5. Nachbemerkungen zum Problem Tradition und Situation

Wir begannen unsere Darlegungen mit einer Skizze des Traditionsabbruchs zu Beginn der Neuzeit, der kein Heiliges und auch kein Tabu unbehelligt liess und der gegen Ende der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts nur noch Utopisches des Bedenkens wert erachtete. Der Gedanke, dass mit der Tradition auch die Wurzeln unseres Daseins vernichtet werden könnten, galt so für lange Zeit als Zeichen von Rückständigkeit. Danach entdeckten wir Jesu Botschaft da, wo Neues und Überkommenes in dialektischer Spannung zueinander stehen. Vielleicht ist es

Friedrich Schleiermacher gewesen, der Jesu Botschaft im Blick auf das uns bewegende Problem von Jugend und Zukunft am besten verstanden hat, wenn er in seiner Vorlesung zur Theorie der Erziehung aus dem Jahre 1826 schreibt: 25

«Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden, dass sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er eben ist, so würde dadurch nichts anderes geleistet als dieses, die Unvollkommenheit würde verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt werden...

Wollten wir das Entgegengesetzte annehmen und, ausgehend von dem Bewusstsein der Unvollkommenheit, sagen, das Ziel der Pädagogik sei, dass jede Generation nach vollendeter Erziehung den Trieb und das Geschick in sich habe, die Unvollkommenheiten auf allen Punkten des gemeinsamen Lebens zu verbessern: dann kommen wir wieder in das Unbestimmte hinein, von dem fern zu bleiben unsere Aufgabe ist... Dazu kommt noch dieses, dass diese Formel viel Gefährliches in sich schliesst. Denn wenn man es darauf anlegt, die Jugend zu lauter Reformatoren zu erziehen: so steht das wieder in dem grellsten Widerspruche damit, dass sie selbsttätig in das Bestehende mit hineingezogen werden und vielleicht auf die gefährlichste Weise eingreifen (würde).

Wir müssen also beides miteinander vereinigen...

So wollen wir also die Formel stellen: Die Erziehung soll so eingerichtet werden, dass beides in möglichster Zusammenstimmung sei, dass die Jugend tüchtig werde, einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen.»

Hier fehlt nur noch ein Wort zur Kraft, welche diese Dialektik erst zum Spielen bringen kann.

Ein Moderner, der polnische Philosoph L. Kolakowski, hat die bei Schleiermacher sichtbare Dialektik noch anders beschrieben:

«Hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in Höhlen befinden.»

Tradition und Emanzipation sind, so meinen wir, keine sich ausschliessenden Gegensätze, sondern sich ergänzende Prinzipien des Lebens. Sie können allerdings nur dann ihren Sinn entfalten, wenn sie in Spannung zueinander bleiben. 26 Das scheint mir im Lichte der Botschaft Jesu möglich. Jesus sagte zwar das Kommen der Gottesherrschaft als unmittelbar bevorstehendes an, aber er zerstörte deshalb weder die ihn umgebende Gesellschaft noch riet er zur Gewalt, sondern rief zur Nachfolge auf, die ihren Grundsatz in der sogenannten «Goldenen Regel» der Bergpredigt besitzt:

«Alles nun, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun, so tut auch ihr ihnen.» (Mt. 7, 12)

Dazu ist jetzt Zeit!

In diesem Sinne muss Erziehung als religiöse Erziehung in christlichem Kontext die Selbstverständlichkeiten unserer Zeit zu denen Sicherheitsbesessenheit

heit ebenso gehört wie Resignation und Flucht, in Frage stellen, aber auch Gelegenheit dazu geben, die Angebote der christlichen Tradition im Feuer der Fragen und Zweifel unserer Schüler zu testen. Wer nur nach einer Seite hin denkt, nach der Seite der Tradition etwa oder der radikaler Emanzipation von allem Herkommen, der fällt nicht nur aus der Dialektik von Tradition und Geist, sondern trägt auch Schuld daran, dass religiöse Erziehung entweder unter der Last des Vorgestrigen zugrunde geht oder aber mit den Flügeln des Übermorgen heute noch bestehende Lebensmöglichkeiten zerstört, ohne die Zukunft zu gewinnen. In beiden Fällen können Theologie und Pädagogik den nachwachsenden Generationen keinen Dienst tun.

So heisst die Devise weder «Tradition» noch «Emanzipation», sondern «Gott ist treu und darin Grund der Hoffnung». Bewährt wird solche Hoffnung im Einsatz für das, was heute Not wendet.

Was das für unsere Erziehungs- und Bildungsinstitutionen in Bern bedeutet, ist nicht nur der Religionspädagogik als Disziplin zwischen den Fakultäten zu bedenken anheimgestellt, sondern allen Fakultäten und Disziplinen, der ganzen Universität. Anmerkungen: