Der Traum an der Grenze
Zur literarischen Phantasie in der Schweiz
«In dreams begins responsibility.» W B. YEATS
Die Phantasie ist unteilbar. Ob sie in Künstlerinnen und Künstlern wirkt
oder in Politikern und Politikerinnen — es ist stets die gleiche unberechenbar-ungestüme,
zwielichtige Energie. Erst die konkrete Arbeit, mit der sie
sich verbindet, schafft die Unterschiede. Die erfinderische List der Phantasie
wohnt genauso in den grossen Menschenfreunden, die das Elend bekämpfen,
wie in den berühmten Ausbrechern, die aus jedem Gefängnis
abhauen. Das Rätsel des plötzlichen Einfalls, dem derjenige, der ihn gehabt
hat, so verdutzt gegenübersteht wie alle andern, prägt die Geschichte der
Naturwissenschaften nicht weniger als die Geschichte der Literatur. Ein
erfolgreicher Taschendieb bedarf der gleichen schöpferischen Imagination
wie ein erfolgreicher Finanzminister —die moralische Differenz steht auf
einem andern Blatt und wird von den hiefür eingerichteten Lehrstühlen
abgeklärt.
Die Erforschung der Phantasiearbeit und ihrer Strukturen kann deshalb
unter Umständen Aufschluss geben über Dinge, die dem vordergründigen
Gegenstand fernliegen. Aus dieser Vermutung frage ich hier nach der
spezifischen Beschaffenheit der literarischen Phantasie in unserem Land.
Ich gehe aus von einem auffälligen Phänomen. Tatsache ist, dass die
unbestrittensten Spitzenwerke der Literatur der deutschen Schweiz geprägt
sind von der Situation dessen, der aus der Fremde, aus langen Jahren der
Fremde heimkehrt und nun in ein dramatisches Verhältnis gerät zur Heimat
und zu den Einheimischen. Gotthelfs mächtiger Durchbruchsroman, der
«Bauernspiegel», der alles Romanschreiben in diesem Land begründet hat
und bis auf den heutigen Tag prägt, ein Buch, entstanden zugleich mit dieser
Universität und aus der gleichen politischen Leidenschaft heraus, ist von
dieser Gegebenheit gezeichnet wie Kellers «Grüner Heinrich». Und von
Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» gilt es genauso unübersehbar wie
von Max Frischs «Stiller». Daneben findet sich eine erstaunliche Zahl
bedeutender Arbeiten, die der gleiche inspirative Stachel treibt: von Spittelers
«Imago» bis zu Albert Bächtolds «De goldig Schmid» und Jakob
Bührers «Sturm über Stifflis», von Inglins «Wendel von Euw» bis zu Paul
Nizons «Untertauchen», von Urs Widmers «Schweizer Geschichten» bis,
in jüngster Zeit, Urs Jaeggis «Soulthorn» und Thomas Hürlimanns «Der
Gesandte». Der Heimkehrer als Gegenstand des Erzählens vernetzt sich
dabei stets bald mit dem Heimkehrer als Erzähler. C. F. Meyers Armbruster
im «Heiligen» ist ein Berichterstatter dieser Art und Kellers Pankraz, und in
Adolf Muschgs elegantem Erstling, «Im Sommer des Hasen», sitzt der
heimgekehrte Erzähler nicht anders in der helvetischen Beiz als einst
Gotthelfs Reisläufer Meiss, und während er da von japanischen Gärten und
Liebesnächten hinter kühlen Papierwänden schreibt, knallt es rings um ihn
dumpf und vaterländisch auf die Jassteppiche. Mit offenem Mund vernimmt
der Gefängniswärter Knobel die Lügengeschichten Anatol Stillers,
und vor ähnlich offenen Mündern spinnt Inglins Chlaus Lymbacher sein
blinkendes Geflunker — bis man ihm auf die Schliche kommt und den
Heimgekehrten wieder vertreibt, zusammen mit dem Ärgernis seiner Phantasie.
Nun geht es mir hier keineswegs um das statistische Auflisten eines
literarischen Motivs. Ich weiss gut genug, wie viele wohlgeratene Bücher es
gibt, in denen nie einer über die Grenze nach Hause kommt. Was mich
beschäftigt, sind vielmehr die Fragen, die sich aus der Häufigkeit des
Themas und seiner Inspirationskraft erst ergeben. Wir stehen vor einem
Erlebnisfeld, das seine eigene Dynamik hat und dessen Voraussetzungen
die nähere Betrachtung verdienen.
Die Geschehnisse sind vielfältiger, als die geläufige Meinung es nahelegt.
Diese nämlich operiert immer wieder mit dem Begriff der «Enge», der
«engen Schweiz», wo ein sensibler Mensch binnen kurzem erstickt und nur
Holzköpfe überleben. Nach diesem Muster müsste die Dramaturgie der
Heimkehr in der Literatur unausweichlich zusammenfallen mit der Pathogenese
einer Asphyxie. Das gibt's, aber es ist nicht alles. Es gibt es
allerdings schon seit langer Zeit. Carl Spittelers Roman «Imago» aus dem
Jahr 1906, diese witzig-abgründige, anstössig narzisstische Männerstudie
vom heimgekehrten Intellektuellen in der Kleinstadt, entwirft allein schon
in ihren ersten paar Kapitelüberschriften die fatale Kurve: «Die Heimkehr
des Richters» —«Eine schlimme Enttäuschung» —«In der Hölle der Gemütlichkeit».
Und wenn dieser Held seinen Landsleuten gegenüber loslegt,
nimmt er alles vorweg, was später in Ludwig Hohls «Notizen» stehen wird
und in Frischs «Stiller» und schliesslich in all den nur noch epigonalen
Schweiz-Beschimpfungen der letzten zehn Jahre:
«Was für ein Gegensatz! (...) Draussen in der Fremde: offene Arme
(...); hier in der Heimat: engherzige Nörgelei (...) Ich will (...) euch die
Pharisäermaske herunterreissen (...) Eure <Tugend>? Ein Mundstück, um
den Nebenmenschen zu verlästern. Eure <Offenheit>? Ein (...) Vorrecht,
dem Nächsten Schnödigkeiten anzuwerfen (...). Eure <Gemütlichkeit>?
Egoismus in Herdenformat, schafwollene Oberhautanwärmung (...). Eure
Familienseligkeit (...)? Wirf ein Erbschäftlein dazwischen und sieh dann
die Liebe! Eure Musik? O ihr jauchzenden Eiszapfen! Eure Bildung (...)?
Wenn man euch zur Rechten die Tür zum Paradiese auftäte und zur Linken
einen Vortrag über das Paradies ankündigte, ihr würdet sämtlich am Paradies
vorbei in den Vortrag laufen. <Interessant, interessant!>»
Das ist er, durchgeformt und ausgebaut, der böse Blick dessen, der über
die Grenze zurückkam. Auf ihn bezieht sich Ludwig Hohl ausdrücklich,
wenn er schreibt, dass die «Hässlichkeit» der Schweizer —er nennt sie einen
ihrer «charakteristischen Züge» — «nur zu erkennen» sei, «wenn man aus
dem Ausland kommt; und zwar nach so langem Aufenthalt, dass das Auge
neutralisiert wurde.» Und er fügt gleich noch an, dass zu den Zehn Geboten
der Schweiz vor allem der Satz gehöre: «Lass dich nicht gelüsten nach
deines Nachbars Geist.»
Man kann aus den unterschiedlichen Gestaltungen durchaus ein spezifisches
Heimkehrer-Bewusstsein herausarbeiten. Es ist geprägt von der Erfahrung
der Grenze. Das Wissen um die Grenze des Landes, und was sie
bedeutet und wovon sie trennt, geht durch Leib und Seele. Und dieses
körperhafte Bewusstsein der Grenze ist nun nicht nur die Eigenheit einiger
literarischer Figuren, sondern es ist die eigentliche Produktionsbedingung
für das Schreiben in der Schweiz. Das Bedürfnis, den Heimkehrer an der
Grenze zu zeigen, ihn den Grenzübergang erträumen oder erinnern zu
lassen, ihn mit seinem «neutralisierten Auge» den Einheimischen entgegenzuschicken,
ist nur eine Konsequenz aus dieser umfassenderen Voraussetzung.
Falsch jedoch wäre es, aus den genannten Zeugnissen nun den Schluss zu
ziehen, die Dramaturgie der Heimkehr sei unausweichlich ein Weg in die
«Hölle der Gemütlichkeit», wo man nur noch ersticken oder toben kann. Im
grössten Welterfolg unserer Literatur wird die Erlebniskurve der Heimkehr
ebenfalls wie selbstverständlich zum Schlüsselereignis, aber dies führt
nicht zur Asphyxie, sondern, im Gegenteil, zum erlösenden Aufatmen, als
wäre aller Sauerstoff der Welt hier versammelt. Der Gang über die Grenze
wird zum Weg in eine mutterhafte, schosswarm umfangende Geborgenheit.
Und dies verdeutlicht sich symbolisch, dass es eine Art hat. Ein kleines
Holzhaus und darin eine tiefe, dämmrige Nische und in ihr wiederum ein
Bett in Gestalt einer weichen, mächtig gehäuften Masse, wo man, heimgekehrt
aus der weiten Welt, selig versinkt:
«Da (...) war das Bett schon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und
duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darüber hatte
der Grossvater ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi
legte sich mit grosser Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes
Jahr lang nicht geschlafen hatte. (...) Sein grosses, brennendes Verlangen
war gestillt worden: es hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen
gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der
Alp.»
Man komme jetzt nicht gleich mit «Kitsch» und «Trivialität». Was wären
wir nicht für traurige Gestalten ohne unsere verschwiegenen Bestände an
inwendiger Trivialität! Das Buch der Johanna Spyri, in dem sich Klischee
und Genialität so seltsam verbinden, markiert als bedingungslose Erlösungslegende
den Gegenpol zu den radikalen Erstickungsgeschichten. In
dieser Gegensätzlichkeit waltet die Dialektik des Mutterschosses, und sie
wird, als Erlebnisstruktur, auf das Ganze des Landes projiziert. Der eine
gerät, kaum ist er über die Grenze, in die Seligkeit des «ozeanischen
Gefühls», den andern erfasst die Beklemmung der Ungeborenen beim
Einsetzen der Presswehen. Im voraus das eine als wahrhaftig und das andere
als verlogen zu bezeichnen, geht nicht an. Entscheidend ist vielmehr, wie
die Erfahrung im Einzelfall begründet, wie sie legitimiert wird. Wenn
Ludwig Hohl alle Schweizer als hässlich bezeichnet, ist das genauso platt
wie die Tatsache, dass es auf Heidis Alp nie regnet.
In der Dramaturgie der Heimkehr sind die kleinen Einzelheiten oft bedeutender
als die pauschalen Ergebnisse. Ein Beispiel ist Ulrich Bräker, der
Arme Mann im Toggenburg, die brüderlichste Gestalt unserer Literatur.
Auch er war ein Heimkehrer und wurde darüber zum Autor. Die Beschreibung,
wie er aus den friderizianischen Kriegen zurückkehrt, in die man ihn
tückisch verkauft hat, ist unschätzbar in ihrer sittlichen Genauigkeit. Auf
den letzten Hügeln über seinem Toggenburg überschwemmt ihn das Glück
der Geborgenheit. Da unten, weiss er, ist er daheim, und da erwartet ihn das
geliebte Annchen:
«Als ich nun (...) endlich auf die schöne Anhöhe kam (...), bewegte sich
alles in mir, und grosse Tränen rollten haufenweis über meine Wangen
herab. O du erwünschter, gesegneter Ort! so hab' ich dich wieder (...),
dacht' ich so im Heruntertrollen wohl hundertmal (...). Auf der Brücke zu
Wattweil, redte mich ein alter Bekannter, Gämperle, an, der vor meinem
Weggehn um meine Liebesgeschichte gewusst hatte; und dessen erstes
Wort war: <Je gelt! deine Anne ist auch verplempert; dein Vetter Michel war
so glückselig, und sie hat schon ein Kind.>. —Das fuhr mirja durch Mark und
Bein...»
Auf der Brücke, am scharfen Rand des heimischen Raums, begegnet ihm
die Bosheit. Dem Glück antwortet als erstes die menschliche Kälte, die
scheinheilige Schadenfreude. Genau damit aber wird nun auch jene vaterländische
Trunkenheit literarisch legitimiert. Sie verwandelt sich nicht ins
Gegenteil, sondern wird erkennbar als der Traum vom Ganzen, der nun der
Prüfung unterworfen wird. Dieser Traum ist die erste Leistung jenes Bewusstseins
der Grenze, und er wird seinerseits produktiv. Das Ganze zu
denken und sich selbst darin, dahinter kann der Heimkehrer nicht zurück.
Und tatsächlich erkennt Bräker schon in der nächsten Sekunde auch sich
selber anders. Er ist überrascht, wie gut er den Schock erträgt. «Zu meinem
grössten Erstaunen fasst' ich mich sehr bald und dachte (...): <(...) wenn's
so seyn muss, so sey's, und hab' sie eben ihren Michel!>»
Diese Erfahrung, dass der Traum vom Ganzen einer schroffen Prüfung
unterworfen wird und dabei auch die eigene Person als umgeschaffen
aufdeckt, kehrt wieder in Gotthelfs «Bauernspiegel». Auch da kommt einer
heim aus fremden Kriegen und wandert durch leuchtende Landschaften
nach Hause:
«Vor mir lag meine Heimat (...) Tief unten im Tale glänzte in der
abendlichen Sonne die Wetterstange auf meines Grossvaters Hause, das
stolze Bauernhaus auf der Talwand oben sah ich auch mit seinen glitzernden
Fenstern, und vor demselben die Elefanten der Schweiz, die stattlichen
Kühe auf der Herbstweide. (...) Mein Herz war weit und offen, alle da unten
im heimischen Tale hätte es umfangen mögen.»
Das ist der Moment des Traums, die Erfahrung des Ganzen. Hier will der
Mann nun leben und etwas nützen. Er tritt ins Wirtshaus; keiner erkennt ihn;
man fragt nach Kriegen und Schlachten und schliesslich nach seinem
Namen:
«Mir klopfte das Herz, als ich meinen Namen nannte, es klopfte in banger
Erwartung, ob freundliche Gesichter mich willkommen heissen würden.
Aber fast erschrocken sahen mich die Menschen an. <An dich habe ich nicht
gesinnet, es hat niemand geglaubt, dass du wieder kommest>, hiess es von
allen Seiten. Einer nach dem Andern schlich sich fort aus Furcht, ich möchte
ihn für etwas, vielleicht für ein Nachtlager, ansprechen (...) Der Wirt war
bald mit mir allein, (...) auf seinem Gesicht war die Angst zu lesen, ich
möchte ihm einstweilen allein zur Last fallen.»
Das ist die gleiche Kälte, wie sie Bräker auf der Brücke von Wattwil
entgegenbläst. Nur ist dieser Meiss hier die wildere Natur. Es packt ihn der
Zorn und die Rachsucht. Dann aber heisst es: «Da fing leise eine andere
Kraft in mir sich zu regen an, die Kraft des Selbstbewusstseins, das Gefühl
des eigenen Wertes...» Und es folgt der wunderbare Satz: «Ich verzieh den
Vielbeladenen ihre durch Andere erzeugten Ängste.»
Was sich hier abzeichnet, ist ein doppeltes Gericht. Der Heimkehrer zieht
die Heimat vor das Tribunal seines Traums und merkt, dass damit auch seine
eigene Gerechtigkeit geprüft wird. Der Traum vom Ganzen und das Bewusstsein
der Grenze, dem er entspringt, schärfen seinen Blick für die
Blindheit der Eingeborenen. Er erkennt ihren verbissenen Pragmatismus,
der immer nur die Nuss sieht, die es im Augenblick zu knacken gilt, und nie
den Baum, von dem die harten Früchte herunterhageln. In dem Moment
aber, wo sich der Heimkehrer auf den Richterstuhl schwingt, durchaus zu
Recht auf den Richterstuhl schwingt, begreift er, dass der grössere Blick
nun auch ihn selbst in die Pflicht nimmt.
Dieses Paradox vom gerichteten Richter wird in den Texten selten direkt
ausgesprochen. Es erscheint jedoch häufig im Modus des Erzählens, als
Ironisierung der Figur und ihrer sittlichen Passion. Sehr auffällig ist dies bei
Max Frisch. Seine diversen Heimkehrer, sei es der Mann in «Zürich-Transit»,
sei es Isidor, der Apotheker und Fremdenlegionär, sei es Anatol
Stiller selbst, sind Komödienfiguren, auf die das gleiche böse Licht fällt, in
welchem sie ihre Landsleute sehen. Zuckende Intellektuelle am Rand einer
zähflüssigen Gesellschaft, partizipieren sie, gescheit, wehrlos und hysteroid,
an der Lächerlichkeit, die sie diagnostizieren. Und so erst wird, was sie
zu sagen haben, literarisch legitimiert. Wie Bräkers vaterländische Trunkenheit
Kitsch wäre ohne den Kälteschock auf der Brücke zu Wattwil, ist
die vaterländische Schmährede Kitsch ohne die ironische Relativierung des
angemassten Pathos. Selbst Dürrenmatts Alte Dame, deren Richteramt sich
doch aus einer kühnen Metaphysik herleitet, tritt auf, von Gelächter umschollert,
als käme sie auf Stelzen aus einem phantastischen Karneval.
Besonders häufig verdichtet sich solche Komik im Moment der ersten
Begegnung mit den Schweizer Polizisten und Zollbeamten. In Inglins fast
vergessenem «Wendel von Euw» wird dies prächtig auserzählt. Den klassischen
Fall bildet zweifellos Stillers Ohrfeige auf dem Basler Bahnhof, aber
auch Urs Widmer arbeitet mehrfach damit, und Hugo Loetscher hat die
Situation in seiner Parabel von der Entdeckung der Schweiz durch einen
Trupp von Urwald-Indianern gründlich ausgenutzt. Wirklichen Sinn macht
dieser eigentümliche helvetische Slapstick jedoch immer erst im übergreifenden
Zusammenhang mit dem Traum vom Ganzen und seiner kritischen
Überprüfung am lebendigen Objekt.
Eine der geheimnisvollsten Gestalten von Legitimierung der vaterländischen
Trunkenheit findet sich in Robert Walsers Prosastück «Die Einfahrt»,
dem ersten von fünf Texten, die ursprünglich unter dem Titel «Die Heimkehr»
als Einheit zusammengefasst waren. Da wird das Idyll aus sich selbst
heraus doppeldeutig. Walsers Artistik konstruiert ein naives Geborgenheitsglück,
das indessen durch seltsame Untertöne in die Nähe eines unheimlichen
Verschlungen- und Verschluckwerdens gerät. Dialektik des
Schosses einmal mehr —und nie gläsern-gefährlicher als hier:
«Land und Leute öffneten sich mir so still, so gross (...) und immer fuhr
der Zug zart und leise weiter. (...) Göttlich-schön war es, wie ich und die
andern Leute so still hineinfuhren, hineingleiteten in die Berge (...). Die
Nation trat mir nah; das Vaterland und sein hoher, goldener Gedanke
schwebten mir ums Herz. (...) O das war ein schönes Eisenbahnfahren mit
mildgesinnten, klugen, ernsten Landsgenossen in die Umschlungenheit
hinein. Es umschlang uns mit Felsen und mit Bergen. (...) Ich sah (...)
Menschen auf den Wegen gehen, die sich in die Wälder schlängelten. Das
Land öffnete die Arme, und ich, ich sank hinein in die Umarmung und war
wieder der Sohn des Landes und seiner Bürger einer. Allmählich wurde es
Nacht.»
So endet das Prosastück, und ein geisterhafter Satz am Schluss des
ganzen Zyklus gibt nochmals das Echo auf diese Passage: «Eine himmelblaue
Welle ist über mich gekommen und hat mich unter ihrem flüssigen,
liebevollen Leib begraben.»
Den gewaltigsten Traum vom Ganzen und zugleich das gnadenloseste
Gericht über den heimkehrenden Träumer birgt, wer wüsste es nicht,
Kellers «Grüner Heinrich». «Traum» ist hier wörtlich zu nehmen. Unmittelbar
bevor der verlorene Sohn aus Hunger und Elend nach Hause aufbricht,
überrennen ihn die nächtlichen Visionen. Der Traumtext ist nicht nur in
seinen äusseren Ausmassen immens, er ist es auch in seinen innern Abgründen
und Aufwerfungen und Umstürzen. Er macht eine erotisch-politische
Phantasmagorie von solcher Bildergewalt aus, solcher Gefühls- und Denkentfaltung,
dass alles Deuten sich darin verliert und der Interpret mit seiner
ganzen Wissenschaft absäuft, als wäre er in den Rheinfall gerudert. Das
Privateste verknüpft sich mit dem Öffentlichsten, die intime Kindes- und
Liebesnot mit der Geschichte des Landes und seiner politischen Kultur.
Geschrieben um 1854, ist dieser Traum vom Ganzen unverkennbar genährt
vom triumphalen Bewusstsein der liberalen Durchbruchsgeneration, die
soeben den fortschrittlichsten Staat Europas, Europas einzige Republik neu
geschaffen hat. Und dem entspricht dann auch, dass der einzelne unerbittlich
in die sittliche und politische Pflicht genommen wird. Es ist diese
komplementäre Unerbittlichkeit —komplementär eben zum grossen Traum
—, was den armen Heinrich den Kopf kostet. Die verschärfte Erkenntnis
seiner selbst, die zum Bewusstsein der Grenze gehört und die bei Gotthelfs
Meiss zu dem tönenden Satz führt: «... ich war in harter Schule, aber als
vernünftiges Wesen ging ich daraus hervor, das seinen Schöpfer kennt und
sich», diese Erkenntnis führt bei Heinrich zur Selbstverurteilung. Er stirbt,
weil er den Tod der Mutter verschuldet hat, stirbt aus sich selbst heraus
einfach weg, so sehr schämt er sich gegenüber dem intakten Ganzen.
Keller hat diesen Schluss später gemildert, hat das Gericht über seinen
Helden in dem Masse gnädiger ausfallen lassen, als sich herausstellte, dass
das Ganze auch nicht hielt, was es im ersten Überschwang versprochen
hatte. Der Bezug von Traum und Verantwortung bleibt indessen gewahrt,
so, wie er alle diese Geschichten insgeheim bestimmt.
«In dreams begins responsibility», lautet ein merkwürdiger Satz bei
W. B. Yeats. Er könnte auch über den meisten Büchern stehen, die aus dem
Bewusstsein der Grenze heraus entstanden sind — und damit über dem
grössten Teil unserer Literatur. Denn das Heimkehrerbewusstsein färbt
diese ein, auch wenn sie keineswegs von weitgereisten Leuten berichtet.
Das hat mit der doppelten Staatsbürgerschaft aller schweizerischen Literatur
zu tun. Sie gehört zu diesem Land, und ebenso vollgültig gehört sie zur
Gemeinschaft aller Länder deutscher Sprache. Wo sie etwas taugt, ist sie
immer schon weit über das Nationale hinaus. Sie hat den europäischen
Horizont, oder es gibt sie nicht. Selbst wenn sie in Trubschachen spielt oder
in Niederbipp, kommt das gutmütige Dorf nur ins Blickfeld durch einen
Zoom-Effekt, der es aus einem länderweit ausgerollten Panorama heranholt
— und jederzeit wieder darin verschwinden lassen kann. Als Schweizer
allein kann man keine guten Bücher schreiben —als Franzose hingegen wohl
und auch als Italiener und Engländer. Das ist nicht so sehr eine Frage der
geographischen Ausdehnung als der sachlichen Gegebenheit eines internationalen
Sprachraums, der auch der homogene Raum aller Sprachkunst ist.
Die Sprache ist ja nicht etwas, das zur literarischen Phantasie irgendwann
als äusserliches Vehikel hinzutritt, sie ist mit ihr von Anfang im tiefsten
vereinigt. Die kontinentalen Dimensionen der deutschen Sprache schlagen
durch in jedes Wort, auch wenn ein Zollinger ein Gedicht über den Bachtel
schreibt oder eine Helen Meier ein Prosastück über eine alte Frau in
Weisstannen. Mit dem ersten Satz schon kehrt der Schreibende wie aus
fernen Provinzen der deutschen Sprache zurück an den Ort, wo er jetzt vor
dem weissen Papier sitzt, und er spürt die Landesgrenze im lebendigen
Leib.
In den Paralipomena zum «Grünen Heinrich» beschreibt Keller den
«beschränkten und einseitigen Patrioten», dem «mit den Landesgrenzen die
Welt mit Brettern vernagelt ist». Von diesem sagt er: Wenn das Land «mit
dem Jahrhundert und der Welt in Berührung tritt, so wird er sich in der Lage
eines Huhns befinden, welches angstvoll die ausgebrüteten Entchen ins
Wasser gehen sieht». Dieses Hühnerschicksal ist mit der genuinen literarischen
Phantasie in der Schweiz grundsätzlich unvereinbar. Ludwig Hohls
sarkastisches Gebot: «Lass dich nicht gelüsten nach deines Nachbars
Geist», wird von der Schweizer Autorin, dem Schweizer Autor in dem
Augenblick schon gebrochen, wo es sie überhaupt zu schreiben gelüstet.
Auf diesem Hintergrund werden die vielen Heimkehrer in unseren Büchern
fast zu allegorischen Emblemen der literarischen Phantasie. Und es
stellt sich heute mehr als je die Frage, ob es ohne ihre spezifische Beschaffenheit
eine schöpferische Phantasie irgendwelcher Art hierzulande überhaupt
noch geben kann, sei's eine politische, sei's eine ökonomische, sei's
eine wissenschaftliche. Das Heimkehrerbewusstsein mit seinem Traum
vom Ganzen, seinem Verantwortungsgefühl und seiner Selbsterkenntnis,
mit seiner Richtergeste, die selber vor Gericht gerät, mit seinem Pathos,
seinem Spott und seinen Lächerlichkeiten, ist es nicht der Prototyp jener
weit umfassenderen wachen, witzigen und weltläufigen Phantasie, von der
wir uns als schweizerische Europäer allein noch den Ausweg aus der
Klemme erhoffen können? «In dreams begins responsibility.» Die Verantwortung
beginnt in den Träumen. Das war bisher nicht unbedingt ein
eidgenössisches Sprichwort. Aber vielleicht kommt es noch soweit.