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Vom Nutzen und Nachteil der Rhetorik

Akademische Rede von

Prof. Dr. Christoph Schäublin

Rektor 1995/97

Ob das, was heute zur Sprache kommen soll, «unzeitgemäss» ist, wird sich erst noch herausstellen müssen. Trotzdem trifft Ihre Vermutung natürlich zu: der Anklang an Nietzsches «Zweite Unzeitgemässe» («Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben») ist durchaus intendiert, und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst einmal erweist sich der Titel einer Rede, rhetorisch betrachtet, gleichsam als ein Teil der Einleitung; zu deren Aufgaben aber gehört es, die Zuhörer in einen Zustand gespannter Aufmerksamkeit und Neugier zu versetzen, sie für die Sache und den Sprecher zu gewinnen: warum hätte ich zu diesem Zweck nicht einen grossen Schatten beschwören und zu Hilfe rufen sollen? —dies um so mehr, als ich ihn damit zugleich auch wieder einmal für meine Disziplin —die Klassische Philologie —reklamieren kann. In der Tat war Nietzsche damals, 1873/74, formell noch immer Professor der Klassischen Philologie, gar an meiner Heimatuniversität, und gleichzeitig ein beliebter Lehrer an jenem reaktionären Gymnasium, in dem auch ich einst verkümmert bin (das mittlerweile freilich den unaufhaltsamen Segnungen einer aufgeklärten, individuelle Selbsterfüllung und allgemeines Glück verheissenden Bildungspolitik zum Opfer gefallen ist).

Nicht verschwiegen sei indes, dass die Inanspruchnahme Nietzsches für die Philologie in einem gewissen Widerspruch steht zu der (Gering)schätzung, die ihm —zumal aufgrund der missverstandenen «Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» — von Seiten der Philologen lange widerfahren ist. Immerhin, selbst sein erster und härtester Kritiker, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, hat im Alter freimütig bekannt, seinerzeit mit dem philologischen einen falschen Massstab an das Buch gelegt zu haben, zumal an die dann entwickelten Vorstellungen vom «Apollinischen» und vom «Dionysischen»; und von unserm heutigen Gegenstand hat Nietzsche nachweisbar etwas gewusst. Aber nicht nur die rhetorische Theorie war ihm vertraut; vielmehr bin ich überzeugt, dass man dem eminenten Stilkünstler, der er war, kein Unrecht antut, wenn man seine eigene, sehr bewusste Verfügung über sämtliche Mittel der Sprache (auch) mit der rhetorischen Schulung in Zusammenhang bringt, wie sie für einen Klassischen Philologen im Grunde selbstverständlich sein sollte oder zumindest einmal war (den unbescheidenen Kurzschluss, aufgrund ihrer spezifischen Kompetenz seien alle Philologen im vornherein auch bedeutende Stilkünstler, sollten Sie mir infolge dieser Bemerkung, bitte, nicht unterstellen).

Anderseits bleibt gewiss die Frage, ob Nietzsche selbst es der rhetorischen Lehre tatsächlich zugetraut hätte, «die antike Grossartigkeit der sprachlichen Erziehung» wiederherzustellen oder wenigstens die originalitätssüchtige Zerstörung der sprachlichen Form aufzuhalten, die er den Journalisten anzukreiden pflegte und im gymnasialen Deutschunterricht seiner Zeit wahrnahm. Zumindest das Regelwerk, das im 19. Jahrhundert als «Rhetorik» vermittelt wurde, hat er wahrscheinlich dem erstickenden «historischen»

Bildungsballast zugerechnet, dessen «Lebensfeindlichkeit» er in der «Zweiten Unzeitgemässen» ja eben zu entlarven versucht. In diese Richtung scheint jedenfalls sein etwas widersprüchlich anmutender Wunsch zu deuten, dass es uns einmal beschieden sein möge, «den Geist der alexandrinisch-römischen Kultur» hinter uns zu lassen «und unsere Vorbilder mutigen Blicks in der altgriechischen Urwelt des Grossen, Natürlichen und Menschlichen zu suchen». (Etwas widersprüchlich mutet der Wunsch deswegen an, weil der Philologe in Nietzsche doch nicht umhin kann, seiner eigenen Zeit zuzugestehen, sie habe jenen Geist der alexandrinisch-römischen Kultur «fruchtbringend und grossartig nachgeschaffen».)

Doch damit sind wir auch bereits mitten im Gestrüpp der Probleme. Vielleicht haben Sie sich von Anfang an gefragt, ob «die Rhetorik» — nicht zu verwechseln mit natürlicher «Beredsamkeit» und angeborener Ausdruckskraft, wie sie überall und jederzeit anzutreffen sind — es überhaupt verdiene, Gegenstand einer Rektoratsrede zu sein. Schliesslich ist, was mit Rhetorik zu tun hat, in unserm Sprachgebrauch überwiegend negativ konnotiert. Als «rhetorisch» charakterisieren wir in der Regel eine Ausdrucksweise, die ein Minimum an Gehalt hinter einem Maximum an schönen Worten zu verbergen trachtet, oder schlimmer noch: die nach aussen zwar brillant, bei genauerem Zusehen aber mit Scheinargumenten und ränkevoller Taktik, den Zuhörer dazu nötigt, etwas Falsches, Verderbliches, objektiv eigentlich Unvertretbares anzunehmen und zu glauben. Wir werden gleich sehen, dass derartige Vorbehalte so alt sind wie die Rhetorik selbst. Für den Augenblick mögen zwei Feststellungen genügen.

1. In der Neuzeit setzte die Kritik an der Rhetorik —und damit verbunden deren eigener Niedergang — tatsächlich erst vor etwa zweihundert Jahren ein; auf der Warntafel, welche die Wende ankündigt, mag der Name «Kant» stehen. Damals glaubte man zu erkennen, dass sie, was ihre Argumentationsweise betrifft, eine geradezu naturwidrige Kunst des Scheins und des Betrugs sei; dass sie überdies mit der kalten, geregelten Normativität ihrer Stilbetrachtung das Individuum daran hindere, sich gemäss seinem Wesen und seinen eigensten Bedürfnissen zu äussern —und man stellte ihr in der Literatur ein neues Ideal der Innerlichkeit, der Empfindsamkeit, der Echtheit, der Originalität entgegen (heute würde man wohl von «Kreativität» sprechen). Den Graben vertieft, den Prozess der Entfremdung befördert hat in der Folge dann zweifellos der Umstand, dass die Alten Sprachen, deren Lehrer sich stets als die berufenen Hüter der Rhetorik verstanden hatten, im höheren Unterrichtswesen zusehends an Boden verloren und ihre einstige Dominanz einbüssten. Was ich hier nur gerade andeuten kann, betraf im Grunde ganz Europa, doch wirkte es sich von Land zu Land je verschieden aus — und in verschiedener Geschwindigkeit. In Frankreich etwa, noch vor nicht allzu langer Zeit durch die pathetische Rhetorik des Grossen Generals geradezu überwältigt, wurde «Rhéorique» als höchstes Schulfach, in dem die gesamten Bildungsbemühungen zu ihrer Krönung gelangen sollten, erst im Jahre 1902 abgeschafft (wobei zu sagen ist, dass als Ziel schon lange nicht mehr das eigene «Reden-Können», sondern eine geschmackvolle «Schreib- und Lesekultur» angestrebt worden war). Und englische Debattierclubs scheinen eine

Prof. Dr. phil. lust. Christoph Schäublin Der am 4. März 1941 in Basel geborene Christoph Schäublin hat die Schulen in seiner Vaterstadt durchlaufen und dort nach der Matura (Typus A) Klassische Philologie, Germanistik und Alte Geschichte studiert. Ein Studiensemester verbrachte er in Kiel. Nach der Promotion im Jahre 1967 wirkte Schäublin vorerst als Gymnasiallehrer und Universitätsassistent in Basel und verbrachte dann als Nationalfonds-Stipendiat zwei Jahre

gewisse lustvolle «rhetorische Kultur» bis heute am Leben erhalten zu haben. Bei den biederen, konsequenten und bilderstürmenden Deutschen dagegen machten sich die Folgen des rhetorischen Einbruchs wohl früher bemerkbar; so notiert bereits Madame de Stael die gleichsam regellose, ans Unverständliche grenzende Schreibweise

in Oxford (Corpus Christi College). Nachdem er sich 1973 in Basel habilitiert hatte, versah er während der folgenden Jahre, neben einer Teilzeitverpflichtung als Gymasiallehrer, umfangreiche Lehraufträge an der dortigen Universität. 1979 erfolgte die Beförderung zum Extraordinarius in Basel, drei Jahre später wurde er als Ordinarius für Klassische Philologie mit Schwerpunkt Latein an die Universität Bern gewählt. In der Lehre vertritt er die gesamte lateinische Literatur; seine Forschung gilt vorrangig der Rezeption der griechischen Philosophie in Rom —das heisst den philosophischen Werken Ciceros — und der Auseinandersetzung der Christen mit der antiken Kultur, wie die frühchristliche Literatur sie abbildet. Verschiedentlich ging Schäublin seiner Forschungstätigkeit auch an ausländischen akademischen Institutionen nach, so 1979 und 1989/90 als «visiting member» am renommierten Institute for Advanced Study in Princeton (USA) und 1994 als «visiting scholar» an der McGill University in Montreal (Kanada). Daneben engagierte er sich in zahlreichen universitären und ausseruniversitären Gremien: So präsidierte er die Schweizerische Vereinigung für Altertumswissenschaft und vertrat die Schweiz in der Fédération internationale des Etudes classiques; er war Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern und vieler Kommissionen. 1988/89 war er Dekan der Phil.-hist. Fakultät, 1993 wurde Christoph Schäublin für die Amtsperiode 1995-1997 zum Rektor der Universität Bern gewählt.

deutscher Autoren — und vermutet freilich, dass das Phänomen auch mit den besonders tiefen Gedanken zu tun haben müsse, die östlich des Rheins zur Entbindung drängten. Erwägt man aber insgesamt, was vorausgegangen ist, so scheint die Relativierung, ja Diskreditierung der Rhetorik, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geltend

macht, für einen so fundamentalen Wandel in der neuesten europäischen Geistesgeschichte zu stehen, dass man fast versucht ist, von einem «Paradigmenwechsel» zu sprechen. Was kam danach? Gadamer würde wohl sagen: die mit der Rhetorik wesensverwandte, weil ebenfalls in der «Universalität des Sprachlichen» gründende Hermeneutik. Wird auch an dieser Stelle eine philosophische Autorität gewünscht, so wäre jetzt der Name «Schleiermacher» zu nennen.

2. Trotz zweihundertjähriger Diffamierung regt sich in den letzten Jahren ein neues Interesse an der Rhetorik. Wie es dazu gekommen ist, bedürfte wohl einer eigenen Untersuchung; ich beschränke mich abermals auf zwei Hinweise: Historische Forschungen verschiedener Disziplinen, nicht nur der Sprach- und Literaturwissenschaften, sondern auch im Bereich der Musik- und der Kunstgeschichte, überdies der Philosophie und gar der Theologie, haben immer deutlicher zutage gebracht, wie tief und wie umfassend die Prägung gewesen ist, die Europa durch die Rhetorik als eine der grossen «Bildungskonstanten» erfahren hat, von der Antike bis eben ins 18. Jahrhundert. Anderseits sind wir mittlerweile ja ins Goldene Zeitalter der «totalen Kommunikation» eingetreten, und dieser Schritt wird längst von eigenen Wissenschaften reflektiert — von Wissenschaften, die ihrerseits wieder erstaunt feststellen, dass die Rhetorik einst durchaus unverächtliche Einsichten in das Funktionieren der Kommunikation und in deren bewusste Steuerung vorweggenommen hat. Kommt hinzu die neue Mündlichkeit der Massenmedien, kommt hinzu die Omnipräsenz der Werbung —und wir begreifen, dass die alte «Kunst der Überredung» plötzlich wieder ein Thema geworden ist: eines, dem man —jedenfalls so betrachtet —den Vorwurf der «Unzeitgemässheit» nicht machen kann.

Nun habe ich den Begriff «Rhetorik» bisher einigermassen unscharf verwendet; zum Zwecke der Klärung mag darum eine Rückführung an den Ort des Ursprungs angebracht sein: nach Griechenland. Dass freilich die intellektuell so wendigen Griechen ohnehin schon immer «beredter» gewesen seien als andere Völker, will nicht einmal der Klassische Philologe behaupten. Allein die Griechen indes haben es unternommen, eine systematisch durchgegliederte, lehr- und lernbare «Sprechkunst» (eben eine rhetorikè téchne) auszubilden, die dazu verhelfen sollte, in jeder Lage und bezüglich jedes Gegenstands überzeugend auf den Zuhörer einzuwirken. Diese «Erfindung» wurde in einer Zeit des Umbruchs gemacht — in einer Zeit überdies, die generell dadurch gekennzeichnet war, dass man der spezifisch «menschlichen» Fähigkeit zur «technischen» Lebensbewältigung gewahr wurde und dementsprechend darauf bedacht war, ganz verschiedenartige Tätigkeiten als téchnai zu erfassen und zur methodischen Aneignung und Ausübung bereitzustellen.

Als Hintergrund haben wir uns eine noch weitgehend mündliche Gesellschaft zu denken. Der erwähnte «Umbruch» aber äusserte sich darin, dass die absolute Geltung der tradierten Vorstellungen und Werte ins Wanken geriet, im Bereiche der Religion ebenso wie in dem der gesellschaftlichen Ordnung. Nachdem man etwa erfahren hatte, dass andere Völker offenkundig so ganz anders lebten als die Griechen, stand plötzlich in Frage, woher eigentlich die Normen stammten, die das

Zusammenleben der Menschen regelten. Sollte es sich um reine Konventionen handeln (und nicht um Gegebenheiten der Natur): wie waren sie entstanden, und wer hatte sie auf welche Weise durchgesetzt? Unweigerlich geriet da die Sprache als das entscheidende Verständigungsmittel ins Zentrum der Aufmerksamkeit — nur: auch sie hatte in dem aufklärerischen Fragenstrudel längst ihre Unschuld verloren; denn was vermochte sie am Ende zu leisten, wenn etwa «Gerechtigkeit» an verschiedenen Orten ganz Verschiedenes meinte, ja in den verschiedenen Sprachen —falls diese ein vergleichbares Wort denn überhaupt kannten — auch noch verschieden hiess? Irgendwie lösten sich die Wörter von den Sachen und wurden verfügbar, und das ist wohl der entscheidende Punkt: man entdeckte die Sprache als ein reines Kommunikationssystem, durch keine vorgegebenen und festen Inhalte beschwert und also jederzeit tauglich, den eigenen Absichten des Benutzers zu dienen. Dem athenischen Historiker Thukydides gelang in diesem Zusammenhang die folgenschwere Beobachtung, dass politische Revolutionen auch auf der Ebene der Sprache ausgetragen würden: die Parteien versuchten nämlich, auf das Denken der Bürger Einfluss zu nehmen, indem sie gezielt den geläufigen Wörtern neue Bedeutungen im Sinne je ihrer Absichten unterlegten; zum Programm eines ganzen Ministeriums erhoben hat diese Erkenntnis dann Josef Goebbels.

Mit solchen und ähnlichen Überlegungen schufen die sogenannten «Sophisten» in der zweiten Hälfte des 5. und im beginnenden 4. Jahrhundert v.Chr. die Voraussetzungen für das Entstehen einer systematischen Rhetorik; zu bedenken ist höchstens noch, dass etwa gleichzeitig die streng geregelte Dichtung von der Prosa als neuer, beweglicherer Ausdrucksform abgelöst wurde. Und die Sophisten sind es wohl auch gewesen, die den ersten Unterricht erteilt und die ersten Lehrtraktate verfasst haben — sehr zum Missbehagen des Atheners Platon. Damit ist gleich auch gesagt, dass das Aufblühen und die erste grosse Blüte der neuen Kunst ganz wesentlich an die spezifischen Bedingungen Athens gebunden waren: an die einmaligen demokratischen Institutionen und die fast unbegrenzte Freiheit der Meinungsäusserung in dieser Stadt. Obwohl als «Geburtsstätte» immer wieder das griechisch kolonisierte Sizilien genannt wird, fand die Rhetorik doch allein im politisch bewegten Athen den entscheidenden «Markt», den sie zu ihrer Festigung und Anerkennung brauchte. Hier — wenn irgendwo —kam es darauf an, vor der Volksversammlung, im Rat, vor den riesigen Laiengerichten gekonnt und überzeugend zu sprechen; denn nur wer dieser Anforderung genügte, durfte darauf hoffen, sich und seine Meinungen durchzusetzen und zu Einfluss und Geltung zu gelangen. Noch heute weiss, auch wem die kanonischen Zehn attischen Redner nicht im Traum erscheinen, wenigstens von Demosthenes und seinen sprichwörtlich gewordenen «Philippiken». — Vergleichbare Verhältnisse herrschten in Rom zur Zeit der ausgehenden Republik, in Ciceros Tagen, und ermöglichten eine zweite Blüte öffentlicher Redekunst —wie denn der Historiker Tacitus im Rückblick feststellen musste, dass bedeutende Redner der harten Auseinandersetzungen bedürften und darum nur unter den Bedingungen grosser, ja exzessiver politischer Freiheit heranwüchsen (ich versage mir eine Verifizierung dieses Satzes am Beispiel der Schweiz). Insgesamt also entsprach die Rhetorik zunächst einem unmittelbaren

Bedürfnis und erfüllte eine ganz praktische Funktion.

Gerade diese reine, zweckdienliche, fast schon amoralische Funktionalität aber war es letztlich, die Platon ihr vorwarf (beiläufig gesagt: der Ausdruck rhetorikè téchne begegnet in der griechischen Literatur erstmals ausgerechnet bei Platon, und manches spricht dafür, dass er ihn —aus der Opposition heraus —tatsächlich selbst auch geprägt hat). Ihm graute vor einer «Kunst», die sich angeblich um Wahrheit und Richtigkeit des Vertretenen nicht kümmerte, die auf den Schein und auf unbegründete Meinungen abstellte, die mit raffinierten Methoden an die Emotionen der Menschen und nicht an deren Vernunft appellierte — und die sich schliesslich anheischig machte, auf diese Weise auch der schlechtesten Sache zum Sieg zu verhelfen. Der Kritik Platons war insofern Erfolg beschieden, als sie die Einschätzung nicht nur der Rhetorik, sondern auch der Sophisten bis auf den heutigen Tag nachhaltig geprägt hat — wahrscheinlich zu Unrecht, zumindest was die Sophisten betrifft. Auf jeden Fall aber vermochte sie es nicht, den Siegeszug der Rhetorik aufzuhalten. Vielmehr wurden noch im 4. Jahrhundert die Fundamente gelegt, auf denen die nachfolgenden Generationen aufbauen sollten.

Dass die Rhetorik den ihr gebührenden Platz zugewiesen erhielt und als das bestimmt wurde, was sie ist, verdankte sie Platons Schüler Aristoteles. Dieser siedelte sie an zwischen den Wissenschaften der Dialektik und der Politik, band sie an die Ethik und setzte sie in Beziehung zu einer begrifflich geklärten Psychologie; er analysierte den Kommunikationsprozess zwischen Sprechern und Zuhörern und leitete daraus verschiedene Redegattungen mit je verschiedenen Zielsetzungen ab; schliesslich brachte er Ordnung in die scheinbar so disparaten Beweisformen und steuerte auch wichtige Beobachtungen zur sprachlichen Ausgestaltung bei, zum «Stil». Das Wesentliche war damit geleistet; jetzt galt es eigentlich nur noch das, was Aristoteles so fruchtbar eingeleitet hatte, immer umfassender zu systematisieren und weiterzuentwickeln, vom Finden und vom Einsatz der Argumente bis zum situationsgerechten Vortrag einer ausformulierten Rede. Als besonders folgenschwer erwies sich dabei die stetige Verfeinerung der Stillehre, der elocutio, mit ihrer Aussonderung unterschiedlicher Stilarten und der exakten Erfassung und Klassierung sämtlicher Kunstmittel, die der Sprache abzugewinnen sind, zumal der sogenannten «Tropen» und der «Figuren». Längerfristig lag die Bedeutung gerade dieser Entwicklung darin, dass die Rhetorik sich zunehmend für die formalen Gesichtspunkte der Literatur im weitesten Sinne, also auch der Dichtung, zuständig fühlte. Ihrerseits gefielen sich die Dichter immer mehr darin, tatsächlich nach den Regeln der Rhetorik zu arbeiten.

An dem ganzen Ausbauprozess beteiligten sich bald — und durchaus schöpferisch — auch die Römer; sie waren als die neuen Herren der Mittelmeerwelt ohnehin begierig, alles nur Denkbare von den Griechen zu lernen und zu übernehmen, und die Rhetorik empfahl sich ihnen allein schon aufgrund des handfesten Nutzens, den sie allen in Aussicht stellte, die sich öffentlich zu bewähren hatten. Auf jeden Fall stammt die umfassendste antike Darstellung der Rhetorik überhaupt von einem Lateiner: ich meine Quintilians Institutio oratoria («Einführung in die Redekunst») in zwölf Büchern. Quintilian aber, der erste staatlich besoldete Professor der Rhetorik in Rom, verfasste sein Werk gegen Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr., unter dem unerträglich

despotischen Kaiser Domitian —genau zu der Zeit also, da Tacitus seine düsteren Betrachtungen über den Mangel an politischer Freiheit anstellte und bezweifeln musste, ob grosse Redekunst überhaupt noch möglich sei. Und er hatte ja zumindest insofern recht, als das autoritäre Regime der Kaiser eine politische Beredsamkeit kaum mehr zuliess; unmittelbarer Bedarf herrschte höchstens noch für eine —ziemlich zurückgestutzte —gerichtliche Redekunst, überdies in wachsendem Masse für abgezirkelte Festreden: sie dienten nicht zuletzt dazu, die Ideologie der jeweiligen Herrscher unters Volk zu bringen. Der Panegyricus, mit dem sich Quintilians Schüler Plinius der Jüngere im Jahre 100 n.Chr. bei Kaiser Traian dafür bedankt hat, dass er für ganze zwei Monate die Rolle eines Konsuls spielen durfte, gibt dafür das früheste und prominenteste Beispiel ab.

Dieser Befund aber —Quintilian vor dem Hintergrund seiner Zeit —ist deshalb wichtig, weil er anschaulich vor Augen führt, dass der Rhetorik etwas zugewachsen sein muss, was sie auch dann noch als attraktiv und begehrenswert erscheinen liess, als die Bedingungen, unter denen sie angetreten war, nicht mehr—oder nicht mehr im vollen Umfang — gegeben waren. Man könnte diesen «Überschuss» als «Bildungsanspruch» bezeichnen. Ein solcher wurde in der Tat bereits im 4. Jahrhundert v.Chr. erhoben, gleichsam als Antwort auf Platons Kritik und in Reaktion auf dessen rigorose Forderung nach metaphysisch verankerter Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit. Insbesondere der athenische Redelehrer Isokrates (der selbst nie als Redner öffentlich aufgetreten ist!) stellte seinen Schülern eine eigene «Philosophie» in Aussicht (dies der von ihm selbst verwendete Begriff): eine Anleitung zu vernunfthafter, sittlich begründeter, praktischer Lebensbewältigung. Die Fähigkeit aber, derart als «ganzer Mensch» sich zu bewähren, wird nach Auffassung des Isokrates wesentlich dadurch geweckt und gefördert, dass man lernt, formvollendete «Reden» (lógoi) zu halten oder zu verfassen, weil in ihnen die geistige Anlage des Menschen (sein lógos) sich am besten entfalten und nach allen Seiten nutzbringend vervollkommnen könne. Letztlich ging der Streit zwischen Philosophie und Rhetorik nicht nur um theoretische Positionen; vielmehr machten beide Seiten geltend, dass sie eigentlich für die Erziehung der Jugend zuständig seien. Zu einem wirklichen Ausgleich ist es nie gekommen, obwohl Konzessionen hüben wie drüben durchaus geleistet wurden. Insgesamt jedoch hat Isokrates — in der Antike und weit darüber hinaus —den Sieg davongetragen: als Bildungsideal setzte sich nicht der vergeistigte Betrachter der platonischen Ideen durch, sondern das Bild eines «lebenstüchtigen» Menschen, dessen sachgerechtes Denken sich in seinem überlegenen, durch weite Literaturkenntnis gefestigten Umgang mit der Sprache äussert. Für uns Ältere klingt das ja noch immer ganz vertraut; denn das Prinzip der «Denkschulung» mittels formaler «Sprachschulung» hat den höheren Unterricht bis tief ins 20. Jahrhundert beherrscht, also selbst dann noch, als die Entthronung der Rhetorik bereits vollzogen war — und vielleicht nicht einmal unbedingt zu unserm dauernden Schaden.

Indes, vielleicht wundern Sie sich schon lange, warum ein Latinist Ihnen eigentlich alle diese «griechischen Geschichten» erzählt. Ganz einfach deswegen, weil die Römer das rhetorische Bildungsideal (samt der Rhetorik als einem schlagkräftigen

«Instrument») nicht nur von den Griechen übernommen und sich anverwandelt, sondern in ihrer Form auch dem späteren Europa zur Nachahmung weitergegeben haben. Darüber wäre manches zu sagen, insbesondere über Ciceros kühnen Entwurf eines «vollkommenen Redners» (orator perfectus). Bedenken Sie nur, dass Cicero seine einmalig wirkungsträchtigen philosophischen Schriften, aus denen nachmals der lateinische Westen die griechische Philosophie kennenlernen sollte und die bis ins 18. Jahrhundert mit einer Selbstverständlichkeit zum allgemeinen Bildungsgut gehörten wie vielleicht nur noch die Bibel: dass Cicero diese philosophischen Schriften nicht zuletzt unter rhetorischen, das heisst unter formalen und stilistischen Gesichtspunkten geschaffen hat. Gewiss, die rein sachliche Vermittlung der griechischen Philosophie war ihm ein wichtiges Anliegen; nach seiner Auffassung jedoch bedurften bedeutende Gedanken überdies der makellosen Form: wie anders hätten die Römer sonst je zu der stolzen Überzeugung gelangen können, mit den politisch unterworfenen und kulturell doch so überheblichen Griechen gleichgezogen zu haben?

Solche Überlegungen mögen professionelle Philosophen befremden, doch der unvergleichliche Erfolg seiner Dialoge gab Cicero recht. Betrachtet man die Sache an der Wurzel, so ist es dem Redner und Sprachgenie gelungen, überhaupt einmal ein lateinisches philosophisches Vokabular zu schaffen —oder noch allgemeiner: er hat der lateinischen Sprache für alle Zeiten zu jener Geschmeidigkeit verholfen, die sie brauchte, wenn sie als Gefäss für differenziertere philosophische Gedankengänge dienen sollte. Insgesamt lief Ciceros weitgespanntes rhetorisches Konzept eben darauf hinaus, dass die Kluft zwischen Beredsamkeit (eloquentia) und kenntnisreicher Einsicht (prudentia) in eine Vielzahl von Gegenständen wie Philosophie, Recht und Geschichte, endlich wieder geschlossen werden müsse. Ihm schwebte ein Zustand vor — es habe ihn in der Frühzeit schon einmal gegeben —, in dem die «Wissenden» wieder überzeugend sprechen lernten und die «Sprechenden» über ein angemessenes Wissen verfügten. Denn wer denken, aber nicht sprechen (d.h. das Gedachte nicht vermitteln) könne, leiste der Gemeinschaft nicht den ihr gebührenden Dienst; wer dagegen gut zu sprechen, aber nicht richtig zu denken verstehe, stelle für seine Mitmenschen schlicht eine Gefahr dar. Kurz, das von Sokrates eingeleitete discidium linguae atque cordis («die Scheidung von Zunge und Verstand») habe sich nur verhängnisvoll ausgewirkt.

Natürlich hatte der in vielen Kämpfen erprobte Cicero, als er über die Voraussetzungen grosser Redekunst — seiner Redekunst —nachdachte, den in der Öffentlichkeit praktizierenden Redner vor Augen. Sein eigenes Wirken aber bedeutete in gewissem Sinne nicht nur einen Höhepunkt der antiken Rhetorik schlechthin, sondern zugleich auch deren Ende: die Republik hatte ausgedient, und kaiserliche Erlasse pflegten nicht aus dem freien Widerspiel öffentlicher Debatten hervorzugehen. Um so machtvoller etablierte sich die Rhetorik jetzt als richtende und normierende Instanz für alle Fragen der sprachlichen Form, ja als Wächterin über die Literatur ganz allgemein. Aber auch als Bildungsprinzip blieb sie unangefochten in Geltung. Zwar wich sie vom Forum in den Hörsaal zurück und nahm dort zuweilen fast skurrile Züge an; trotzdem prägte sie das geistige Leben weiterhin

insofern, als tatsächlich das gesamte Schulsystem auf sie hintendierte und in ihr sich erfüllte. «Bildung» äusserte sich nach wie vor in der Fähigkeit, das Leben gewissermassen sprachlich zu meistern.

Aus dieser Schule gingen in der Regel keine Redner mehr hervor, sondern bestenfalls einige rhetorisch versierte Schriftsteller und Dichter. Etwas anderes freilich war im Grunde viel wichtiger: Die überwiegende Mehrzahl der jungen Leute folgte dem anspruchsvollen Unterricht im vornherein nicht in der Absicht, selbst einmal «produktiv» zu werden, sondern als künftige «Rezipienten»; dementsprechend diente die Rhetorik —im Sinne einer «Allgemeinbildung» für mittlere und obere Schichten — als wesentliches Vehikel der sozialen Integration — und sie formte überdies ein waches und urteilsfähiges literarisches Publikum von bisher wohl nie gekannter Breite. Soviel muss man der meistens als «unschöpferisch» verschrienen römischen Kaiserzeit schon zugestehen: sie war sensibel für alles Sprachliche, und diese beträchtliche Sprachkultur hielt manches zusammen, was eigentlich auseinanderstrebte. Davon profitierte nicht zuletzt auch die nach vorne sich drängende Bewegung der Zukunft, das Christentum; denn dessen Missionserfolge bedurften auch der publizistischen Absicherung, die ihrerseits zustandekam, weil die Rhetorik zumindest ein formales Einvernehmen zwischen den verfeindeten Lagern herstellte. Taten die Schriftsteller der Alten Kirche auch dergleichen, als sei ihnen der glitzernde Tand der Rhetorik als ein letzter Rest von Weltlichkeit peinlich, so dachten sie doch nicht daran, ihr Anliegen in der «einfachen», schmucklosen Sprache galiläischer Fischer vorzutragen. Augustin, der «Vater des christlichen Mittelalters», hatte vor seiner Bekehrung als Rhetorikprofessor in Mailand gewirkt.

Damit schliesst sich der Kreis. Die Rhetorik hat das Ende der Antike überdauert: durchs Mittelalter in reduzierter Form und als eine der niederen, der «trivialen» artes liberales, seit dem Humanismus und der frühen Neuzeit beinahe im alten Glanz. Von Martin Luther — um nur ein (berühmtes) Beispiel zu nennen — stammt die Formulierung, dass er Quintilian, den Verfasser der schon genannten Institutio oratoria, eigentlich allen andern Schriftstellern vorziehe, weil er ein grosser Erzieher und Lehrer der Redekunst zugleich sei. Massgeblich förderte die Rhetorik nicht nur die nachahmende Wiedergewinnung der antiken Literatur, sondern verhalf auch den Nationalsprachen zu gesteigerter Ausdrucksfähigkeit. Ja, soweit überhaupt der Zugang zur Welt (zumindest zur Welt des Geistes) über die Sprache erfolgte, schuf sie die Brücke, etwa dann, wenn es literarische und andere Texte zu interpretieren galt. Schliesslich diente die Rhetorik als Modell auch für andere Künste, und es wurden sogar Versuche unternommen, ihre Stilprinzipien von der Sprache abzulösen und auf die Malerei oder die Musik zu übertragen.

Und heute? Als Kunst der gewissenlosen Manipulation ist die Rhetorik natürlich allgegenwärtig, trotz noch so harter Kritik; wir haben uns ihrer — bald in plumperer, bald in raffinierterer Form — tagtäglich und in fast sämtlichen Lebensbereichen zu erwehren. Als verabsolutiertes Bildungsideal anderseits kann sie uns wegen ihrer ausschliesslich formalen Bestimmung nicht mehr dienen. Schon in der späteren Antike zeichnet sich eine unübersehbare Korrelation ab zwischen einem Übermass an Rhetorik und einem gewissen Defizit an neuen, bewegenden Ideen; und dass der

mangelnden Sachbezogenheit seit eh und je insbesondere die wortkargen Naturwissenschaften zum Opfer gefallen sind, steht ohnehin ausser Frage. Immerhin, einen Rest der alten Sprachkultur wünscht man sich bisweilen schon zurück — und vielleicht sogar noch etwas mehr.

Denn das von Cicero beklagte discidium linguae atque cordis ist im Grunde doch keineswegs überwunden. Nur zu oft stehe ich unter dem Eindruck, dass zwischen den Wissenschaften und einer weiteren Öffentlichkeit so etwas wie ein akuter Kommunikationsnotstand herrscht. Dieser rührt ganz offensichtlich nicht daher, dass die Leute dem, was in der Universität getrieben wird, kein hinreichendes Interesse entgegenbrächten. Gewiss, die Forschung wird stets komplexer, stets schwerer durchschau- und vermittelbar. Doch das ist wohl nur die halbe Wahrheit. Sind wir, wenn es darauf ankäme, wirklich auch willens, die Mauern der akademischen Selbstgenügsamkeit zu übersteigen? Und wenn wir es möchten: sind wir dazu, im Rahmen des Möglichen, imstande? Mir scheint manchmal, dass die elementarsten Fragen der Rhetorik nicht gestellt werden: «Aus welchem Anlass spreche ich über welchen Gegenstand in welcher Absicht und in welcher Form zu welchem Publikum'?» Sprechen aber müssen wir, nicht in huldvoller Herablassung, sondern weil es unsere gesetzliche Pflicht ist —und weil am Ende unsere ureigene Sache auf dem Spiel steht.

Der Freiraum, den eine Universität lebensnotwendig braucht, ist ja alles andere als ungefährdet. Mit dieser Bemerkung sei, ausnahmsweise, nicht zur vertrauten Klage über die finanziellen Zwänge übergeleitet, wiewohl diese unser Planen und Handeln wahrhaftig auf Schritt und Tritt schmerzlich beengen. Im Sinne habe ich jetzt vielmehr das latente oder offen geäusserte Misstrauen, das manchen Wissenschaften aufgrund neuester Entwicklungen entgegenschlägt —ein Misstrauen, das am Ende «die Wissenschaft» schlechthin trifft, den von ihr angeblich zu erwartenden «Nutzen» oder ihre «Relevanz». Ich will die Situation nicht dramatisieren, doch ist es schon so: die genannten Vorbehalte stellen letztlich auch die Universität in Frage als diejenige Institution, wo «die Wissenschaft», ihrem Wesen nach, zu Hause ist. Was wir unsererseits dagegen vorbringen müssten, wissen wir natürlich genau, weil wir alle scheint's unablässig über unser Tun nachdenken und uns nur selten durch die verwirrende Fülle der «Tagesgeschäfte» vom Wesentlichen ablenken lassen. In der Folge jedoch käme es darauf an, über das Gedachte nicht nur verständlich, sondern auch überzeugend zu sprechen: ich träume, wie Sie merken, von so etwas wie einer Rhetorik im Dienste der Wissenschaft —vielmehr: sie ist ganz einfach zu fordern. Von ihrem sophistischen Ursprung freilich müsste sie sich lösen und —legitimiert durch die eigene Glaubwürdigkeit der Sprecherinnen und Sprecher —ganz in den Dienst einer wohl überlegten, einer verantwortlich abgewogenen Sache treten. Darum würde ich ihr als Wächter ihren schärfsten Kritiker Platon verordnen; denn haben auch die wenigsten Fakultäten metaphysische Wahrheiten anzubieten, so sind wir doch alle jener Wahrheit verpflichtet, die wir selbst nach bestem Wissen und Gewissen zu erkennen glauben.

Weiterführende Literatur

Classen C. J./Müllenbrock H.-J. (Hrsg.), Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung, Ars rhetorica 4 (Marburg 1992).

Fuhrmann M., Die antike Rhetorik. Eine Einführung (München /Zürich 1990).

Vickers B., In Defence of Rhetoric (Oxford 1988).