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Wissenschaft als Dialog

Basler Universitätsreden 98. Heft

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 24. November 2000
Schwabe &Co. AG . Verlag. Basel

Reihe Basler Universitätsreden, herausgegeben von der Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Basel im Auftrag des Rektorats

©2000 by Schwabe &Co. AG . Verlag . Basel
ISBN 3-7965-1486-3

Die Wissenschaft ist ins Gerede gekommen. Lange Zeit genoss sie das ungebrochene Vertrauen von Politik und Öffentlichkeit. Ihr kam eine Leitfunktion in der Gesellschaft zu. Diese Anerkennung ist Skepsis und Kritik, ja Ablehnung und Feindseligkeit gewichen. Auf doppelte Weise lässt sich dieser Wandel in der Einstellung zur Wissenschaft festmachen.

Zum Einen. Die moderne Wissenschaft hat ihren unmittelbaren Ursprung in der Aufklärung. Ihre Entstehung verdankt sie der Maxime, Wissen und Kenntnis brächten Gewinn und garantierten Fortschritt. Je weiter der menschliche Geist forsche, desto besser würde es der Menschheit gehen. Je mehr wir als Individuen wüssten, desto besser würden unsere Lebensverhältnisse sein. Wissenschaft diene dem Fortschritt, hiess die Losung. Indes, die Geschichte der modernen Wissenschaft hat gezeigt, dass ihr eine merkwürdige Doppeldeutigkeit innewohnt. Wissenschaft dient tatsächlich der Förderung des Lebens. Die Medizin hat die Reduktion von Infektionskrankheiten bewirkt wie die Biologie die Eindämmung des Hungers. Unzählige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind heute dem Ideal, Leben zu fördern, verpflichtet. Gleichzeitig hat die jüngste Geschichte das menschenverachtende, ja mörderische Potenzial von Wissenschaft ans Licht gebracht. Zum Beweis muss man nicht an die Extreme von Stalinismus und Nationalsozialismus denken, als sich Ingenieurwissenschaften oder Geschichtswissenschaften für verbrecherische Ziele funktionalisieren liessen. Auf durchaus subtilere Weise dienten und dienen etwa die Kulturwissenschaften politischen Hegemonieansprüchen oder pseudoreligiösem Weltanschauungsimperialismus.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich von einer um sich greifenden Wissenschaftsskepsis sprechen. Sie konzentrierte sich auf Wissenschaftsgebiete mit spektakulären Erfolgen und mit gesellschaftlicher Breitenwirkung, nämlich auf die Kernphysik und auf die Molekularbiologie, beides tatsächlich Wissenschaften mit «Ent-Deckungen», weil sie in Räume vorstossen, die uns bisher verschlossen

und verborgen gewesen sind. Die Zweideutigkeit von Wissenschaft offenbarte sich auf erschreckende Weise. Längst hat diese Skepsis eine politische Stimme erhalten. Galt die grün-alternative Bewegung in ihren Anfängen als sektiererische Spinnergruppe, so haben sich ihre Anliegen mittlerweile in vielen politischen und gesellschaftlichen Bereichen durchgesetzt. Die Maxime, Wissenschaft diene dem Fortschritt, hat sich als brüchig erwiesen. Sie ist durch die Wirklichkeit, die Erfahrung mit der Wissenschaft, widerlegt worden. Wer dieser Fortschrittsmaxime mit ihrem exklusiven Anspruch trotzdem heute noch huldigt, ist entweder naiv oder arrogant, vielleicht auch beides zugleich. Der Schwund an Vertrauen in die Wissenschaft hat seinen ersten Grund darin, dass ihr Nutzen strittig geworden ist.

Der zweite Grund für den Wandel in der Einstellung zur Wissenschaft hängt mit dem ersten aufs Engste zusammen. Es tut sich ein ständig breiter werdender Graben zwischen der Wissenschaft und der Alltagswelt auf. Unsere Alltagswelt ist bestimmt von persönlichen, sozialen, ökologischen oder anderen Interessen. Wissenschaft, insbesondere die Grundlagenforschung, scheint dieser Welt ganz entrückt zu sein. Ihr Sinn leuchtet nicht mehr unmittelbar ein. Das Auseinanderdriften von Lebensbereichen kennt die Wissenschaft selber auch. Zunehmende Spezialisierung der einzelnen Disziplinen erschwert das Gespräch und trägt zum Schwinden von Toleranz, Verständnis und Selbstkritik bei. Fehlende Achtung unter den wissenschaftlichen Disziplinen machte nicht einmal vor einer Figur wie Karl Jaspers Halt. Als Jaspers die Möglichkeit einer Emigration in die Vereinigten Staaten prüfte, weigerte sich Albert Einstein 1938, ihn zu unterstützen, indem er meinte, Jaspers' Philosophie sei «das Gefasel eines Trunkenen» 1. Wenn schon innerhalb der Wissenschaft oder der

Wissenschaften die Gräben tief und tiefer werden, um so weniger kann Wissenschaft erwarten, in einer breiteren Öffentlichkeit auf Verständnis zu stossen.

Wissenschaftsskepsis kann durch ein bestimmtes Selbstverständnis von Wissenschaft genährt, ja hervorgerufen werden. Die Aufklärung verknüpfte mit dem Wissensgewinn nicht bloss Fortschritt und Besserung. Von wissenschaftlicher Erkenntnis erwartete man noch mehr. Wissenschaft sollte den «Dingen» auf den Grund gehen, sollte durch Erfahrung, Beobachtung und Experiment die verborgenen Gesetze der Natur entschlüsseln, sollte die «Rationalität» der Welt enthüllen. Diese Einsichten aus der Natur liessen sich dann gebrauchen für vernünftige Lebensregeln, sei es für Einzelpersonen, sei es für die Gesellschaft. Rationalität in allen Lebensbereichen war angesagt. Und der Wissenschaft fiel die Aufgabe zu, für beides zu sorgen: zuerst für die Entschlüsselung der Regeln der Natur und hernach für die Erarbeitung von staatlicher Gesetzgebung und von individuellen Moralvorschriften. Beides gegründet auf Vernünftigkeit. Eine solche Wissenschaft ist darauf ausgerichtet, alle Lebensbereiche langsam, stetig, unaufhaltsam mit dem ihr eigenen Rationalitätsanspruch zu durchdringen. Diese Wissenschaft hat eine imperialistische Signatur. 2 Sie drängt dazu, andere Norm- und Wertsysteme, andere Weltanschauungen und Glaubensüberzeugungen aufzulösen und auszulöschen. 3 Dem Theologen liegt als Beispiel für die raumerobernde Herrschsüchtigkeit von Wissenschaft ihr Umgang mit dem biblischen Schöpfungsbericht nahe. Eine sich absolut gebende Evolutionslehre erklärt die Erzählung von der Erschaffung der Welt und ihrer Lebewesen in sieben Tagen für schlicht falsch. Dabei verkennt diese «Wissenschaft», dass eine solche Erzählung in einem

anderen, nicht-wissenschaftlichen Sprachraum beheimatet ist und dort durchaus ihre Gültigkeit hat. Wissenschaft hat es in sich, auf Eroberung aller Räume aus zu sein. Sie tut dies in der Überzeugung, die Wahrheit zu besitzen. Und genau da erhebt sich die Kritik. Einem solchen Anspruch erwächst Widerstand, ja Feindschaft. Wissenschaft wird als autoritär und bedrohlich erfahren.

Ich fasse zusammen. Die heute verbreitete Wissenschaftsskepsis hat ihren Grund darin, dass der Nutzen von Wissenschaft strittig geworden ist. Vor allem aber wendet sie sich gegen den exklusiven Anspruch, durch Wahrheitserkenntnis für die Rationalität aller Lebensbereiche zu sorgen und damit Fortschritt zu sichern. Spannung entsteht, wenn sich Wissenschaft heute noch explizit oder implizit eine intellektuelle wie gesellschaftspolitische Sonderrolle zuweist.

Vielfältig sind die Konzepte zum Abbau dieser Spannung. 4 Seit der Zeit der Aufklärung stellte es sich die Wissenschaft zur Aufgabe, ihre Einsichten einem breiteren Publikum nahezubringen. Diese Popularisierungsbemühungen halten bis in die Gegenwart an, auch wenn andere Zielsetzungen und Instrumente hinzugekommen sind. Heutige Kampagnen zielen auf Überwindung von Wissenschaftsskepsis und Technikfeindlichkeit, sie werben um öffentliche Zustimmung zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung. Zur Überbrückung des Grabens zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit sind neue Mittel und Wege gefunden worden: Der Wissenschaftsjournalismus hat sich als eigene Berufssparte etabliert; die Universitäten halten Tage der Offenen Tür; Wissenschaftlerinnen sprechen in Volkshochschulkursen; Wissenschaftler schreiben Zeitungskolumnen; Forschungsinstitute richten Homepages ein; und nächstes Jahr werden, erstmals in der Schweiz, landesweit koordinierte Veranstaltungen zur Begegnung von Wissenschaft und Gesellschaft

stattfinden. Ein grosses «Fest» soll dies werden. Allen diesen Konzepten liegt die Überzeugung zu Grunde, durch eine bessere «Vermittlung» von Wissenschaft die Zustimmung in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Insbesondere den Medien komme die Aufgabe zu, sachgerecht und publikumswirksam Wissenschaft darzustellen. Um so grösser ist die Enttäuschung, wenn sich der Erfolg nicht einstellt. Doch ist ein Scheitern unvermeidlich, solange Wissenschaft die überholte Vorstellung pflegt, Information und Aufklärung genüge. Weder die Medien noch die breitere Öffentlichkeit lassen sich heute auf diese passive Rolle der Vermittlung und Belehrung festlegen. Aufklärung, Information erhöht nämlich gerade die Kritikfähigkeit —und längst ist erkannt, dass Medien nicht bloss Botschaften transportieren, sondern selbst erzeugen. Das Wahrheitsmonopol von Wissenschaft lässt sich weder durch Hochglanzpapier noch durch telegene Science Stars noch durch spektakuläre Entdeckungen aufrecht erhalten. Will Wissenschaft wirklich die ihr heute in der Gesellschaft entgegengebrachte Skepsis überwinden, muss sie sich konsequent von der ihr in der Aufklärungsepoche zugewiesenen Rolle verabschieden. Wissenschaftliche Erkenntnis wird sich eingestehen, dass ihr nicht «die» Wahrheit zufällt. Sie kann nicht mehr leisten als einen Beitrag zum Erfassen, Verstehen und Bewältigen unserer Wirklichkeit. Wissenschaftliches Wissen definiert sich als Teil eines umfassenderen Prozesses der Entstehung und Entwicklung von Kenntnis.

Diese Art von Wissenschaft ist keine Zukunftsvision. Sie lebt bereits heute, unter, mit und neben einer monopolistischen Wissenschaft. Sie hat es gegeben, seitdem es Wissenschaft gibt. Sie gilt es zu fördern, um die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, zwischen Einzelwissenschaft und Einzelwissenschaft zu überbrücken. Um ihr Wesen zu kennzeichnen, möchte ich von «Wissenschaft als Dialog» sprechen. Im folgenden widme ich mich dieser «dialogischen» Wissenschaft. Zum Abschluss skizziere ich ein paar Beispiele von praktischen Konsequenzen für die Universität.

Bisher habe ich ein sehr einseitiges Bild von Wissenschaft gezeichnet, da ich einen wesentlichen Aspekt ausser Acht liess. Ich sprach über Wissenschaft «an sich». Doch diese gibt es nicht, denn Wissenschaft lebt in Organisationen und als System. Wissenschaft «an sich» mag global und dauerhaft sein, nicht sind es jedoch Wissenschaftssysteme, die sind temporär und lokal. Die moderne Wissenschaft entstand in den Gelehrten Gesellschaften, in den Akademien und in den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts. Ehrenwerte Gentlemen bildeten die Scientific Community. Sie mussten sich über Fachwissen ebenso ausweisen wie über einen untadeligen Ruf. Sozialer Status und ökonomische Absicherung machten Wissenschaftler erhaben über den Verdacht von Bestechlichkeit und Gefälligkeitsgutachten. Egalität und Individualität begründeten ein Klima des Vertrauens. Das förderte den Konsens in der gemeinsamen Suche nach Wahrheit und Rationalität. 5 Der Unterschied zum heutigen System von Wissenschaft sticht ins Auge. Dem individuell arbeitenden Gelehrten des 18. Jahrhunderts steht im 21. Jahrhundert die Spezialistin im Arbeitsteam gegenüber. Zum gelehrten Diskurs ist heute als beherrschendes Element der Wettbewerb hinzugekommen, sei es bei der beruflichen Karriere, sei es bei der finanziellen Absicherung von Forschung. Von Anfang an gab es in den Naturwissenschaften —und übrigens auch in den Geisteswissenschaften —ein praktisches, heute würde man sagen technologisches Interesse. Die ehrenwerten Mitglieder der Aufklärungsgesellschaften waren durchaus praktisch veranlagt und auf Verbesserung der täglichen Lebensbedingungen aus. Die Naturwissenschaften hatten immer Anwendungsaspekte. Sogar Madame Curie, häufig als personifizierte Grundlagenforschung bezeichnet, engagierte sich in industriellen Projekten. 6 Und solche praktischen Aspekte haben immer auf die Organisation von Wissenschaft gewirkt. Heutzutage zeigt sich dies in geradezu dramatischer Weise. In der industriellen

Forschung zum Beispiel fanden einschneidende organisatorische Veränderungen statt. 7 Herkömmlicherweise hatten Unternehmungen etwa der Chemie- oder der Metallindustrie gesonderte Forschungslaboratorien, die ähnlich wie Universitätsinstitute funktionierten. Im Zuge des zunehmenden Wettbewerbs sehen sich die Unternehmen genötigt, ihre Innovationsfähigkeit zu erhöhen und die Herstellungsdauer der Produkte zu verkürzen. Das führt zur Reorganisation der Forschungsabteilungen. Zentrallabors verschwinden, Forschungsgruppen werden unmittelbar den operativen Einheiten zugeordnet, die ihrerseits direkt inhaltlich wie finanziell auf die Forschung Einfluss nehmen. Unternehmen «kaufen» in zunehmendem Masse auf höchst unterschiedliche Weise Innovation, also Wissen, ein. Sie partizipieren in Forschungsprojekten oder schliessen sich mit anderen Unternehmen zusammen. Jedenfalls, und das ist mir an diesem Beispiel wichtig, Wissenschaft verändert ihre Sozialgestalt. Neue Kooperationen und Netzwerke entstehen, damit gehen geänderte Verantwortlichkeiten für das neue Wissen einher. In dieser neuen Form der Gewinnung von Innovation ist Wissenschaft eingebunden in einen über sie hinaus reichenden Prozess. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wirken in dieser Partnerschaft mit. Wissenschaft selbst hat beschränkte Reichweite, doch gewinnt sie soziale Nähe. Ihr Ort ist nahe bei Interessierten oder Betroffenen. Folgen wissenschaftlicher Entscheidungen werden von Anfang an mitbedacht.

Was hier als eine Sonderrolle von Wissenschaft in der industriellen Innovationskette erscheint, lässt sich verallgemeinern. Dies ist die Rolle von Wissenschaft, wenn sie ihren exklusiven Anspruch auf Wahrheitserkenntnis und Fortschrittsgarantie aufgegeben hat. Es ist auch die Situation universitärer Wissenschaft im Gegenüber zur Gesellschaft.

Von «der» Gesellschaft zu sprechen wäre allerdings eine unzulässige Vereinfachung, denn die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit zeichnet sich gerade durch Vielfalt aus. Trotzdem darf ein Kennzeichen allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Die westlichen Industriegesellschaften nehmen Züge einer «knowledge society», einer Wissensgesellschaft, an. 8 Mit diesem Begriff ist keineswegs nur an die Anwendung von Wissen in der Industrie oder in der Dienstleistung (wie der Medizin) gedacht. Vielmehr geht es darum, deutlich zu machen, dass «Wissen» für alle Angehörigen von Industrieländern zur Lebensnotwendigkeit geworden ist. Es ist Wissen, das ich habe, doch es ist vor allem Wissen, das ich anwende, um neues Wissen entstehen zulassen. Das reicht von der Beteiligung an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bis hin zur kulturellen Betätigung. Wissen wird zum Lebenselement der Gesellschaft. 9

Symbolhafte Deutlichkeit für die Wissensgesellschaft hat das Internet gewonnen. Es hält eine Informationsfülle von ungeahntem Ausmass bereit; steht weltweit offen; ist leichter zugänglich als irgendein anderes Informations- und Kommunikationssystem.

Indes: Die Informationsfülle des Internet bietet kein Ganzes, sie hat weder Zusammenhang noch System. Das Internet ist ein ins Groteske tendierendes Beispiel der Bruchstückhaftigkeit von Wissen überhaupt. Nur deshalb kann es so erfolgreich sein, weil es der Wissensgesellschaft das bietet, was sie erwartet: Weder ein kohärentes Weltbild noch eine Antwort auf die Sinnfrage, wohl aber abrufbereites Wissen: ein Wissenspotenzial, das erst durch Gebrauch zu wirklichem Wissen wird. Damit kommt das Internet mit seiner Informationsflut einer pragmatischen Haltung entgegen. Wissen zielt in erster Linie nicht mehr auf Sinn oder Kohärenz, wohl aber auf Anwendbarkeit.

Modernes Wissen bezieht sich auf konkrete Situationen und gewinnt dadurch verstärkt eine soziale Dimension.

Bei diesem Gebrauch von Wissen spielen rationale Kriterien nicht mehr dieselbe Rolle wie in den Wissenschaften selbst. Jetzt, bei der Anwendung von Wissen kommt Emotionalität ins Spiel. Das gilt für die biografische Verarbeitung genauso wie für politische Entscheidungen oder für sozialen Ausgleich. Emotion und Intuition zählen ebenso wie Sympathie und Abneigung. Gerade eine demokratische Gesellschaft hält beides, Rationalität und Emotionalität, in der Balance. Die Demokratie sorgt für die Bereitstellung von Wissen, das auf Rationalität ausgerichtet ist, und sie garantiert zugleich die Verwirklichung dieses Wissens in einem auf Konsens angelegten sozialen Verfahren.

Die Fragmentierung des Wissens und die Pragmatisierung des Zugangs zu ihm verschieben die Bildungsansprüche an die Menschen in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Bis in die Moderne wurden Breite, Tiefe und Kohärenz des Wissens als Voraussetzung für die Lösung anstehender Probleme betrachtet. Die Grundlage dafür war die Wissenschaft und die Beschäftigung mit ihr. In der durch die Bruchstückhaftigkeit geprägten Postmoderne tritt eine andere Konzeption in den Vordergrund. Es geht darum, aus verstreuten Wissenspartikeln schnell und effizient die für anstehende Problemlösungen benötigten Teile zu finden und zusammenzusetzen. Die Metapher dafür ist das bereits angesprochene Internet.

Wissenschaft wird dadurch nicht obsolet. Sie schafft im Gegenteil erst die Bedingungen für die allgegenwärtige Verfügbarkeit des Wissens. Ihre zunehmende Spezialisierung entfernt sie aber je länger je weiter von den Alltagszuständen der Gesellschaft und sie gerät unter zunehmenden Legitimationsdruck. Wissenschaft kann sich nicht mit der Bereitstellung von Wissen begnügen, sie muss zum Teil des Verfahrens sozialer Wissensgewinnung werden. Ich denke dabei zum Beispiel an juristische Expertise, die sich nicht auf ein eingeliefertes Gutachten beschränkt, wohl aber ein faires Verfahren zur Entscheidungsfindung

entwickelt und begleitet, ein Verfahren, bei dem alle Betroffenen in Rationalität und Emotionalität zu Wort kommen; oder ich denke an die Umweltchemikerin, die nicht Minimalstandards aufstellt, wohl aber gemeinsam mit einem einzelnen Industriebetrieb, mit betroffenen Anrainern und mit örtlicher Politik eine konkrete, lokale Lösung sucht; oder ich denke an den Molekularbiologen, der nicht bloss in einer Ethikkommission mitarbeitet, sich wohl aber direkt in der gesetzgebenden Körperschaft für einen vernünftigen Umgang mit der Gentechnologie einsetzt. Wenn es der wissenschaftlichen Stimme in einem solchen Prozess nicht gelingt, sich Gehör zu verschaffen, so ist weder Wahrheit verleugnet noch Wissenschaft kompromittiert, wohl aber aufs Neue die zutiefst menschliche Erfahrung bestätigt, dass aus Wissen nicht notwendigerweise rationales Handeln folgt. Eine so verstandene Wissenschaft wird Teil eines sozialen Prozesses, ja sie wird selbst zum Dialog.

Es drängt sich die Frage auf, was Wissenschaft in dieser skizzierten Rolle zu bieten hat. ja, noch konkreter gefragt, was hat die Universität zu bieten? In doppelter Weise nimmt die Universität an dem von mir skizzierten Prozess der Wissensgewinnung Anteil. Direkt, indem sich die Angehörigen der Universität in Forschung und Dienstleistung an der sozialen Gewinnung von Wissen beteiligen, und indirekt, indem sie Studierende auf diese Aufgabe vorbereiten. 10 Der Wissenschaft ist aufgetragen, für Rationalität einzustehen und Rationalität einzufordern. Nicht bloss bei der Lösung von Problemen, sondern schon beim Auffinden und Formulieren von Problemen. Dabei wird sich Wissenschaft in Bescheidenheit üben, sie bleibt nur glaubwürdig, wenn sie den Zweifel zur Methode erhebt und um ihre Begrenztheit weiss. Dialogische Wissenschaft ist unabgeschlossen, temporär gebunden, örtlich fixiert, sozial ausgerichtet, korrekturbedürftig und ergänzungsfähig. Wissenschaftliches Wissen ist

nicht ein Ganzes, wohl aber ein Bruchstück, ein Fragment, kurz, es hat den Charakter einer Erzählung und lädt deshalb zum Weitererzählen, zum Weiterspinnen ein. 11

Bei näherem Zusehen erweist sich, dass diese Form von Wissensproduktion immer schon existierte. Sie bestand neben einer imperialistischen, integrativen, totalitären Wissenschaft. Jedenfalls verlief die Geschichte der Wissenschaft weniger einlinig, als es den Anschein haben mag oder als manche glauben machen wollen. Nach einer ansprechenden Beweisführung konstatiert die Wissenschaftssoziologin Helga Nowotny, dass es die «reine Wissenschaft» überhaupt nie gegeben hat. Sie existierte nur in den Köpfen als Anspruch, um einen eigenen Raum, ein eigenes ungefährdetes Territorium zu verteidigen. Dieser «Mythos» ist heute entzaubert. 12 Unsere Gegenwart schärft der Wissenschaft die soziale Komponente ein. Sie lenkt sie zur Bescheidenheit und zur Bruchstückhaftigkeit, der Anspruch auf das Grosse und das Ganze geht verloren. Gerade damit erweist Wissenschaft ihre Zeitgemässheit, denn sie ordnet sich ein in die prägende Kultur der Gegenwart: die Postmoderne. Und die Postmoderne ist gerade durch Fragmentarität bestimmt. Wissenschaft ist als Teil dieser heutigen Kultur zu begreifen. Darin liegt unsere Herausforderung.

Abschliessend skizziere ich vier Konsequenzen für die Universität aus einem solchen Wissenschaftsverständnis.

1. Die Universität wird die Ausbildung der Studierenden auf die Anforderungen der sich schnell wandelnden Wissensgesellschaft abstimmen. In den neu erarbeiteten Studiengängen unserer Universität fördern wir die transdisziplinäre Reflexion. Entsprechende, in die einzelnen Studiengänge eingebaute Unterrichtseinheiten erlauben es den Studierenden, sich mit der gesellschaftlichen Bedingtheit ihres jeweiligen Fachgebietes zu befassen. Dabei denke ich insbesondere

an Themen wie Ethik, Gender, Umwelt oder Theorie und Soziologie der Wissenschaft.

2. Zu Beginn meiner Rede sprach ich von verbreiteter Wissenschaftsskepsis, ja Wissenschaftsfeindlichkeit. Ich erwähnte ferner die diffusen und beschränkten Erwartungen an die Wissenschaft. Zum heterogenen Bild der Gesellschaft gehört ebenso, dass es überzogene Ansprüche an die Wissenschaft gibt. Zwar soll sie nicht mehr die Menschheitsgeschichte lenken und die letzten Wahrheiten bereitstellen, wohl aber erwartet man von der Wissenschaft die Lösung grosser Probleme wie zum Beispiel die Besiegung «des Krebses» oder das Zum-Verschwinden-Bringen des Hungers in der Welt. Als der amerikanische Präsident 1997 das 21. Jahrhundert als das Zeitalter von Hoffnung, Wissenschaft und Technologie ausrief, schränkte er zugleich ein und warnte vor zu grosser Euphorie, denn die Wissenschaft sei nicht Gott. 13 Die Wissenschaft wird die grossen Erwartungen nicht erfüllen können und darf sie nicht schüren. Ihr Selbstverständnis muss auf das Bewusstsein ausgerichtet sein, nicht mehr als einen Beitrag zur Lösung dieser globalen Probleme liefern zu können, ein Beitrag, der eingeflochten ist in den viel breiteren Prozess politischer, wirtschaftlicher, kultureller und eben auch ethischer Entscheidungen.

3. Ich bin sehr kritisch mit der Wissenschaft umgegangen, habe von Bescheidenheit und Beschränkung gesprochen, doch in dieser Rolle der Bescheidenheit und der Beschränkung hat die Wissenschaft berechtigte Erwartungen an die Gesellschaft, und ebensolche konkreten Erwartungen hat die Universität. Wenn der Wissenschaft, um mich abgekürzt auszudrücken, die Aufgabe zukommt, methodisch gesicherte Rationalität einzubringen, dann ist sie auch daran und an nichts Anderem zu messen. Die Gegenbeispiele liegen auf der Hand. Es gibt gar nicht so leise Stimmen, die nach dem nachweisbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen «Nutzen» von Wissenschaft

fragen. Diese wiederkehrende Frage nach dem Nutzen bringt Wissenschaft in Verlegenheit. Denn sie lässt sich eben nur mit dem pauschalen Hinweis beantworten, dass wissenschaftliches Wissen, das Rationalität einbringt, für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar ist. Wenn dieses Wissen in dem von mir beschriebenen Sinne prozesshaft eingebracht und auf diese Art wirksam wird, dann lässt sich solches Wissen nicht einfach im Ausland «einkaufen» oder im Internet abrufen. Heutigentags wird häufig damit argumentiert, dass Wissenschaft und Universitäten nötig seien, um die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der Schweiz zu sichern. Das ist zweifelsohne richtig, aber ebenso richtig ist auch, dass die beiden anderen Grossbereiche der Gesellschaft, nämlich Politik und Kultur, ebenso unabdingbar auf Rationalität angewiesen sind. Nur die der Rationalität verschriebene Wissenschaft kann der gesamten Gesellschaft einen solchen Dienst tun, und deswegen ist es sinnvoll, nötig und unabdingbar, dass der Staat für Wissenschaft und Universität aufkommt — und zwar sowohl für Lehre als auch für Forschung.

4. Solche Wissenschaft muss gedeihen können. Und dazu braucht es schlicht und einfach «Geld». Abgesehen davon, dass die Aufwendungen des Staates für die Wissenschaft trotz deren gesellschaftlichen Bedeutung bedenklich niedrig sind, kommt noch ein weiteres hinzu. Ständig werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Universitäten und Forschungsanstalten aufgefordert, sich um die Finanzierung ihrer Forschungsarbeit zu kümmern. Bis zu einem gewissen Grad ist dies legitim und sinnvoll. Doch darf man nicht vergessen, dass Professorinnen und Professoren auch dafür bezahlt werden, nicht dauernd ihren Nutzen unter Beweis stellen zu müssen. Nicht bloss die sogenannte Grundlagenforschung, jede Wissenschaft hat ein gewisses Mass an finanzieller und organisatorischer Freiheit nötig. Nur dann kann Wissenschaft als unabhängige Partnerin in der Gesellschaft bestehen. Eine solche Unabhängigkeit unserer Universität zu sichern, wird die wichtigste Aufgabe der Zukunft sein.