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Gedächtnissrede auf

Gehalten nach der Enthüllung einer in der Aula des Polytechnikums aufgestellten Marmorbüste des Gefeierten

am 29. April 1874
von
H. Schweizer-Sidler.
Zürich
Zürcher und Furrer
1874.

geboren zu Zürich am 13. Februar 1787,

gestorben am 6. Januar 1849 ebendaselbst. / J. Caspar Orelli

Hochansehnliche Versammlung!

Fünfundzwanzig Jahre sind es, seit ich am offenen Grabe meines theuersten Lehrers J. C. Orelli im Namen meiner verehrten Collegen gesprochen und es versucht habe ein gedrängtes Bild zu entwerfen von seinen hohen Geistes- und Charakteranlagen, von seinem riesigen Arbeiten auf dein Felde der Wissenschaft, von seiner über alles Gemeine erhabenen Freiheit des Denkens in menschlichen und göttlichen Dingen, von seiner nachhaltigen glühenden Begeisterung für das Vaterland und die Durchbildung der gesammten vaterländischen Jugend, von seinem ganzen in wundervoller Harmonie stehenden Wesen und Leben. Das zu thun — nicht zu seinem Ruhme war es vonnöthen: es war der Ausfluss überströmender Liebe beim Abschiede, der Ausdruck des innigsten Dankgefühles gegen die Gottheit, die auch in ihm, dem in Wort und That gewaltigen Vertreter der Humanität, uns wieder sich geoffenbart, in ihm ein lebend Vorbild zur Kräftigung und Hebung uns gestaltet hatte. Wohl hatte mich auch damals ein Bangen ergriffen, für die Grösse des Mannes sei meine Kunst zu klein; aber die feierliche Stunde, meine Liebe zu dem Seligen söhnten mit der Unvollkommenheit meines Thuns aus. Alle fast, die au Orelli's Grabe standen, hatten ihn noch unter sich wandeln sehen, viele hatten mit ihm als Genossen des Amtes und als Freunde verkehrt, oder verehrten als Schüler den geistvollen Lehrer und trotz seinem Geizen mit der Zeit stets zugänglichen Berather; noch lebten die Verhältnisse, unter denen, die Zeiten, in denen er wirkte und schuf, damit die Bedeutung und Kraft seines Ringens und Schaffens im Ganzen und Einzelnen frisch in der meisten Erinnerung. Mochte meine Zeichnung noch so schwach sein, im Geiste der dem Todtenamte Anwohnenden gestaltete sie sich von selbst zum vollen Bilde.

Eine Marmorbüste Orelli's, aufgestellt in der Aula des früheren bescheidenen Universitätsgebäudes, sollte nach dein Willen der höchsten Behörden unseres Cantons das Andenken des Mannes wach erhalten, welchen wir kühn und ohne Verletzung anderer den geistigen Stifter

unserer höchsten Culturstätten nennen dürfen. Nachdem diese Büste seit dem Umzuge in diesen stolzen Bau im Verborgenen gelegen, soll sie nun nach dem Wunsche der heutigen Leiter des Staates und des Erziehungswesens einen um so ehrenvolleren Platz wieder gewinnen: sie soll die schöne Halle zieren, in welcher die obersten wissenschaftlichen Anstalten Zürichs und der Eidgenossenschaft ihre festlichsten Acte begehen, — ein einfacher Ausdruck reichen Dankes und bleibender Verehrung, welche das Volk des Ct. Zürich dem unermüdlichen, durch keinerlei Hinderniss zurückgeworfenen Streben und Schaffen seines Mitbürgers für die geistige Entwicklung des engem und weitern Vaterlandes bietet, eine sprechende Aufforderung zur Erinnerung an einen der hervorragendsten Zürcher und Schweizer.

Wiederum ist mir der Auftrag geworden nach der Enthüllung von Orelli's Bild mit meinem schwachen Worte dasselbe zu beleben. Sie glauben mir's, dass heute mein Bangen mächtiger ist; um wie viel mehr ist es doch heute gerechtfertigt, gilt es ja nicht mehr nur einzelne Pinselstriche hinzuwerfen, um sofort im Geiste der verehrten Mitfeiernden jene hehre Gestalt voll aufsteigen zu lassen. Kleiner ist schon die Zahl derjenigen unter den Zuhörern, denen die religiösen, wissenschaftlichen, staatlichen Verhältnisse zunächst unseres Vaterlandes, unseres Cantons, Zürichs in der Zeit, in welcher Orelli's Kraft sich stählte und durchbrach, klar vor der Seele stehen, kleiner die Zahl derjenigen, welche sein edles und bewegliches Antlitz, sein feuriges, geist- und gemüthvolles Auge geschaut, seine klangreiche und den Empfänglichen tief ergreifende Stimme gehört haben; ich selbst aber, wie hätte ich der allseitig reichen politischen und wissenschaftlichen Entwicklung seit 25 Jahren fern bleiben können und dürfen, wenn ich auch keineswegs zu jenen gehören will, welche in übermüthigem Stolze im Jubel der Ernte der Arbeit jener vergessen, welche gesäet haben. Die immer noch treibende Liebe zu dem edlen Vorkämpfer für Humanität und zu dem unmittelbaren Lehrer, innige Dankbarkeit, die ich als Zürcher und Schweizer einem Manne zu zollen habe, der im Sinne und Geiste der von ihm immer und immer wieder als helleuchtende Vorbilder hingestellten Reformatoren gewirkt und in den Ruhmeskranz der Vaterstadt und des Vaterlandes einen frischen und vollen Lorbeerzweig eingelegt hat, sie haben mich über das Bangen weggehoben; ermuthigt hat mich die Hoffnung Sie einst auf ein reiches Buch hinweisen zu können, in welchem Orelli's Leben in allen seinen markigen und zarten Zügen, in seiner Entwickelung und seinem muthigen

Ringen mit innereren Anfechtungen und mit äusseren Verhältnissen jeder Art, in seiner nie nachhaltig gebrochenen Idealität, welche mit ihrem Himmelsglanze noch das Antlitz des Todten in uns immer unvergesslicher Fülle verklärt hat, — auf ein Buch, in welchem all' das aus den lautersten Quellen mit liebender Hingabe dargestellt werden soll.

Darf ich mir in der kurz zugemessenen Zeit nicht gestatten Orelli's Knaben- und erste Jünglingsjahre näher zu schildern, so darf ich doch nicht übergehen, dass auch er der Sohn einer geistig und gemüthlich herrlich begabten, von der edelsten Begeisterung für das Göttliche durchdrungenen, in der Litteratur ihrer Zeit wohl bewanderten, allseitig äusserst regsamen Mutter gewesen ist. Sie hat mit heiligem Eifer zugleich und mit einer gegen ihre sonst rasche Beweglichkeit und Reizbarkeit sichtbar abstechenden wunderbar geduldigen Hingabe nicht nur die erste physische, sondern auch psychische Erziehung der ihr und einander bis zum Tode mit seltener Innigkeit zugethanen Kinder besorgt und geleitet. Wie dürfte ich's übergehen, da es Orelli selbst in dem eigenthümlich schönen Vorworte zu einer von ihm getroffenen Auswahl aus seines Pathen Lavaters Schriften so sehr betont, dass der Freundschaftsverkehr, in welchem Vater und Mutter Orelli's mit dem geistreichen und, wo es galt für die Idee einzustehen, muthigen Lavater, dem genialen Maler Heinrich Füssli, dem unsterblichen Begründer der echten Volksbildung, Pestalozzi, gestanden haben, auf sein Gemüth und seine Lebensschicksale tief eingewirkt hat. Ich muss es erwähnen, wie der stille, in sich gekehrte, aber seines Strebens und Wollens früh sich wohlbewusste Knabe durch emsigen Fleiss, lebendiges Gefühl für das Rechte und geistiges Geschick seinen Lehrer, der schon bei beginnendem eilften Jahre mit ihm Sallust lesen durfte, was der wackere Mann als Greis noch gerne äusserte, zur Bewunderung hinriss und ihn oft beschämte.

Mit überraschender Schnelligkeit durchläuft Orelli die philologischen, philosophischen und theologischen Classen des alten zürcherischen Carolinums und wird im neunzehnten Jahre zum Geistlichen ordiniert. Aber er ist nicht einer von den Vielen. Ausser den öffentlichen Schulen, welchen er mehr als andere abgewonnen, hat er seinen Geist durch den Besuch von Privatvorlesungen, unter denen ich absichtlich diejenigen seines in philologischen Publicationen ausserordentlich thätigen und von ihm dabei vielfach unterstützten Vetters, des Chorherrn Conrad Orelli, über griechische Dramatiker hervorhebe, und in viel höherem Grade durch Privatstudien bereichert.

Rastlose Thätigkeit, glückliche Empfänglichkeit für das Wahre und Schöne, lebendige Phantasie haben ihn auf dem Felde der hehren antiken Schöpfungen jetzt schon grosse Umsieht und tiefe Einsicht gewinnen lassen; offen liegt ihm das Gebiet der gesammten deutschen Litteratur der Neuzeit; genug Sprachkenntnisse hat er sich angeeignet, um den französischen, italienischen, spanischen Originalwerken nicht ferne bleiben zu müssen. Jetzt schon hat er sich in die allgemeine und vaterländische Geschichte eingelebt und zu den tiefgehenden Anschauungen über dieselbe, denen wir später bei ihm begegnen, den fruchtbaren Grund gelegt. Sein nil spernendum gieng aus dem idealen Streben hervor das Göttliche in seinem Walten in den Nationalitäten und individuen zu belauschen und sich selbst daran zur Humanität zu erziehen. Nun sehen wir den jungen Theologen im Begleite eines trauten Jugendfreundes ins Waadtland und, durch einen warmen Brief der Mutter eingeführt, zu Pestalozzi ziehen. Voll des feurigsten Enthusiasmus für das Neue, was sich ihm hier aufgethan, Geist und Herz wogend von der bei Niederer gewonnenen oder in ihm mächtiger entwickelten Weltanschauung, welche gegen die Worttheologie der Zürcher so gewaltig abstach, kehrte er auf kurze Zeit ins Elternhaus nach Zürich zurück.

Nachdem Orelli in Zürich die erste Frucht seiner philologischen Studien, die Uebersetzung einiger nemeischer Oden des Pindar, über welchen einst Zwingli so begeistert gesprochen, veröffentlicht hatte, führte ihn, in welchem Italienisches mit Germanischem so eigenthümlich gemischt lag, ein Glücksstern, mochte er auch unserm Orelli, den nur äussere Verhältnisse hinderten die Universität Heidelberg zu beziehen, jetzt noch nicht als solcher erscheinen, nach Italien, nicht um unter den Kunstschätzen und in den Bibliotheken von Florenz und Rom zu schwelgen — was er so sehnlich wünschte, ein Jahr in Florenz und Rom zu leben, ist ihm nicht zu Theil geworden — an eine Prediger- und Erzieherstelle bei dem reformierten Handelsstande in Bergamo.

Steinern müsste das Herz sein, welches nicht bewegt würde über den Bericht an die Mutter, wie der junge Pfarrer mit einem dreijährigen Kinde in Pestalozzischer Weise schulmeistert und über das Erwachen von dessen Seelenthätigkeit in Jubel ausbricht; empfindungshart der, welcher theilnahmlos bliebe bei der Darstellung des edeln geistigen Kampfes, den Orelli als Theologe und Prediger mit sich selber kämpft, bis er nach tiefem Sinnen eine Versöhnung gefunden, eine Versöhnung,

welche allerdings die starre Orthodoxie nie gutheissen wird, welche aber seine Vernunft und sein wahrhaft religiöses Gemüth befriedigte und seiner kleinen Gemeinde Erbauung brachte. Eifrig liest Orelli auch in Italien als Philologe und Theologe nach dem Vorgange unsers grossen Reformators die Alten, vornehmlich die Griechen; aber daneben wirft er sich mit einem Feuer und einer Emsigkeit sondergleichen auf die litterarischen Erzeugnisse Italiens und waltet auch unter ihnen bald als Philologe im umfassendsten und schönsten Sinne des Wortes. Form und Geist, wie sie aus dem nationalgeschichtlichen Leben stammten, Form und Geist, wie sie in den genialen, ihrer Zeit voraneilenden Schöpfungen einzelner hervorbrachen, durchschaute unser Gefeierte mit einem Blicke, der uns heute noch mit Bewunderung erfüllt. Wie gewaltig Dante ihn ergriffen, wie nachhaltig derselbe auf ihn gewirkt hat, das muss sein Biograph ausführen. Der Mutter schreibt er: Nach Christus, Johannes, Paulus hat Dante die hellsten, tiefsten Blicke in die Tiefen des Universums gethan. "Eine Poesie gibt es" lesen wir anderswo bei Orelli, "welche den Glauben an die positiven Lehren der Kirche im Gemüthe befestigt, von über dem Scheinbar-Wirklichen erhabenem Standpunkte aus die Weltordnung jenen Lehren gemäss erklärt und rechtfertigt. Dante ist hierin der erhabenste Meister." Sofort werden treffende Analogien mit anderen Nationallitteraturen gezogen, analoge Bestrebungen und Ergebnisse, wie zwischen Vico und Niebuhr, zwischen Vittorino von Feltre und den neuem Erziehungsmethoden aufgedeckt. Aber als Philologe zeigt sich Orelli auf dem Gebiete der italienischen Litteratur auch darin, dass er mit liebender Hingabe und Genauigkeit die Ueberlieferung der Texte verfolgt und die Schäden, die im Laufe der Zeit an der reinen Schöpfung sich angesetzt haben, zu heilen versucht. Manches, was Orelli für italienische Litteratur zu thun vorhatte, ist ungethan geblieben; aber eine Menge kleinerer und grösserer geistvoller Abhandlungen, originelle historische Sammlungen, gelungene Uebersetzungen, kritische Ausgaben von Dichtern und Prosawerken, die sich fast durch sein ganzes Leben hinziehen, theilweise auch Programme unserer hohen Schule zieren, Vorlesungen über die grossen Meister in jener Litteratur am alten Carolinum und der neugestalteten Universität: sie sind laute Zeugen dafür, wie sehr die italienischen Geisteserzeugnisse sein eigenes Geistesleben befruchtet haben.

Aber von Italien aus beginnt Orelli auch seine gewaltige Wirksamkeit auf dem Gebiete antiker Philologie. Ironisch nennt er sich

in dem Vorworte zur Ausgabe der Rede "über den Umtausch" von Isokrates, welches er an seinen Zürcher Lehrer, den geschmackvollen Philologen Hottinger, richtet, einen Dilettanten auf diesem Gebiete; ist ja doch kaum die Aufgabe des Philologen je würdiger und begeisterter aufgefasst worden als in eben diesem Vorworte. In tiefem Zusammenhange mit Orelli's Alterthumsstudien steht der grossartige Plan, den er unter italienischem Himmel gefasst hat. Der Eindruck, den die erhabenen Muster Italiens auf ihn machten, bewog ihn eine neue Geschichte der Redekünste Italiens zu unternehmen, worin endlich der Cyklus der dahin gehörigen Kunstwerke, die ihnen zu Grunde liegenden Ideen, das geistige Leben selbst, aus dem sie hervorgiengen, und seine äusseren Schicksale als ein organisches, von nothwendigen Gesetzen bestimmtes Ganzes erscheinen. "Die Entwickelung der Kunst bei jedem neuem Volke kann nicht eher dargestellt werden, als man aus der Geschichte der griechischen Litteratur befriedigenden Aufschluss darüber erhalten hat, welchen nothwendigen Gang die Natur selbst der Kunst vorschrieb. Aus keiner Aesthetik dürfen die Gesetze der Kunst entlehnt werden, ahnen und erkennen muss man sie in dem, was Athen, Rom, Firenze bewunderten." Die Zucht durch das classische Alterthum auch in andern Richtungen hat Orelli oft hervorgehoben, wie er einst in einer prächtigen Streitschrift dem jungen Theologen zuruft: So konntest du traute Bekanntschaft mit den Dichtern, Weisen, Rednern und Geschichtschreibern von Hellas und Rom schliessen, welche den Empfänglichen so freundlich in ihren hehren Bund aufnehmen und vermöge ihrer Kraft im Wollen und Handeln, ihrer Wahrheit im Denken, der begeisternden Schönheit ihrer Kunstwerke nicht als Todte, sondern als der irdischen Hülle entledigte Geister zu dein sie verstehenden Geiste sprechen. In der Bearbeitung der Rede selbst hat er den Beweis geleistet, wie gründlich er es verstehe den Text eines Alten seiner erkannten Individualität und litterarischen Stellung gemäss zu gestalten und auszudeuten. Und hier sind sechs kritische Briefe hinzugefügt, aus denen sattsam hervorgeht, in welch' gewaltigem Umfange eine gründlichste Lectüre Orelli's sich ausgebreitet hat: Briefe über einige Stellen Platons, Xenophons, des Maximus von Tyrus, des Aristoteles, Cicero, Tacitus, Aeschylus, Euripides, der Anthologie, des Quintus, des Heliodorus, und der sechste über Dante Alighieri.

Der künftige Biograph wird es ausführen, wie Orelli an die neue Cantonsschule in Chur gekommen und wie eindringend er dort gewirkt

hat, wie er als Lehrer des Italienischen, leider, wirft er einmal scherzend hin, auch des Französischen, der deutschen und griechischen Litteratur die Jünglinge mächtig angezogen, in ihnen gegenüber weniger günstig einwirkenden Verhältnissen, dem fremden Söldnerdienste und dem Conditorenwesen, Liebe zur schweizerischen Eidgenossenschaft festigte und entflammte und den Sinn für die Würdigung des echt Menschlichen ihnen einflösste, wie er im schönen Bunde mit gleichgestimmten Amtsgenossen die edelsten Genüsse feierte und förderte, wie er, mit dem Nibelungenliede im Urtexte bekannt geworden, sofort wieder einen tiefen Blick in jene germanische Entwicklungsperiode gewonnen, wie ergreifend er beim bündnerischen Reformationsfeste gesprochen, wie markig und schlicht er von der Kirchenneuerung zum Volke geredet, wie er neben einer Masse von pflichtigen Unterrichtsstunden, welche er im heiligen Drange noch durch freiwillige steigerte, von Stunden, in welchen er mit Leib und Seele dabei war, dennoch nie aufhörte lebendig litterarisch thätig zu sein, wie ihm aber auch neben der lauten Anerkennung, die in der Schenkung des Bürgerrechtes des Gotthausbundes lag, das ihm jederzeit in den Tod verhasste Spionieren eines Vorstandes und seine kalten Zurechtweisungen herbes Leid bereiteten.

Ergreifend war der Abschied, den Freunde, Lehrer und Schüler in Ragaz von Orelli nahmen; mit Jubel wurde er von den Jünglingen, von den grösser und freier denkenden unter den Bürgern und künftigen Collegen in Zürich begrüsst, als er hier in der Stellung des professor eloquentiae und des Lehrers der Hermeneutik und der Einleitung ins neue Testament am Carolinum eintrat.

Gerechtes Staunen erregt es, sehen wir auch nur auf die Gelehrtenthätigkeit, die unser Gefeierte von seinem kräftigen Mannesalter an bis in seine letzten Lebenstage in Zürich entwickelt hat. Neben einer Fülle kritischer Textausgaben von griechischen, lateinischen, italienischen Classikern, neulateinischen Dichtern, Abschnitten aus Kirchenvätern u. s. f., welche theilweise zu besonderen Zwecken als Programmabhandlungen erschienen sind, gehen in früheren Zeiten in rascher Folge Ausgaben mit ganz eigenthümlich angelegten, dem lebendigen Worte des Lehrers und der Wiederholung der Studierenden zur Stütze dienenden Schulcommentaren, in späterem Zeiten solche mit voller allseitiger Erklärung einher, und treten Zeugnisse davon hinzu, wie heimisch Orelli in der Gelehrtengeschichte ist, und erfreuen uns eingehende kritische Untersuchungen durch ihre Klarheit und Bündigkeit. Lassen Sie mich

von dem unendlich Vielen nur Einiges nennen. Nachdem Orelli schon im Jahre 1822 in der Auswahl aus lateinischen Dichtern eine grosse Anzahl Texte von lateinischen Dichtern alter und neuer Zeit, welche er nach allen ihm zustehenden Mitteln restituiert, mit der eben bezeichneten originellen Art von Commentar, die nur möglich ist, wenn der Herausgeber aus dem Vollen schöpfen kann, veröffentlicht hatte, wagte er sich im Jahre 1826 an die Herausgabe eines Werkes, welches ausser der umfassendsten Gelehrsamkeit ein seltenes Mass von Geduld und Beharrlichkeit erheischte, ich meine die Gesammtausgabe des Cicero. Wie man auch über Cicero urtheile: er besitzt ein eminentes Darstellungstalent, er ist eine hochbedeutsame Quelle für römische Litteratur- und Staatsgeschichte, er ist ein grosser Vermittler der hellenischen und neuem Welt. Wie es gekommen, dass der Cicerotext in grosse Unsicherheit gerieth, das zu zeigen liegt mir heute fern. Das Trübe zu läutern in einem Werke, welches zweifelsohne in der Litteratur, für welche Orelli kraft seines Amtes zunächst zu wirken berufen war, eine hervorragende Bedeutung einnahm, darin sah er, der überdies jedesmal, wenn eine bedeutende Arbeit von ihm in die Oeffentlichkeit trat, auch für Zürich sich freute, eine seiner Lebensaufgaben. Zunächst sollte nur eine Recognition, nicht eine Recension des Cicerotextes erstellt werden, daran eine zweite und eine dritte weitere Aufgabe sieh reihen. Alle Gesammtausgaben und die in irgend einer Beziehung bedeutsamen Ausgaben einzelner Schriften des Arpinaten, der so viel und vielerlei geschrieben, waren mit genauestem Fleisse durchgearbeitet, die verschiedenen Lesarten zunächst der erstem verzeichnet und ihre Bedeutung reiflich erwogen worden. Nicht will ich nun davon reden, wie Orelli rasch seinen Plan erweiterte, dass er bald auch handschriftliches Material, welches ihm die Bibliotheken der Schweiz, die Zuvorkommenheit ihn hochhaltender Gelehrter in Paris, Leyden und anderwärts geboten hatten zugezogen, wie dadurch ihm vollends eine reinere Textesgestaltung, eine umfassendere Geschichte der vorliegenden ermöglicht worden, wie Orelli sich nicht damit begnügte den Text zu bearbeiten, sondern dann, von seinem Freunde und Collegen, Professor Baiter, unterstützt, noch vier Bände der werthvollsten Beigaben hinzufügte. Ich will nicht ausführen, wie fort und fort Orelli in Verbindung mit dem treuen Genossen um Cicero beflissen war und die Freude hatte noch eine neue Ausgabe des vielbändigen kostspieligen Werkes beginnen zu sehen, deren Basis handschriftliche Ueberlieferung

ist. Thun wir einen Blick in einen der stattlichen Cicerobände, wir erstaunen über die Riesenarbeit, welche der Idee diente. Und während noch der Druck des Cicero fortschreitet und die Druckcorrecturen grosse Zeit beanspruchen, erscheint im Jahre 1828 ein neues Hauptwerk Orelli's, eine umfassende Sammlung lateinischer Inschriften in fein ausgedachter Anordnung. Gesammelt hatte Orelli über fünftausend, für die Sammlung über vierzig tausend Inschriften gesichtet, wie sie theils in grossen Inschriftenwerken vorlagen, theils in Zeitschriften und Museumsbeschreibungen zerstreut waren, theils für ihn von den Denkmalen gezogen wurden; geordnet hatte er sie so, dass sie nach Zeit und Ort einen grossen sichern Ueberblick gewährten von den einzelnen Verhältnissen des Staats-, Religions- Privatlebens im ganzen gewaltigen Römerreiche und eine Fundgrube für den wurden, der die Geschichte der Römersprache. verfolgen wollte. Geschick und Geschmack hat dieser Arbeit niemand abgesprochen; dass seitdem die genauere Darstellung und die Kritik der Inschriften mächtig fortschritten, wer sollte das nicht anerkennen und sich dessen nicht freuen? Wir gehen über die Ausgaben von dem Taciteischen Dialog, des Phädrus, Vellejus, Sallustius, über so viele andere Früchte philologischer Arbeit Orelli's hinweg, dürfen es aber nicht unterlassen seiner Bearbeitungen des feinfühlenden Dichters Horatius und des wuchtigen Geschichtschreibers Tacitus zu gedenken. Nicht bloss hat er auch hier das Verdienst viel zur Reinigung ihrer Texte beigetragen zu haben: er hat durch seinen reichen und sinnigen Commentar seinen Lieblingsdichter, dem er fast die letzten Stunden seines Daseins widmete, was er in dem eisernen Zeitalter nicht zu hoffen wagte, auch in die nicht-philologische Welt wieder eingeführt und sah seine Leistung besonders in den romanischen Ländern und England freundlichst begrüsst. Aus Orelli's Erklärungen zu Tacitus heben wir diejenigen zur Germania hervor, für welche er schon in seinem ersten Zürcherprogramm 1819, gehoben durch die Erinnerung an altgermanische Kraft, Treue, Freiheit, so Schönes geleistet hatte. Da sehen wir unsern Philologen wohlbewandert in den in barbarischem Latein auftretenden alten germanischen Volksgesetzen, in des unsterblichen J. Grimm wundersamen Neuschöpfungen, in allen Forschungen über Geschichte, Wohnort der alten Germanen; und Stellen aus dem altdeutschen Liede beleben die knappe Zeichnung des Römers. Gerne half Orelli mit, als sein Freund und Amtsgenosse Baiter daran gieng eine Gesammtausgabe des Plato zu erstellen, hatte er doch dem

hellenischen Weisen so viel zu danken. Orelli's Biograph wird, was Orelli ausser solchen Hauptwerken an Beiwerken schuf, aufzählen, es loben, wie er auch auf diesem Felde selbstlos überallhin beigesprungen und bei allem eigenen Schaffen, in schneidendem Gegensatze gegen viele seiner gelehrten Genossen, anderer redliche Leistungen mit liebenswürdiger Humanität aufnahm.

Und hätte Orelli nur in dieser Weise geschaffen, er hätte Grosses gethan. Dass er seinen Gesichtskreis bis in die letzten Tage seines Lebens erweiterte, selbst an den neuen Aufschlüssen über Indien und Persien lebendigen Antheil nahm, das ist uns nach seinem tiefen Streben die gesammte Entwicklung der Menschen kennen zu lernen, vielleicht gar nicht mehr auffallend. Orelli war aber auch Lehrer und nicht ein Lehrer, dem das Amt eine Bürde war: eine Weihe seines Lebens sah er darin Höheres anstrebende Jünglinge, welche die erhabene Bestimmung hatten einst die heiligsten Interessen ihres Vaterlandes und der Humanität zu vertreten, in den Tempel der Wissenschaft einzuführen und in ihnen die Begeisterung für die Ideen wachzurufen, in denen sich die Gottheit dem Menschen offenbart. Er war bis ins Jahr 1833 auch theologischer Lehrer, ein Theologe, wie er sich selbst in einem kritischen philologischen Briefe an den Dänen Madwig nennt, liberioris sectae, frei, aber tief religiös. Von Christus' Erhabenheit in Wort, That und dem Werke in der Religionsstiftung im Innersten durchdrungen, in ihm unter den grossen Religionsstiftern den grössten bewundernd, mit dessen individueller Offenbarung diejenige der menschlichen Vernunft, des Universums und der Geschichte im schönsten Einklange stehe, von höchster Verehrung für Johannes und Paulus erfüllt, forscht er, von aller Frivolität himmelweit entfernt, aber durchaus frei und als echter Historiker nach Entstehungsart und Zeit der vorhandenen heiligen Schriften, beurtheilt als Historiker den neutestamentlichen Kanon. Mit zarter Hand aber, wie ein sinniger Künstler, rührte er an den Mythus der altchristlichen Tradition; im tiefen Verständnisse der darin liegenden poetischen Wahrheit wollte er das feine Gewebe des orientalischen Geistes nicht nach der Rationalisten Art in Stücke zerreissen. Die Phantasie war ihm eine den Werth des Lebens erhöhende Gottesgabe, und er verspottete nicht eines Sokrates, eines Paulus Verzückung. Ein kühner Held aber unternahm er den Kampf für den echten Protestantismus gegen Jesuitismus jeder Art, gegen selbstsüchtige Hierarchie, gegen verirrten Mysticismus, gegen wilde Sectirerei, für das Licht gegen

die Finsterniss. Aus wahrer Liebe zum Volke, und weil er die Religion heilig hielt, kämpft Orelli mit Macht auch gegen jene, welche aus unreiner Verfolgungssucht oder in geistiger Beschränktheit ihre Angriffe gegen die freie Wissenschaft dahin schleudern, wo nun einmal die gründliche Vorbereitung zum Verständnisse der Wissenschaft nicht vorhanden sein könne, und lehrt so tief und schön, wie der wahrhaft protestantische Prediger ohne irgend welchen Lug und Trug die Gemeinde reichlich zu erbauen angethan sei. Aus der herrlichen Rede, welche Orelli nach der Berufung von Strauss an die Studierenden, welche ihm, ob sie mit seiner amtlichen Stimme einverstanden waren oder nicht, ihre unwandelbare Hochachtung bezeugen wollten, gehalten hat, strahlt uns ganz dasselbe Bild des einstigen theologischen Lehrers entgegen; und wie heilig ihm das Göttliche war, wie sehr er dem Volke die hohe Weihe des Lebens gönnte, wer sollte das nicht aus jener Ansprache herauslesen, mit welcher er sich in der stürmischen Zeit an das Volk gewendet hat? Wer nicht aus dem neun Jahre vorher dem H. Kirchenrathe gegenüber freimüthig geäusserten Worte über eine neue Synodalordnung?

Orelli ist überhaupt nach allen Richtungen und in alle Schichten hinein ein nie ermüdender Vorkämpfer für die Humanität, strebt überall die Ideale für das Leben fruchtbar zu machen und ist in seiner innersten Seele freudig bewegt über alle Erscheinungen, die einen Durchbruch derselben verkünden. Die Partien in der Geschichte, in welchen ein solches Vordringen sich geltend macht, begeistern ihn, die Zeit der Reformatoren, das Auftreten eines L. Socinus; trauernd steht er über denjenigen, in welchen Todesschlummer die Geister zu bannen droht. Weil ihm ein Ideal sich zu verwirklichen scheint, ist er mit Herz und Seele ein Philhellene und betheiligt sich für die ihm heilig erscheinende Sache mit einer trefflichen Uebersetzung von Korai's politischen Ermahnungen und der hellenischen Verfassungsurkunde; er, der nie mit seinen wohlberechtigten Ehrentiteln, wie sie ihm ausländische und inländische Akademien verliehen, prangte, nennt sich auf dem Titel der Dialogusausgabe: civis Turicensis, Raetus, Graecus. Durchglüht ist er von der Idee der eigenthümlichen Entwicklung seines Vaterlandes und von dessen Geschichte gehoben. Darum äussert er sich klar und frei gegen alle Bevormundung von aussen, eifert gegen die traurige Selbstsucht, gegen Cantönligeist und Classenscheidung jeder Art im Innern, tritt mit eindringendem Worte für höhere sittliche Ordnung und Eintracht auf. Die Idee aber der Gerechtigkeit und der

sittlichen Ordnung, das feste Vertrauen auf die Macht des Geistes, die thatsächlichen Greuel der Helvetik liessen ihn Schauder empfinden vor einem gewaltthätigen Durchbrechen der Schranken. Die wuchtigste Waffe für die Erkämpfung und Behauptung der bürgerlichen und menschlichen Rechte, den sichersten Schutz gegen Gemeinheit und Selbstsucht sah unser Gefeierte in der leiblichen, geistigen und gemüthlichen Durchbildung des Volkes in Haupt und Gliedern, und dafür sprach und wirkte er im Schosse der Erziehungsbehörde und ausser derselben geistvoll und mannhaft. Edleres und Ueberwältigenderes über die Durchbildung des gesammten Volkes kann nicht gesagt werden, als was unser Orelli zu dun Turnern Zürichs, zu den hervorragendsten eidgenössischen Männern in Schinznach gesprochen hat. Sollte mich die Liebe täuschen, wenn ich in heiliger Andacht lausche auf den Ausdruck göttlicher Begeisterung für Menschheit und Vaterland, auf die erhabenen Lehren und die klaren Wegleitungen des weisen Mannes? Und so redete Orelli in den ersten Zwanzigerjahren! Im Jahre 1825 erscheint, in Manuscript gedruckt, ein Schriftchen "Gedanken über die Wünschbarkeit und Möglichkeit eines Privatvereines für die Bildung und Unterstützung der Landschulen des C. Zürich." Paulus Usteri zeigt es in seinen Litteraturblättern so an: Der Verfasser ist der um jene geistig-sittliche Bildung, welche alle Volksclassen bedürfen, nicht minder als um die wissenschaftliche und gelehrte Berufsbildung, welche den künftigen Leitern des Staates und der Kirche u. a. nothwendig ist, vielverdiente Professor J. C. Orelli. "Was die höheren Unterrichtsanstalten betrifft," sagt Orelli im Jahre 1822 in der helvetischen Gesellschaft, "aus welchen die Leiter des Volkes im Staat und Kirche hervorgehen, so gedenke ich nicht bei den länger bestehenden zu verweilen, wovon, wie bekannt, einige halb entschlummert in ihrem alten Gleise gewöhnlich fortschlendern, ohne dass die Regierungen daran dächten sie den Erfordernissen der Zeit und ihres Landes genau anzupassen." Gewiss zählte Orelli unter diese Unterrichtsanstalten das zürcherische Carolinum, das er in einer seiner Programmabhandlungen einem morschen Baue vergleicht, dem alles Flicken nicht zur Erfrischung verhelfe, dem gesunder Organismus und entschiedener Character abgehen, die propädeutischen sogenannten Gelehrtenschulen Zürichs, die vom Ganzen abgerissenen Institute, das medicinische und politische, die Kunstschule, welche später erst durch die eifrigen Bemühungen und Opfer von Privaten mit einem technischen Institute ergänzt

ward. Nicht darf ich mir heute erlauben den ganzen Nichtorganismus und die allseitige Unvollkommenheit des damaligen niedern und höhern Schulwesens im Einzelnen weiter zu zeichnen; Orelli aber in Verbindung mit andern einsichtigen und edeln Vaterlandsfreunden, einem Usteri, Hirzel, Hottinger u. a., scheute keinen Zeitaufwand und keine Mühe einen allumfassenden würdigen Neubau zu gestalten. Im Jahre 1830 hatte er mit Escher und Hottinger die unter jenen Verhältnissen keineswegs leichte Aufgabe, den Entwurf einer neuen Organisation des gesammten Schulwesens des C. Zürich vollendet, und schon war derselbe vom Erziehungsrathe und kleinen Rathe gut geheissen, als der Tag von Uster die aus dem Morgenröthe durchbrechende Sonne ankündigte. In jenem Plan war das Gymnasium von den Berufsschulen für Theologie, Medicin, Staatswissenschaft ausgeschieden, diese erweitert und unter sich schon dadurch in nähern Zusammenhang gebracht, dass sie alle das Gymnasium voraussetzten. Daneben stand eine technische Schule für Gewerbe und Künste, immerhin mit vorherrschendem wissenschaftlichen Character. Warum dachte denn Orelli nicht jetzt schon an einen Umbau der Berufsschulen zu Einer Hochschule? Wohl dachte er mit ganzer Seele daran, er, dem ja die freieste Bewegung der Wissenschaft so sehr als einem am Herzen lag, er, der so sehnlichst den Lehrkörper Zürichs von Deutschland her erfrischt gesehen hätte, "da unsere geistige Nationalität sich ja aufs innigste an die deutsche anschliesse, so unvereinbar in jener Lage der Dinge die politische Einheit bleibe," er, dessen höchster Wunsch schon im Jahre 1822 auf eine Nationaluniversität gegangen ist. "Aber für eine wirkliche Hochschule sind wir" so hörte man ihn seufzen, "leider Gottes zu arm."

Haben nun unsern Gefeierten in den ersten Zeiten der neuen Ordnung der Dinge mancherlei Besorgnisse beschlichen, es möchte wildes Losstürmen die gesunde Entwicklung stören, es möchten Ehrgeiz und Selbstsucht die reine Verwirklichung seinen Ideale frevelhaft verwirren. es möchten fremdländische Gelüste die Schweiz und den Canton Zürich zur Versuchsstation erkiesen, immer stand er doch unentwegt für die Volksrechte, immer unentwegt für die freie Staatsschule ein. Als das alte Chorherrnstift und das Alumnat gefallen, damit ein grosses äusseres Hemmniss weggeräumt, einige ökonomische Mittel flüssig geworden waren, als die edelsten und einsichtigsten Männer des Cantons Zürich das Volk als opferwillig erklärten die Schule von unten bis oben auf- und auszubauen, da war Orelli im Erziehungsrathe ohne Unterlass thätig

seine heissesten und so selbstlosen Wünsche vollkräftig zu verwirklichen. In Scherr war der Mann gefunden, der vorzüglich befähigt war das Volksschulwesen auf allen Stufen zu ordnen; Orelli darf seine ganze Kraft der Einrichtung einer Cantonsschule, der Schöpfung einer Hochschule zuwenden. "Will Zürich's Staat seine seit drei Jahrhunderten behauptete wissenschaftliche Ehre fürderhin bewahren, so bedarf er jetzt der von uns beantragten Hochschule, nicht mehr einer blossen Landesanstalt, sondern einer freien Burg der Wissenschaft für die gesammte deutsche Nation," so lautete Orelli's Votum im schaffenden Erziehungsrathe von 1832; dieses Votum wollte er unter sein Bild gesetzt wissen. Die letzten Worte dieses Votums sind nicht eitle Declamation, sind nicht der Ausdruck verwegenen Stolzes. Hören Sie denselben Mann im Jahre 1839 in seiner Ansprache an die Zürcher Studierenden: "Oft dachte ich in den seligen Momenten des Schaffens an die ursprüngliche, der äussern Form nach bis 1648 sogar politische Einheit des schweizerischen und deutschen Volkes. Geistig bleibt sie immerfort und bleibt durch die gemeinsame Nationallitteratur unvertilglich, bis entweder wir oder aber die Deutschen Barbaren werden, ohne Poësie, ohne Philosophie, ohne — doch wozu soll ich Ihnen die übrigen Richtungen des göttlichen Gedankens in der Menschheit aufzählen, welche sich alle organisch gliedern und deren belebender Mittelpunkt die Idee der Wissenschaft bildet. Ferner wusste ich, wie im sechszehnten Jahrhundert Zürich die Freistätte war für so manchen von den Priestern verfolgten Denker und Glaubensheld, und ich sah im Geiste dieselbe Erscheinung wiederkehren, wenn ich auch damals nicht ahnen konnte, wie weit es hierin noch kommen könne. Allein das Unerhörte ist geschehen — in Göttingen!" Als junger Gymnasiast sah ich in das wonnetrunkene Auge meines künftigen Lehrers, nachdem vom Rathssaale die Kunde erschollen, die Vertreter des Volkes haben die hohe Stiftung gut geheissen; die Rührigkeit Orelli's, um der Neuschöpfung tüchtige Kräfte zu gewinnen, die herzliche Freude, mit welcher er diese Männer begrüsste, die Wärme, mit der er die Hochschule den Universitäten Deutschlands und den Studierenden anempfohlen, das darf ich nicht schildern. Aber der Freude ward auch etwas Leid beigemischt. Anfangs untersagten die deutschen Regierungen ihren Angehörigen den Besuch schweizerischer Hochschulen; O. täuschte sich in der Hoffnung, dass mindestens die östlichen Cantons der Schweiz mit Zürich sich zum vollendetem Ausbau der Universität einigen möchten, durfte er auch

bei der damaligen Verfassung der Schweiz den kühnen Gedanken nicht wagen, dass, was er nicht nur als Zürcher, was er als tiefblickender feuriger Vaterlandsfreund so sehnlich wünschte, die Cantonaluniversität zur eidgenössischen sich erweitern werde. Mit dem Zorn des Gerechten aber erhob sich unser Gefeierte, wenn im ersten Jahrzehent Einzelner böser Wille oder beschränkte Erkenntniss die Hochschule schwächen wollte oder gar ihr den Untergang drohte. Im Jahre 1839 zeichnete er mit den lebendigsten Farben das Verkehrte und Schändliche, das Unsinnige und Grässliche der Zerstörung der höchsten freien Bildungsstätte. An dem festem Einwurzeln der Hochschule in dem Boden des Zürcher Volkes konnte Orelli sieh noch erfreuen, den umfassenderen Ausbau derselben sollte er nicht mehr erleben.

Dein Geist, grosser, edler Orelli, der Du neidlos, über alles Gemeine erhaben, vorn Jünglingsalter bis zum Tode mit derselben heiligen Begeisterung für die Idee, mit derselben glühenden Liebe für das Vaterland die Leuchte der Freiheit und Wahrheit vorgetragen hast, — Dein Geist walte über uns Lehrern und Jüngern der Wissenschaft, über Regierung und Volk des Vaterlandes!