Die
Entstehung des Alten Testaments,
Rede
zur Rektoratsfeier des Jahres 1896
und
zur Einweihung der neuen Basler Universitätsbibliothek
am 6. November
gehalten von
B. Duhm.
Zweite, durchgesehene Auflage.
Tübingen
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1909.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von H. Laupp jr. in Tübingen
Einen Tag haben wir im Jahr, wo wir, Docenten
und Studenten, uns mehr als sonst dessen bewusst werden,
dass wir eine Universität sind, wo wir uns versammeln
mit dem Gedanken, dass wir alle, so viele verschiedenen
Arten des Forschens und Erkennens wir vertreten, doch
zusammengehören und Bekenner und Jünger Einer Wissenschaft
sind. Gern möchten wir uns an einem solchen
Tage zugleich dem kühneren Gedanken hingeben, dass
wir, die Universität der Scholaren, auch eine universitas
literarum darstellen, dass wirklich alle Zweige der vielgestaltigen
Wissenschaft bei uns ihre Pflege finden, dass
nichts versäumt wird, was wert ist, erforscht zu werden,
dass keine Spur unverfolgt bleibt, die jemals ein wegebahnender
Geist dem menschlichen Erkennen gezeigt
hat. Wir würden es aber gar nicht wagen, dies Gefühl
in uns aufkommen zu lassen, wenn wir, die wir hier sind,
auf uns und unsere Kräfte allein angewiesen wären, wenn
wir nicht einen Verbündeten besässen, der mit der Fülle
und Vollständigkeit seiner Hülfsmittel die Einseitigkeit,
der doch auch eine Körperschaft von hundert Personen
immer noch ausgesetzt ist, nach allen Seiten ergänzt.
Mit vollem Recht durften wir die Einweihung des neuen
Heims, das der Bibliothek geschaffen ist, mit unserem
Universitätsfest verbinden, denn erst die Bibliothek macht
aus der Hochschule eine wirkliche universitas literarum.
Sie ist das Lager unserer Bundesgenossen, in dem sich
die auserlesensten Geister aller Kulturvölker zusammenfinden,
um uns nicht bloss die fertigen Ergebnisse ihrer
Arbeit, sondern auch, und das ist viel mehr, Anregung
und lebendige Kraft zu eigenem Schaffen mitzuteilen.
Wir sehen in ihr nicht eine Ansammlung von totem
gelehrten Stoff, sie gilt uns als der Spiegel der Entwicklung
des Menschengeschlechts, als eine Verkörperung des
geistigsten Teils der Weltgeschichte. Dass die Bibliothek
die Huldigung, die wir ihr heute darbringen, reichlich verdient,
davon sind Sie auch ohne mich überzeugt; dennoch
werden Sie mir gestatten, den Wert und den Reichtum
ihrer Schätze uns dadurch zu vergegenwärtigen, dass
ich hier einen ihrer kleinsten Bestandteile nach seiner
Entstehung und allmählichen Entwicklung vorzuführen
versuche.
Eine solche Bibliothek wie die unsrige hat viele
kleineren Bibliotheken in sich aufgenommen: von der
allerkleinsten unter ihnen, die freilich selber wieder ungezählte
Büchermassen ins Dasein gerufen hat, möchte
ich jetzt reden. Sie lässt sich bequem von einem einzigen
Bande umschliessen und in einer Hand tragen, obgleich
sie damals, als sie zusammengestellt und abgeschlossen
wurde, einige Dutzend Buchrollen enthielt und die Erzeugnisse
von einigen Hundert Autoren in sich befasst.
Zum ersten Mal hören wir von dieser kleinen Bibliothek
in einem Briefe, der im zweiten Jahrhundert vor
Ohr. von den Juden in Jerusalem und Judäa an die
ägyptischen Juden geschrieben sein will, aber wahrscheinlich
unecht und jünger ist; er dient jetzt als Einleitung
zum zweiten Maccabäerbuch. Da heisst es im 2. Kapitel,
Nehemia habe eine Bibliothek gegründet aus den Schriften,
die die Könige und Propheten betreffen, ferner aus den
Schriften Davids und endlich aus den Briefen der Könige
über die Weihgeschenke; diese Bibliothek sei später
durch den syrischen Krieg auseinandergeworfen, aber von
Judas Maccabäus wiederhergestellt worden und befinde
sich jetzt im Besitz der jerusalemischen Gemeinde, die
die ägyptischen Juden zum Mitgebrauch einlade. Wieviel
historischen Wert diese Angaben über die Entstehung
der Bibliothek haben, lassen wir dahingestellt
sein; die Existenz dieser Bibliothek selber lässt sich für
das letzte Jahrhundert vor Chr. nicht in Zweifel ziehen,
auch nicht ihr angegebener Inhalt und die von dem Briefschreiber
vorausgesetzte Tatsache, dass sie die einzige
ihrer Art und keineswegs etwa im Besitz jedes gebildeten
und begüterten Juden war.
Augenscheinlich deckt sich diese Bibliothek einigermassen
mit dem, was wir jetzt das Alte Testament
nennen. Aber sie deckt sich nicht ganz damit. Dass
das Gesetzbuch nicht mit aufgezählt wird, fällt allerdings
kaum ins Gewicht, denn der Briefschreiber musste wissen
oder annehmen, dass die ägyptischen Juden es in hebräischer
und griechischer Sprache längst besassen, besassen
es doch sogar die Samaritaner. Aber zu der Bibliothek
gehörte einiges, was nicht mehr zum Alten Testament
gehört: jene Briefe über Weihgeschenke stehen nicht
darin und ebensowenig die angeblich zu Nehemias Zeit
geschriebenen Schriften, aus denen der Briefschreiber im
2. Kap. einige Sagen aus dem Leben des Jeremia mitteilt.
Aus dem allen folgt, dass man zur Zeit des Briefschreibers
das Alte Testament in seiner gegenwärtigen
abgeschlossenen Form noch nicht kennt. Man spricht
von einer Bibliothek, den Begriff des Kanons hat man
noch nicht. Gibt es etwas, was unserem Begriff einer
kanonischen, unantastbaren, heiligen Schrift entspricht, so
ist es die Thora, die sog. fünf Bücher Moses, alles
übrige war noch im Fliessen und entbehrte einer festen
Abgrenzung, befand sich auch keineswegs, wie jetzt die
heilige Schrift, in Jedermanns Händen. Das stimmt
überein mit dem, was wir aus anderen Quellen wissen.
Noch kurz vor dem Auftreten Christi hat man darüber
gestritten, ob das Buch Hesekiels unter die Prophetenschriften
aufgenommen werden solle oder nicht; andere
Bücher sind noch mehrere Jahrhunderte nach ihm angefochten
worden; neutestamentliche Schriftsteller benutzen
selbst solche Bücher, die wir nicht einmal zu den sog.
Apokryphen rechnen, ganz so wie kanonische. Erst die
Zerstörung Jerusalems und vielleicht auch die Entstehung
der christlichen Gemeinde und Literatur scheint
den Anstoss zu einem Abschluss der heiligen Büchersammlung
der Juden und zur Schaffung eines festen
Textes gegeben zu haben, wobei manches Einzelne noch
in der Schwebe blieb.
Aber damit ständen wir am Ende der Bewegung.
Lassen Sie uns sehen, wie es zu dieser Bewegung kam,
wie es geschah, dass im Schoss der jüdischen Gemeinde
jene heilige Bibliothek entstand, von der der Briefschreiber
spricht und die später unter dem Namen des Alten
Testaments den gewaltigsten Einfluss auf die Entwicklung
fast aller Kulturvölker gewinnen sollte.
Wenn man einen der alten Propheten nach einem
heiligen Schrifttum gefragt hätte, so würde er die Frage
schwerlich verstanden haben. Kein Prophet und kein
Historiker vor dem 7. Jahrhundert erwähnt etwas derartiges.
Die Literatur Altisraels weicht in ihrer Art
und in ihrem Werden nicht wesentlich ab von den Literaturen
anderer alter Völker, die eine einigermassen originale
Kultur haben.
Wir wissen nicht, wann zum ersten Male ein Schrifttum
in Altisrael aufkam. Zu der Zeit Moses korrespondierten
die Palästinenser mit den Aegyptern in babylonischer
Sprache: schwerlich ist also die palästinensische
Sprache und Schrift damals entwickelt genug gewesen.
um eine eigentliche Literatur zu erzeugen. Dann können
aber die Israeliten, ein noch ganz unzivilisierter Haufe von
arabisch-aramäischen Stämmen, noch viel weniger im
Besitz eines Schrifttums gewesen sein. Es ist ja recht
wohl möglich, dass einzelne unter ihnen, z. B. Mose
selber, etwa der ägyptischen Schrift mächtig waren, aber
darum ist noch nicht anzunehmen, dass sie auch wirklich
für ihr Volk geschrieben hätten, denn zur Entstehung
eines Buches bedarf es nicht bloss eines Schreibkundigen,
der es schreibt, sondern auch eines Publikums, das es
liest.
Der Stoff zu einer Literatur war freilich längst vorhanden.
Die Israeliten des Mose und der Debora hatten
ihre Lieder, die, meist von den Weibern gedichtet, sich
von Mund zu Mund fortpflanzten, sie hatten ihre Sagen
und Ueberlieferungen und liessen sich dazu von den
Eingeborenen Palästinas und den Nachbarn oder von
durchziehenden Karawanen fremde Geschichten erzählen,
setzten wohl auch Mythen, deren religiöse Bedeutung
ihnen unverständlich oder gleichgiltig war, in Menschengeschichten
um. Diese Stoffe wurden mit der Gedächtniskraft,
die schriftlosen Völkern eigen zu sein pflegt, festgehalten,
aber auch beständig unwillkürlich umgestaltet;
manches davon ist uns in dem späteren Schrifttum erhalten
geblieben, noch viel mehr verloren gegangen, und
speziell die geschichtlichen Ueberlieferungen aus der vorköniglichen
Zeit sind so lückenhaft und zusammenhangslos,
dass aus ihnen eine befriedigende Geschichte dieser Jahrhunderte
herzustellen nicht mehr gelingen will. Das beste
Schutzmittel für die Erhaltung des alten Gutes ist in der
vorliterarischen Zeit die gebundene Form, leider sind aber
nur spärliche Reste von historischen Volksliedern auf uns
gekommen, da wir die in der Königszeit gemachten ältesten
Liedersammlungen nicht mehr besitzen. Das bei weitem
wertvollste Dokument aus der ganzen Geschichte vor
David ist das Lied der Debora (Richt. 5).
Vielleicht ist in den ruhigen Zeiten Salomos mit
anderen Künsten auch die Kunst des Lesens und Schreibens
unter den Israeliten allgemeiner verbreitet worden.
Ein nachexilischer Schriftsteller kennt grosse Sammlungen
von Fabeln und Sinnsprüchen, die unter dem Namen
Salomos umliefen und die nach Charakter und Inhalt
mit unserem Buch der Sprüche Salomos nichts zu tun
hatten (I Kön. 4 29-34): kann man nun keinesfalls
glauben, dass Salomo diese Tausende von Fabeln selbst
verfasst habe, so ist doch recht wohl denkbar, dass er,
vielleicht mit Hilfe von Ausländern, einen Teil dieser
internationalen Weisheit aufzeichnen liess und so die erste
breitere Grundlage zu einer Schriftliteratur legte. Die
Poeten oder besser die Aufzeichner der umlaufenden
Dichtungen mögen die ersten Literaten gewesen sein.
Auch auf andere Weise förderte das Königtum mit
seinen künstlicheren Einrichtungen und seiner grösseren
Empfänglichkeit für fremde Sitten und Künste das Schreibwesen.
Die Könige hielten sich Kanzler, die die denkwürdigsten
Regierungshandlungen und Begebenheiten aufzeichneten;
die Beamten erliessen schriftliche Edikte, liessen
ihre Verordnungen in grober Volksschrift in Steintafeln
eingraben oder versandten sie in versiegelten Briefrollen
an ihre Untergebenen. Allmählich muss das juristische
Schreibwesen einen grossen Umfang angenommen haben,
sodass die ungebildeten Volksklassen darunter litten; das
einzige Mal, wo das Frequentativ des Wortes schreiben:
viel schreiben, immerzu schreiben, im Alten Testament
vorkommt (Jes. 10 1), ist es auf die Juristen gemünzt.
Dass offizielle Gesetzbücher entstanden seien, ist uns
nicht bekannt und nicht wahrscheinlich; dagegen ist
wenigstens ein Rechtsspiegel von mehr privatem und
volkstümlichem Charakter auf uns gekommen, der in
einer jüngeren Bearbeitung in II Mose 21-23 vorliegt
und für die Kenntnis nicht bloss der Rechtssitten, sondern
überhaupt der alten Kultur höchst lehrreich ist. Bei
der Entstehung dieser Schrift ist auch die Einwirkung
des Kultus von bedeutendem Belang gewesen; überhaupt
spielen die Priesterschaften im Rechtswesen eine wichtige
Rolle, mögen ja auch den Beamten manchmal ähnlich
zur Seite gestanden haben, wie die Kleriker des Mittelalters.
Nimmt man also die Begriffe Poet und Jurist
in einem weiteren Sinn, so kann man hier wie bei so
manchem alten Volk sagen, dass Poeten, Priester und
Juristen die Schöpfer der Literatur gewesen sind.
Noch nach einer anderen Seite wirkten das Königtum
und der Kultus auf die Bildung einer Literatur
ein. Die uralten volkstümlichen Wallfahrtsörter hatten
ihre Legenden, die vornehmeren, mit dem Staat enger
verbundenen Tempel ihre urkundlich verbürgte Geschichte,
manche angesehene Priesterfamilie ihre besondere Familientradition.
Jene Kultlegende bot dem Volke geistige
Nahrung und Unterhaltung und zugleich einen Faden
für die Anreihung sonstiger Ueberlieferungen. Volkstümliche
Schriftsteller fanden hier den Stoff für die
ersten Versuche, die Urgeschichte des Volkes darzustellen;
die Geschichte der drei Erzväter besteht zu einem beträchtlichen
Teil aus einer Kombination verschiedener
Heiligtumssagen; manch' andere interessante Begebenheit
ist nur wegen ihrer Verknüpfung mit der Geschichte
eines Heiligtums aufgezeichnet worden (z. B. Richt. 17. 18).
Die Urkunden des Königstempels in Jerusalem sind von
einem Priester der vorexilischen Zeit dazu benutzt worden,
die Geschichte dieses Gotteshauses und in Verbindung
damit alle wichtigeren Ereignisse in der Geschichte der
davidischen Dynastie der Nachwelt zu überliefern. Jenes
ausgezeichnete Werk, das in II Sam. 9-20, I Kön. 1. 2
die innere Geschichte der Regierung Davids mit auffallender
Kenntnis der inneren Pragmatik aller Verwicklungen
und der intimsten Details erzählt, nimmt
sich aus als hervorgegangen aus der Familienüberlieferung
des berühmten Priestergeschlechts Abjathar, dessen Ahnen
von der ägyptischen Zeit an bis auf Eli unter den Rahelstämmen
eine erste Rolle gespielt hatten, das dann von
David erhoben und von Salomo gestürzt wurde und
dessen letzter uns bekannter Abkömmling der grosse
Prophet Jeremia gewesen zu sein scheint. So erwuchs
allmählich aus Kultlegenden und Tempelurkunden, aus
Volkssagen und Familienerinnerungen, aus den Annalen
der königlichen Kanzler und historischen Volksliedern
eine vermutlich anfangs mehr lokale, dann nationale
Geschichtsschreibung, die in der älteren Zeit mehr den
epischen Ton der Volkssage anschlägt, später aber zu
einer nüchterneren, obwohl nicht eigentlich kritischen
historischen Darstellung übergeht.
Selbst aus den verhältnismässig geringen Resten
der alten Literatur gewinnen wir den Eindruck, dass in
der zweiten Hälfte der Königszeit in Israel viel geschrieben
sein muss. Wie sehr selbst in den niedrigeren
Volksschichten die Kunst des Schreibens und Lesens
verbreitet war, hat uns die vor einigen Jahren aufgefundene
Inschrift im Siloahtunnel des Zionsberges gelehrt,
die die Steinhauer zu ihrem Vergnügen in die
Wand des dunkelen Schachtes gehauen haben. Aber
die Literatur dieser Jahrhunderte trägt in mancher Beziehung
noch die unentwickelten Züge des kindlich Altertümlichen
und naiv Volkstümlichen an sich. Die Schriftsteller
schreiben sämtlich anonym, man kennt noch den
Begriff des Autors nicht und weiss weder von seiner
Verantwortlichkeit gegenüber dem Leser, noch von seinen
Rechten oder gar von seinen Ehren. Was er geschrieben
hat, wird nicht als seine geistige Schöpfung
und darum als sein Besitz betrachtet, es gilt als Eigentum
des ganzen Volkes, dem der Stoff angehörte, und
als Eigentum dessen, der die Buchrolle durch Kauf,
Erbschaft oder Abschrift an sich gebracht hat. Wenn
vordem die mündliche Ueberlieferung in beständigem
Fluss war, wenn sie unter dem Einfluss neuer Ereignisse
und Ansichten beständig umgestaltet wurde, so galt das
Wort, dass auch die Bücher ihre Schicksale haben, in
Altisrael noch in ganz anderem Sinne als bei uns. Kein
altes Lied blieb ohne absichtliche oder unabsichtliche
Veränderung, und gar in den Geschichtsbüchern ergänzte
oder strich jeder nach Gutdünken. Wie von den Handschriften
von Tausend und einer Nacht nicht zwei auch
nur in der Auswahl der Geschichten völlig mit einander
übereinstimmen sollen, so haben sich auch gewiss keine
zwei Handschriften jenes herrlichen pentateuchischen
Werkes, das die Geschichte von Adam und Eva bis auf
die Unterjochung Canaans durch Sem erzählt, ganz geglichen,
selbst nicht zu jener Zeit, als es noch als
selbständige Schrift existierte und noch nicht mit Bruchstücken
aus anderen Werken zu einem bunten Mosaik
vereinigt war. So haben wir kein einziges Werk in der
Form, die ihm sein Autor ursprünglich gegeben hatte,
mehr vor uns; der Plan, die künstlerische Form, die
stilistische Eigenart, alles was das Eigentum des Schriftstellers
ausmacht, treten gänzlich in den Schatten vor
dem naiven Interesse am Stoff. Dass die Historiker
noch kein Bedürfnis nach einer Aera haben, nach der
sie datieren sollten, ist ebenfalls ein Merkmal der Unreife.
Die volkstümlichen Erzähler kümmern sich überhaupt
um keinerlei Chronologie; diejenigen, die sich an die
Annalen und an Dokumente halten, begnügen sich, ab
und an das Regierungsjahr eines Königs zu nennen.
Erst als die urwüchsige Produktivität versiegt und der
volkstümliche Stoff erschöpft war, erst seit dem 6. Jahrhundert,
wo die in die Gefangenschaft geführten Juden
sich nur noch in gelehrter Weise mit ihrer Vergangenheit
in Verbindung setzen konnten und zugleich stärker
als zuvor unter den Einfluss einer fremden, technisch
weit überlegenen Kultur gerieten, wurde das Bedürfnis
nach einer Aera allmählich rege und auf eine ziemlich
künstliche Art befriedigt.
Nur eine Gruppe von Schriftstellern gab es, die
sich, zwar auch nicht immer, aber doch oft in ihren
Schriften nannten, ohne dass freilich ihre Autorrechte
allzu sehr respektiert worden wären. Das waren die
Propheten, die mit ihrer Person für das, was sie sagten,
eintreten mussten. Die Propheten sind nicht von Berufs
wegen Schriftsteller gewesen; die älteren Propheten, die
noch den Geist und die Stimmung des konservativen
Volkes vertraten, haben überhaupt nicht geschrieben.
Erst als sich ein immer grösserer Zwiespalt auftat
zwischen den Zuständen und Neigungen in den herrschenden
Volkskreisen und dem Worte Gottes, mit dem
die Propheten jenen gegenübertraten, als die besseren
Propheten sich immer mehr isoliert, angegriffen und in
ihrer Wirksamkeit behindert fanden, erst da griffen sie
zur Feder. Es war also kein literarisches Motiv, das
diese Männer zu Autoren machte, zu Autoren deren
Namen man sich merkte; sie haben nicht aus Neigung
zur Schriftstellerei und nicht des Autorenruhms wegen
geschrieben; sie haben auch keine gesammelten Werke
herausgegeben, wenn sie auch, wie ein Jesaia, im Verlauf
eines langen Lebens noch so viel Flugschriften
hatten ausgehen lassen. Ihr Schreiben war nur eines
von vielen Mitteln, sich Gehör zu erzwingen.
Daher begreift man auch, dass diese Schriftsteller;
die zum Teil eine ausserordentlich hohe schriftstellerische
Begabung besassen, keine rhetorische Prosa ausgebildet
haben. Erst als die Propheten keine Volksredner mehr
waren, sondern ihre Schriften am Schreibtisch verfassten,
schrieben sie in Prosa, die älteren Propheten hingegen
geben ihre Reden durchaus in poetischer Form, wie das
auch die Orakelstätten taten und wie ja auch erzählende
Volksbücher, bei den Israeliten so gut wie bei uns, die
wörtlich angeführten Reden ihrer Helden gern in gebundener
Form bringen. Die Bücher der älteren Propheten
nehmen sich daher wie Gedichtsammlungen
aus, in denen nur selten ein kurzer prosaischer Bericht
auftaucht. Die herrschende dichterische Form ist die
der vierzeiligen Strophe, die Zeile zu drei Hebungen;
doch sind auch bei den älteren Propheten kunstvollere
Versmasse nicht selten. Die meisten dieser Dichtungen
sind von geringem Umfang und knapp in der Sprache;
die längeren pflegen auch längere Strophen und dann
oft, um diese besser zu scheiden, Kehrverse zu haben.
Dem Inhalt nach sind diese Dichtungen nicht etwa
geistlicher oder didaktischer Art, es sind politisch-soziale
Gedichte, die sich mehr an die Regierenden und an die
höheren Stände ihrer Zeit, als an ein allgemeines Publikum
wenden; nur selten bricht bei den älteren, öfter
schon bei den jüngeren Propheten eine mehr subjektive
lyrische Ader hervor. Das achte Jahrhundert, in dem
die älteren Propheten auftraten und die besten Geschichtsschreiber
schrieben, ist die klassische Periode der hebräischen
Sprache und Literatur.
Einer dieser Propheten, Jesaia, ist es nun auch gewesen,
dem wir es in letzter Linie zu verdanken haben,
dass ein Teil dieser Literatur uns erhalten blieb und
dass ein Altes Testament entstehen konnte. Wie es
kam, dass er zu dieser folgenschweren Bewegung den
Anstoss gab, das deutet er selber an (c. 30 8 ff.):
"Jetzt geh hinein, schreib es nieder
Und auf ein Buch zeichne es,
Dass es sei für einen späteren Tag,
Zum Zeugen für immer!
Denn ein widerspenstig Volk ist's,
Verleugnende Söhne,
Söhne, die nicht hören wollen
Die Weisung Jahves;
Die sagen zu den Sehern: seht nicht!
Und zu den Schauern: schaut uns nicht Richtiges!
Redet uns Schmeicheleien,
Schaut Täuschungen!
Weichet vom Wege.
Biegt ab vom Pfade,
Schweiget vor uns
Vom Heiligen Israels!"
Er muss schreiben, weil das Volk ihn nicht hören
will, denn sie wollen nur Angenehmes hören, er aber
verkündet ihnen den Untergang. Und er schreibt zu
dem Zweck, durch seine Schrift später beweisen zu können,
dass es gekommen ist, wie er vorhergesagt hat. Sollte
ihm diese Absicht gelingen, so musste er dafür Sorge
tragen, dass seine Schrift bis dahin erhalten blieb. Er
hatte vertraute und zuverlässige Freunde um sich, denen
er diese Sorge übertrug, in denen er, wie in einer zusammengerollten
und versiegelten Testamentrolle, sein
Wort deponierte (c. 8 16 17 ):
"Zusammenbinden will ich die Bezeugung,
Versiegeln die Weisung in meinen Jüngern;
Und ich will harren auf Jahve,
Der sein Antlitz verbirgt vor dem Hause Jakobs."
Diese uns sonst unbekannten Jünger Jesaias, diese
Zeugen und Vollstrecker seines Testaments, haben ohne
Zweifel den Intentionen ihres Meisters entsprochen und
von seinen Flugschriften so viel gesammelt, wie sie konnten.
Sie haben wahrscheinlich auch die Schriften gleichgesinnter
Propheten, eines Amos, Hosea und Micha, in
ihren Besitz gebracht und treulich durch die Stürme
der damaligen und der folgenden Zeit gerettet. Sie
haben an der Hand dieser Schriften, die in vollster
Uebereinstimmung den Untergang beider israelitischer
Reiche vorherverkündigten, Weissagung und Erfüllung
mit einander verglichen, wie es Jesaia forderte, und
haben die Ursachen des Untergangs Nordisraels und des
Niedergangs Judas zu verstehen sich bemüht. Sie bildeten
eine wohl nur kleine, aber innerlich gefestigte und
erleuchtete Partei von Anhängern der grossen Propheten,
insbesondere des Jesaia, und warteten wie dieser auf
Jahve und auf den noch ausstehenden Rest der vorherverkündigten
Katastrophen, auf den völligen Untergang
Judas. Wir wissen aus einer grossen Zahl analoger Fälle,
wie zähe solch eine kleine Schar Gläubiger an ihren
Ueberzeugungen festzuhalten vermag, zumal wenn sich
diese auf einen literarischen Schatz stützen und daraus
immer neue Kraft saugen.
Aber während nun alle anderen Vorhersagungen der
Propheten pünktlich eingetroffen waren, liess die letzte
Katastrophe, das Gericht über Jerusalem, zu dem Jahve
persönlich erscheinen sollte, auf sich warten; und das
7. Jahrhundert war ganz darnach angetan, den Gläubigen
dieses Warten so drückend wie nur möglich zu
machen. Die äussere Lage war kläglich, denn Juda
war ein Spielball der assyrischen Weltmacht; die Zustände
im Innern verschlechterten sich, die Landschaft
war durch grausame Kriege verwüstet, das Volk dezimiert,
verarmt, verwahrlost, verroht, die alte Lebenskraft und
Lebensfreude war verschwunden, fremde Sitte, Sprache,
vor allem fremde Superstition drang ein — ein Zustand
nicht ungleich demjenigen, in den Deutschland durch
den dreissigjährigen Krieg versetzt wurde. Aber ein
Jahrzehnt nach dem andern verstrich, und der grosse
Zukunftstag stellte sich nicht ein. Die prophetische
Partei starb nicht aus, aber ihre Auffassung der Lage
veränderte sich doch allmählich. Wenn Jahve nicht
einschritt, um die unhaltbaren Zustände zu bessern, konnte
man nicht selbst die Hand anlegen? Liess sich die
Verzögerung der Endkatastrophe nicht so deuten, dass
sie sich sollte vermeiden lassen, wenn man den rechten
Weg dazu fände? Man hatte Zeit genug gehabt, aus
den Prophetenschriften zu lernen und in eine Art Formel
zusammenzufassen, was Jahve eigentlich vom Volk verlangte:
jener jüngere Dekalog, den wir jetzt V Mose 5
und II Mose 20 finden und in unsere christlichen Katechismen
aufgenommen haben, ist eine derartige kurze
Formel, die den Einfluss der Propheten darin verrät,
dass sie den Nachdruck auf das sittlich-rechtliche Element
der Religion legt und das Kultische in nur drei
Sätzen abmacht. Wenn man nun die Forderungen der
Propheten im Leben verwirklichte, so schien es doch
denkbar, dass man dem Vernichtungsgericht, das allerdings
die Propheten für unvermeidlich hielten, entgehen und
direkt in die bessere Zukunft hinübergelangen könnte.
Aehnlich wie die erste Christengemeinde, als der erwartete
jüngste Tag ausblieb, endlich daran ging, sich
in dieser Welt einzurichten und zu organisieren, so beschlossen
auch jene Gläubigen, den Versuch zu machen,
durch eine ins Leben zu rufende, staatliche und kultische
Verfassung die prophetischen Ideale zu realisieren.
Und ähnlich wie die Christengemeinde aus den Schriften
ihrer Propheten eine kurze "Lehre der Apostel" auszog
und zur Grundlage des Lebens machte, so stellte
diese .prophetische Gemeinde ein Buch her, in dem Mose
als Schöpfer des Volkes und Sprecher aller Propheten
die Lehren vortrug, nach denen im gelobten Lande der
Kultus, der Staat und das Rechtsleben eingerichtet sein
sollte; für die Uebertretung dieser Anweisungen drohte
er den Untergang an, für die Befolgung verhiess er eitel
Glück und Segen. Dies Buch kam im Jahre 621 im
Tempel zum Vorschein, unerwartet für Jedermann (II
Kön. 22).
Als der König Josia es in die Hände bekam, erschrak
er aufs äusserste über die Drohungen, die den
Gesetzen beigegeben waren, da eben die letzteren bisher
unbekannt und daher unbefolgt geblieben waren. Mit
um so grösserem Eifer führte er sie jetzt durch. In
einer feierlichen Volksversammlung verpflichtete er sich
und das ganze Volk auf die neue Verfassung oder auf
den "Bund". Es war zunächst ein Bund vor Jahve,
wurde aber mehr und mehr als ein Bund mit Jahve
aufgefasst, sodass das Wort Bund seit dieser Zeit allmählich
etwas ähnliches besagt, wie unser Wort Religion,
während die ältere Zeit diesen juristischen Begriff nur
sehr selten als Ausdruck für konkrete Verpflichtungen
gebraucht. Das damals gefundene Buch ist in der
Hauptsache mit unserem 5. B. Mose identisch, nur dass
dieses nachträglich noch stark vermehrt wurde. Das
5. B. Mose oder das sog. Deuteronomium ist die erste
schriftliche Verfassung und das erste Reichsgesetzbuch
Judas gewesen, und der König wurde angewiesen, beständig
eine Abschrift zur Hand zu haben und darnach
zu regieren.
Die einschneidendste neue Massregel dieser Verfassung,
die Josia sofort zur Ausführung brachte, war
die Aufhebung des ganzen Kultus, wie er bis dahin an
den zahlreichen Heiligtümern im Lande geübt war, und
die Beschränkung des Opferdienstes auf den Königstempel
in Jerusalem; in einem inneren Zusammenhange
damit steht die Beschränkung der priesterlichen Funktionen,
die bisher jeder Freie als sein Recht und seine Ehre
angesehen hatte, auf die Leviten. Selbstverständlich war
durch diese Massregel, die den Kultus unter eine strenge
Kontrolle bringen sollte, auch eine durchgreifende Aenderung
in den bisherigen Anschauungen, Sitten und Gebräuchen
bedingt, und zwar nicht bloss in den religiösen;
und der Unterschied zwischen der alten und neuen Zeit
war mindestens so gross wie der zwischen der Kirche des
Mittelalters und der der Reformation. Mit der Aufhebung
und gewaltsamen Zerstörung der lokalen Heiligtümer,
der berühmten Kultuszentren und ehrwürdigen
Wallfahrtsörter, deren Bedeutung für die ältere Literatur
wir kennen gelernt haben, wurde zwar viel Heidnisches,
viel roh Sinnliches, viel Abergläubisches, aber zugleich
auch die alte Volksreligion zerstört und damit ein gut
Teil des alten Volksbewusstseins, der alten Tradition,
der alten Unbefangenheit und unbewussten Poesie des
Volkslebens. Dafür hatte man jetzt eine Staatsreligion
und eine Buchreligion, die mit ihrer bewussten Vernünftigkeit
und Moralität dem in der bunten Irrationalität traditioneller
Anschauungen und Sitten aufgewachsenen Volke
erst durch Lehre und Unterricht beigebracht werden
musste. Daher tritt sehr bald viel mehr als die neue
Priesterkaste der neue Stand der Schriftgelehrten in den
Vordergrund, der die pädagogische Unterweisung und,
bei dem engen Zusammenhang zwischen Staat und Religion,
auch die politische Leitung des Volkes in die Hand
nahm. Am stärksten zeigt sich der bedenkliche Einfluss
der Schriftgelehrten und ihrer Anhänger, die zugleich
Literaten und Wortführer im öffentlichen Leben waren,
in der Zurückdrängung der Propheten; gegen die "Weisheit"
dieser juristischen Theologen, die auf das Buch
pochten und deren Feder es zur Lüge machte, wie Jeremia
(c. 8) sagt, konnte sich die unabhängige Inspiration
der Propheten nicht behaupten. Wenn die Wahrheit
eines Prophetenwortes nach der Vorschrift des Gesetzbuches
(V M. 18) erst an der Erfüllung erkannt
werden sollte, so war dieses Wort gerade dann unwirksam,
wo es am meisten wirken sollte. Aber die freie
Inspiration war im Grunde der Ausdruck der unbedingten
Initiative Gottes gewesen; wenn von jetzt an das einmal
schriftlich fixierte Wort Gottes die feststehende,
oberste Norm sein sollte, so war Gott selbst gebunden
und sein Walten auf die Ausführung der Verheissungen
und Drohungen des Gesetzes beschränkt, selbst Gesetzgeber
war er künftig mehr dem Namen nach, als in Wirklichkeit.
Allerdings suchte man ihn, wie es zu allen
Zeiten den auf die blosse Exekutive zurückgedrängten
Majestäten zu geschehen pflegt, durch grössere Ehrung
und feierlichere Etikette im Kult zu entschädigen; der
naive und oft sehr freimütige Anthropomorphismus der
alten Zeit war nicht mehr möglich, später durfte man
nicht einmal den Namen Jahve mehr aussprechen.
Das Buch nun, das zu dieser grossen Wandelung
den Grund legte, das die Volksreligion in eine Staatsreligion,
die Religion der Propheten in die des Gesetzes
umwandelte, dies Gesetzbuch Josias aus dem Jahre 621
v. Ohr. ist der Kern und Keim jener heiligen Bibliothek
geworden, von der ich im Anfang sprach, der Kern und
Keim des Alten Testaments. Zuerst aber hat es Juda
zerstört und Juda gerettet. Dies scheinbare Paradoxon
ist leicht aufgeklärt.
Das Buch wurde zuerst, gewiss sehr gegen die Voraussicht
seiner Urheber, die Ursache des Untergangs Judas.
Die feurigen und fanatischen Anhänger der neuen Ordnung
der Dinge, überzeugt, dass jetzt die verheissene
goldene Zeit vor der Türe stehe, trieben das kleine Reich
in den Kampf mit den damaligen Grossmächten, zuerst
mit Aegypten, dann mit Chaldäa, und die Folge war
die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels und die
babylonische Gefangenschaft. Das Buch Jeremias, des
letzten unabhängigen Propheten vor dem Exil, der vergebens
gegen den Wahnsinn ankämpfte, ist der Spiegel
dieser ergreifenden Tragödie.
Aber das Buch wurde zugleich auch die Ursache
der Erhaltung des jüdischen Volkes und derjenigen
Literatur, die mit jenem Buch zusammenhing. Das viel
grössere Volk Israel ist fast spurlos verschwunden, die
Literaturen von Damaskus, Tyrus, Ascalon sind untergegangen;
Juda blieb am Leben, und das verdankt es
dem 5. B. Mose. Das Buch begleitete die Deportierten
in die neue Heimat und diente ihnen als Ersatz für den
zerstörten Kult. Zuerst war es ein Reichsgesetzbuch
gewesen: jetzt, wo es kein Reich mehr gab, wenn man
auch ein neues Reich vom Himmel her erwartete, jetzt
wurde es ein Religionslehrbuch. Selbstverständlich war
es dann auch Verfassung und Gesetzbuch für die später
unter persischem Szepter neu aufgerichtete kleine Volksgemeinde
in und um Jerusalem. Das Buch erhielt die
Juden daheim und in der Zerstreuung bei der angestammten
Religion und der Gemeinsamkeit des Blutes
und der Interessen, es belebte mitsamt den alten Prophetenschriften,
aus denen es hervorgegangen war, und
den neuen, die sich daran anschlossen, die Hoffnung auf
die grosse Zukunft. Es bannte den Geist in engere
Schranken, es erzeugte eine grosse Einförmigkeit der
Lebens- und Denkweise, aber eben dadurch schuf es eine
unverwüstliche Eigenart und machte es später sogar den
Juden möglich, ohne Gefahr für ihre längst gefestigte
Besonderheit manches Fremde aufzunehmen.
Je mehr das Buch Religionslehrbuch wurde, desto
mehr schwoll es an. Man verband mit ihm die Geschichte
der Zeit Moses und Josuas, in der es entstanden sein
sollte, und setzte davor die Ur- und Vorgeschichte von
der Zeit des Paradieses an. Hier konnte man zeigen,
wie man nach Gottes Willen leben soll, es war die
klassische Zeit, das Vorbild der zu erwartenden goldenen
Zukunft. Dann fügte man auch hinzu die Geschichte
der nachmosaischen Jahrhunderte, der Zeit der sog.
Richterherrschaft, die man, vielleicht nach fremden Mustern,
künstlich konstruierte und von der die alten Quellen
nichts wissen, und der Zeit der Königsherrschaft, die
schon als solche hin und wieder (I Sam. 8) als ein Abfall
von der rechten gottgewollten Verfassung betrachtet
wurde: hier liess sich besonders deutlich lehren, wie
man nicht leben soll und wie sich die Uebertretung des
Gesetzes straft. Man verwandte zu diesem geschichtlichen
Lehrstoff, mit dem man das 5. B. Mose umgab,
die älteren Geschichtswerke, deren einzelne Abschnitte dabei
bunt durcheinander geflochten und nach Bedarf geändert
oder durch Nutzanwendungen ergänzt wurden.
Der vorhin geschilderte Charakter dieser namenlosen und
in steter Veränderung begriffenen Geschichtsbücher gestattete
dies Zertrennen und Zusammenflicken ja ohne
Weiteres. Auch jüngeren Schriften wurde manches entnommen,
besonders den Prophetenbiographien, die eine beliebte
erbauliche Lektüre gewesen zu sein scheinen, ähnlich
wie früher bei uns die Heiligenlegenden, denen sie
überhaupt in vielen Stücken gleichen. Zum Glück für
uns, die wir uns um die Wiederherstellung der alten
Schriften bemühen, verfuhr man bei der Zusammensetzung
des ganzen. Werkes sehr unkritisch und ohne sonderliche
Aufmerksamkeit auf die Widersprüche, in die man sich
fast fortwährend verwickelte: liess man auch nach einem
Autor die Sara sich selber in I Mose 18 als welke
Greisin bezeichnen, so konnte man zwei Kapitel später
ein Stück aus einem anderen Autor bringen, wo sie dem
Abraham wegen ihrer Reize geraubt wird. Nicht zu
verwundern ist ferner, dass diesen Theologen, den Lehrern
eines zur geschichtlichen Passivität verurteilten, auf eine
Zeit der Wunder wartenden Volkes, der geschichtliche
Sinn, der Sinn für das Wirkliche, der die älteren Erzähler
auszeichnet, mehr und mehr abhanden kam; um
zu erkennen, wie an die Stelle einer geschichtlichen Anschauung
die lehrhafte Tendenz mit ihrer Vorliebe für
das Wunderbare tritt, braucht man nur die alte nüchterne
Erzählung von dem Durchzug durch das Schilfmeer in
2. Mose 14 mit den jüngeren Zutaten oder etwa mit
der Erzählung von dem Durchgang durch den Jordan
(Jos. 2) zu vergleichen: dort die Schilderung einer starken
Ebbe, hier die Behauptung, die Gewässer hätten sich zu
beiden Seiten wie Mauern aufgetürmt. Andererseits
macht sich die fortgeschrittenere Entwicklung und vielleicht
der Einfluss fremder Kultur darin bemerklich, dass
man nun doch einer Chronologie bedurfte; man legte ihr
charakteristischer Weise eine Aera zu Grunde, die den
salomonischen Tempelbau zum Mittelpunkt hat. Man
half sich für die Zeit vor dieser Aera, für die gar keine
Zahlen zur Verfügung standen, mit einer gewagten
Zählung von Generationen, ging aber nicht über Mose
zurück, sodass man damals die Dauer der Welt noch
nicht kannte.
So erwuchs allmählich ein grosses Werk, eine Art
geschichtlich-gesetzlicher Encyklopädie, die, wenn wir die
nachher zu erwähnenden jüngeren Einschaltungen abrechnen,
etwa mit den 5 Büchern Mose, den Büchern
Josua, Richter, Samuelis und Könige übereinkommt. Sie
enthielt ungefähr alles, was man für die Gegenwart bedurfte;
neben ihr belehrten ältere und jüngere Prophetenschriften,
zunächst noch in zahlreiche kleinere Rollen
zerstreut, über die Zukunft. Man muss sich jenes grosse
Werk, das man übrigens auch von Propheten, nämlich
den ältesten, ableitete, nicht als abgeschlossen und fertig
vorstellen; es wurde noch bis in die letzten Jahrhunderte
daran geändert und es hat den letzten Abschluss eigentlich
bis heute nicht erhalten.
Speziell das Gesetzbuch konnte der Natur der Sache
nach gar niemals fertig werden; es genügte auf die Dauer
nicht einmal, dass man ab und an einige Novellen hinzufügte.
Die Verhältnisse waren in der nachexilischen
Zeit schon an sich von denen des vorexilischen Reiches,
auf die das Gesetzbuch berechnet gewesen war, wesentlich
verschieden, und sie änderten sich noch immerfort.
Schon hatten im Exil Hesekiel und andere neue Verfassungsentwürfe
ausgearbeitet, die in wichtigen Punkten
vom Gesetzbuch Josias, vom 5. B. Mose, abwichen. Sie
drangen nicht durch, übten aber doch auf die babylonischen
Juden ihre stille vorbereitende Wirkung aus. Da
trat, etwa im Jahre 432 v. Ohr., der Schriftgelehrte
Esra, der früher in Babylonien gelebt hatte, mit einem
Gesetzbuch Moses vor die versammelte Volksgemeinde in
Jerusalem, das bis dahin noch ganz unbekannt war.
Unter dem Beistande des Statthalters Nehemia wurde es
eingeführt, die Notabeln des Volkes verpflichteten sich
mit Namensunterschrift auf die neue Verfassung. Dieses
Gesetzbuch machte den Anspruch, wenigstens in gewissen
Hauptpunkten endgültig abzuschliessen, das beweist der
wiederholt vorkommende Ausdruck "ewige" Satzung. Es
unterschied sich von der alten Verfassung vorzüglich
dadurch, dass es die Hierarchie neu ordnete: künftig
sollte nur die Familie, die am salomonischen Tempel
fungiert hatte und die bei Hesekiel noch den geschichtlichen
Namen der Zadukiden, hier aber den willkürlichen
Namen Aharoniden führt, zum Priesteramt berechtigt
sein, während die Leviten zu Tempeldienern degradiert
wurden; es erhob den Hohenpriester zum Haupt des
Volkes und bekleidete ihn mit dem Purpur der Könige.
Damit stellt dies Gesetzbuch den theokratischen Charakter
der neuen Verfassung ins hellste Licht. Dass die Scheidewand,
die sich schon seit der Reform Josias zwischen
Juda und der übrigen Welt erhob, jetzt fast zu einer
hermetisch abschliessenden Schranke ausgebaut wurde,
versteht sich von selbst. Jetzt war die jüdische Gemeinde,
wie sie seitdem durch die Geschichte geht, in der Hauptsache
fertig. Eine rein religiöse Gemeinde war sie nach
unseren Begriffen darum noch nicht, und besonders der
Anspruch auf die Herrschaft über alle Völker und auf
deren Vermögen bewies, dass man nicht bloss dem leben
wollte, was wenigstens wir Protestanten Religion zu nennen
pflegen.
Uebrigens wurde auch das neue Gesetzbuch nicht in
Einem Gusse fertig gestellt; ältere und jüngere Bestandteile
lassen sich deutlich darin unterscheiden. Es erhielt
ebenso wie das ältere Religionsbuch eine ausführliche
Geschichte der mosaischen Zeit und eine kurze Vorgeschichte,
die mit der Schöpfung (I Mose 1) beginnt und
durch drei stufenweise sich erhöhende Gesetzgebungen
— an Adam, Noah, Abraham — zu der abschliessenden
Gesetzgebung Moses hinaufsteigt; die Verlosung Palästinas
durch Josua bildet den Schluss. Die ganze Weltgeschichte,
die Geschichte der Schöpfung inbegriffen, ist
hier also unter die gesetzlich-theokratische Idee gestellt,
und wir wundern uns nicht, dass man jetzt weiss, wie
alt die Welt ist, und die Tempelära durch die Weltära
ersetzt. Allerdings wissen wir heute noch nicht sicher,
ob die Zahlen des griechischen oder die des hebräischen
Textes die älteren sind, ob also, wie die griechische Bibel
und die neutestamentliche Apokalypse annehmen,
von Adam bis Christus 5500 Jahre oder nach den hebräischen
Zahlen 4000 Jahre verflossen sind. Nur das
ist gewiss, dass ein Jesaia oder Jeremia von alledem
nichts gewusst hat.
Der geschichtliche Teil des Gesetzbuches Esras
wurde später ebenfalls bis in die jüngste Zeit fortgesetzt
durch ein grosses Geschichtswerk, die jetzigen Bücher
Chronica, Esra und Nehemia. Sein Autor, der nach
Alexander dem Grossen lebte, schrieb dabei das ältere
Religionsbuch so stark aus, als hätte er die Absicht gehabt,
es zu verdrängen; selbstverständlich stellte er die
Geschichte nach den Anschauungen des 3. Jahrhunderts
dar. Man nimmt wahr, dass ihm schon andere Autoren
in der Bearbeitung der älteren Geschichtsbücher vorangegangen
waren und zahlreiche Schriften unter dem Autornamen
älterer Propheten und von vorwiegend erbaulichem
Charakter veröffentlicht hatten. Ueberhaupt ist pseudonyms
Schriftstellerei in den letzten Jahrhunderten v. Chr.
und darüber hinaus sehr im Schwange, nicht darum, weil
man betrügen wollte, sondern weil man noch immer nicht
die Literatur in unserem Sinne oder im Sinne der klassischen
Völker auffasste.
Die beiden grossen parallelen Werke, das von Josias
Reform und das von Esra ausgehende, scheinen längere
Zeit neben einander existiert zu haben. Sie liessen sich
neben einander gebrauchen, da das ältere durch das jüngere
nicht ganz ersetzt wurde und überdies eben den Vorzug
des höheren Alters und wohl auch der grösseren Verbreitung
besass. Ueber diese Verbreitung muss man sich
allerdings keine übertriebenen Vorstellungen machen, denn
selbst manche unter den Schriftstellern der späteren Zeit
verraten eine unglaublich geringe Kenntnis der alten
Geschichte.
Dass dies Nebeneinander nicht von bleibender Dauer
war, scheint durch einen Anstoss von aussen her veranlasst
zu sein. Der zweite Ptolemäer nämlich, Philadelphus,
der bis 247 v. Ohr. regierte, wünschte der alexandrinischen
Bibliothek auch das Gesetzbuch seiner
jüdischen Untertanen einzuverleiben; vielleicht haben
auch politische Gründe mitgesprochen. Er ersuchte zu
diesem Zweck den Hohenpriester in Jerusalem um ein
Exemplar und um eine Anzahl Gelehrter, die das hebräisch
geschriebene Werk ins Griechische übersetzen sollten.
Bevor man das Exemplar übersandte, hat man aller Wahrscheinlichkeit
nach nicht blos den Text sorgfältig durchgesehen,
der sich in der Tat vor den Texten der nicht
mit übersandten Schriften durch Korrektheit und durch
gewisse Altertümlichkeiten unterscheidet, sondern auch
die beiden parallelen Gesetzbücher, das des Josia und das
des Esra, mit einander verschmolzen. Man beschränkte
sich dabei auf die Teile, die das eigentliche Gesetz enthielten
und die Geschichte bis auf den Tod des Mose
herabführten, also auf die Thora, wie die Juden das Gesetz
nannten, und auf deren Geschichte und Vorgeschichte.
So entstanden unsere jetzigen Fünf Bücher
Mose. Von ihnen enthält, wie wir wissen, das 5. Buch
jenes unter Josia eingeführte Gesetzbuch; hingegen ist
das Gesetzbuch des Esra hauptsächlich in den mittleren
Büchern untergebracht; das erste Buch erzählt, wie bekannt,
die Vorgeschichte von der Schöpfung bis zu
Josephs Tode. Diese Thora Moses war die eigentliche
Bibel der Juden daheim und in der Fremde, und selbst
die Samaritaner nahmen sie an, wenn auch mit einigen
Aenderungen.
Was nun in jenem grossen älteren Religionslehrbuch
über den Tod Moses hinausging, die jetzigen Bücher
Josua, der Richter, Samuelis und der Könige, genoss
zwar ein geringeres Ansehen als die Thora, wie schon
der verwahrloste Text beweist, stand aber trotzdem in
hohen Ehren, denn man leitete diese Gruppe von Buchrollen
von Propheten ab, die in der Mehrzahl vor Amos,
Hosea, Jesaia u. s. w. gelebt hatten, und bezeichnete sie
als die Schriften der älteren Propheten. Einen viel geringeren
Wert mass die palästinensische Gemeinde den
Büchern Chronica, Esra und Nehemia bei, wahrscheinlich
deswegen, weil sie jüngerer Abkunft waren, denn eigentlich
kritische Rücksichten waren bei dieser Abschätzung
schwerlich im Spiele.
Schon das blosse Dasein jener Gruppe der "älteren"
Prophetenschriften musste dazu anregen, auch die eigentlichen
Prophetenschriften, die eines Amos, Hosea u. s. w.,
zusammenzustellen und als "jüngere" den vermeintlich
älteren anzureihen. Schon lange waren kleinere Sammlungen
im Gange gewesen, grösstenteils von privaten
Sammlern unternommen, die nicht immer in Fühlung mit
einander standen und wohl einmal ein und dasselbe Stück
verschiedenen Propheten zuschrieben. Die Tätigkeit
dieser Sammler und Zusammensteller ist nicht ohne Interesse.
Sie verfolgten keine literarischen, auch kaum
theologisch theoretische, sondern ganz überwiegend praktische
Zwecke. Besonders im 2. Jahrhundert, zur Zeit
der schweren religiösen Bedrängung durch die Syrer,
wurden mit Eifer neue Sammlungen angelegt und alte
vermehrt. Es galt, das Volk über die Ursachen seiner
Leiden und der Vergewaltigung des Tempels und der
heiligen Stadt aufzuklären, und dazu war nichts mehr geeignet,
als die Drohreden der alten Propheten. Noch
viel mehr aber bedurfte das Volk des Trostes und des
Ausblicks auf eine bessere Zeit, um nicht den Mut zu
verlieren und sich den Heiden zu beugen: diesem Zweck
dienten manche jüngeren Prophetenschriften, daneben aber
auch zahlreiche Zusätze tröstlichen Charakters, die man
unter die Drohreden der alten Propheten mischte. Das
Letztere wäre nicht möglich gewesen, wenn die Sammler
kritische Herausgeber in unserem Sinne hätten sein wollen
und können, wenn sie irgendwelch' historisches und literaturgeschichtliches
Verständnis für dies Schrifttum gehabt
hätten. Aber sie sahen vielmehr die gesamte Prophetie
als eine Einheit an, deren Teile, wenn auch zu
verschiedenen Zeiten inspiriert, sich nicht widersprechen,
also auch sich aus einander ergänzen lassen können. Die
alten Propheten waren tot, aber ihr Wort blieb lebendig,
wie ein nachexilischer Prophet sagt, nur verstand jede
Zeit dies von ihren Urhebern abgelöste Wort anders;
leider ist diese eigentlich unreligiöse Verkehrung der persönlichen
Inspiration in Lehroffenbarung auch unter den
Christen herrschend und zum Kennzeichen positiver Gläubigkeit
geworden.
Das Resultat der Sammlung der eigentlichen Prophetenschriften
waren vier Volumina, die nach den Namen
Jesaia, Jeremia, Hesekiel und "der zwölf Propheten" genannt
wurden, in denen aber nicht, wie man aus diesen
Namen schliessen könnte, fünfzehn, sondern mindestens
dreimal so viel Autoren vertreten waren, auch wenn man
von den unzähligen kleineren Ein- und Zusätzen absieht.
Schwerlich sind diese vier Volumina vor dem letzten vorchristlichen
Jahrhundert abgeschlossen, geschweige in allen
Einzelheiten in ihre gegenwärtige Form gebracht worden.
So entstand "die Thora und die Propheten", wie
das, was wir das Alte Testament nennen, im Neuen Testament
bezeichnet wird. Aber man besass ausserdem noch
zahlreiche andere Schriften, historische, prophetische,
poetische, von denen eine Auswahl in die heilige Bibliothek
aufgenommen zu werden verdiente. Die Sängerinnungen
am Tempel gaben ihre Sammlungen von gottesdienstlichen
Liedern her; sie bildeten, mit anderen Liedern
vereinigt, den Psalter, den man wohl mit dem Namen
des ersten grossen Liedersängers, Davids, schmückte, obwohl
ohne jede Berechtigung. Aehnlich unhistorisch verfuhr
man, wenn man König Salomo, der nun einmal als
der Weiseste der Weisen galt, zum Verfasser der Spruchsammlungen
und des Predigers, sowie des hohen Liedes
und den Propheten Jeremia, wie die griechische Bibel
tut, zum Verfasser der Klagelieder machte. Aufgenommen
wurde auch ein so abseits von den theologischen
Wegen jener Zeit stehendes Werk wie die grossartige
Dichtung von Hiob. Von den vielen Apokalypsen, die
nicht schon in den vier Volumina der "jüngeren Propheten"
untergebracht waren, hat sich nur eine, die auf
den Namen Daniel lautende, in der heiligen Bibliothek
behauptet; andere sind wenigstens aus der hebräischen
Sammlung ebenso ausgeschieden wie der sog. Psalter
Salomos oder das Spruchbuch des Siraciden, dagegen
zum Teil mit diesem in der griechischen Sammlung erhalten
geblieben. Dass die Bücher Chronica, Esra und
Nehemia in Ehren gehalten wurden, ist natürlich; das
Buch Esther blieb erhalten, weil das Purimfest durchdrang.
Im Uebrigen dürfte in der vorchristlichen Zeit
über Aufnahme oder Ablehnung, Erhaltung und. Untergang
nicht ein bestimmter autoritärer Wille, sondern
der Zufall entschieden haben. Diese dritte Gruppe im
hebräischen "Canon", der man später den geringsten
Grad von Inspiration zuschrieb, hat einen so unbestimmten
Charakter, dass man nicht einmal einen bezeichnenden
Namen für sie aufzubringen wusste. Ihr Text ist
zum Teil im übelsten Zustande, doch nicht gerade
schlechter als der der grossen Sammelwerke, die wir
als die älteren und jüngeren Propheten kennen gelernt
haben. Leider haben uns die jüdischen Gelehrten des
ersten christlichen Jahrhunderts des besten Hülfsmittels
beraubt, den ursprünglichen Text wieder herzustellen.
Indem sie nämlich nach besten Kräften und mit Benutzung
der vorzüglichsten Handschriften, aber doch
mit unkritischer Methode einen Mustertext des Alten
Testaments schufen, verurteilten sie alle bisherigen Handschriften
zum Untergang. Wir besitzen also keine Varianten,
die im Neuen Testament von so hervorragender
Bedeutung sind; nur die ältesten Uebersetzungen bieten
einen wertvollen, aber doch dürftigen Ersatz für diesen
Verlust. Darum wird es uns an zahlreichen Stellen für
immer unmöglich sein, herauszubringen, was ein Hosea
oder Jeremia oder der Dichter des Hiob eigentlich geschrieben
hat; mancher Abschnitt ist durch die Tätigkeit
der Herausgeber, Interpolatoren und Abschreiber zu
einer wahren Wildnis geworden. In der Hauptsache
rühren diese grossen Mängel von der literarischen Ahnungslosigkeit,
dem unhistorischen und unkritischen Sinn der
theologischen Redaktoren her; doch darf man auch nicht
vergessen, dass für die Bearbeiter und Abschreiber das
Hebräische zu einer toten Sprache geworden, dass die
fast vokallose Konsonantenschrift zahlreichen Missverständnissen
ausgesetzt war, dass die Orthographie zwischen
dem phonetischen und etymologischen Prinzip vielfach hin-
und herschwankte und das ganze alte Schrifttum von
der hebräischen in die aramäische sog. Quadratschrift
umgesetzt wurde. Unsere alten Dogmatiker waren doch
übel beraten, als sie die Lehre von der Durchsichtigkeit
der heiligen Schrift aufstellten.
Sie sehen, dass es bei der Entstehung dieser kleinsten
aller Bibliotheken recht menschlich zugegangen ist.
Wer nach jener älteren Meinung, die sich in ihrer ganzen
Schärfe nur im späteren Protestantismus ausgebildet hat,
die Religion von einer rein göttlichen Schrift abhängig
glaubt, der ist geneigt, sich von der gewissenhaften Würdigung
der geschichtlichen Vorgänge zu dispensieren;
wer umgekehrt der Religion mit Zweifeln gegenübersteht,
mag meinen, dass ihr durch die Kritik der Boden
unter den Füssen völlig weggezogen wird. Ich glaube,
dass der Gott, dessen Walten in der Geschichte die
Propheten sahen und fühlten, auch in der Geschichte
der kleinen Büchersammlung gewaltet hat, ohne die es,
wie kein Judentum und keinen Islam, so auch kein
Christentum gäbe.