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Ansprache bei Eröffnung des Studienjahres 1903/1904 am eidg. Polytechnikum in Zürich am 20. Oktober 1903.

Gehalten von Prof. Dr.

R. Gnehm,

Direktor des eidg. Polytechnikums.

Hochgeachtete Versammlung!

Durch das Vertrauen meiner Kollegen und der Behörde wird mir wiederum die Ehre zuteil, von dieser Stelle aus den Beginn eines neuen Studienjahres ankündigen zu können.

Daran knüpft sich die angenehme Aufgabe, Sie alle, die Sie uns heute mit Ihrer Anwesenheit beehren, freundlich zu begrüssen und namentlich den jüngsten Gliedern unseres Verbandes namens der Professoren und der Behörde ein herzliches «Willkommen» zu entbieten.

Verehrte junge Freunde!

Der heutige Tag inauguriert einen Lebensabschnitt, der als geistige Entwicklungs- und Bildungs-Periode für Ihre zukünftige Laufbahn, für Ihr und Ihrer Nächsten Wohl, von einschneidender, tiefernster Bedeutung ist.

Möge Ihnen der Eintritt 'in unsere Hochschule innere und äusserte Befriedigung bringen und damit zu einer Quelle 'des Segens und des wahren Glückes werden. ' Es liegt zum guten Teil bei Ihnen durch verständige, geordnete und ernste Arbeit dafür zu sorgen, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehe.

Nach freier Wahl und mit Zustimmung der Ihrigen haben Sie sich an unsere technische Hochschule gewandt. Damit unterstellen Sie sich dem Gesetz und den Verordnungen, welche unsere obersten Landesbehörden, die eidgenössischen Räte und der Bundesrat, geschaffen und sanktioniert haben; Pflicht des Bürgers ist es, dem Gesetz zu gehorchen, das er sich gegeben; darin liegt die wahre Freiheit. Wir geben uns sicherlich keiner Täuschung hin in der Annahme, dass auch Sie, junge akademische Bürger, sich dessen stets erinnern werden.

Gestatten Sie mir, die Grundzüge unseres Unterrichtssystems kurz zu skizzieren!

Die Organisation des eidgenössischen Polytechnikums ruht auf den Fundamenten der Normalstudienpläne, deren Durchführung die Abhaltung von Repetitorien und Uebungen in sich schliesst. Nach den Bestimmungen des Reglements sind die im Rahmen einer Fachschule aufgeführten Vorlesungen nebst Repetitorien und' Uebungen für die Studierenden der betreffenden Abteilung in der Regel obligatorisch. Vom dritten Jahr ab ist die Auswahl des Unterrichtsstoffes innerhalb der' Grenzen eines Jahreskurses

frei. Dispensationen von einzelnen Fächern oder Austausch gegen Fächer anderer Abteilungen in den gleichen Jahreskursen sind mit Beginn der betreffenden Kurse beim Vorstand der Fachschule nachzusuchen; sie sollen, sofern die Begehren in dem Bildungszwecke des Studierenden begründet sind, oder der Kenntnisausweis geleistet ist, ohne Ausland gewährt werden.

Sie sehen, diese sogenannten geschlossenen Studienpläne sind nicht so steif und starr, wie man häufig glauben machen will; sie entbehren nicht einer gesunden Elastizität.

Wenn diese nicht oder höchst selten beansprucht wird, so trägt hieran wohl kaum Unkenntnis der Bestimmungen die Schuld, die Ursachen liegen tiefer; sie sind in den Plänen selbst begründet. Diese sind so einfach, sachgemäss, logisch und ohne Ueberladung aufgebaut, dass demjenigen, der mit Ernst und Sicherheit und ohne unnötigen Zeitaufwand auf ein bestimmtes Ziel hinsteuern will, auch bei völlig freier Wahl eine bessere und zweckdienlichere Konstruktion kaum gelingen wird.

Es ist mir deshalb nie recht verständlich, wenn von gewisser Seite der freien Fächerwahl für die ersten Semester so grosses Gewicht beigelegt wird; andrerseits kann ich aber auch die Bedenken nicht teilen, die öfters gegen die etwaige Einführung derselben laut werden. Auch dann würde der einsichtige, verständige Student der Normalspur folgen, d. h. die fundamentalen Kollegien belegen und sich hüten, Zickzack- und Abwege zu begehen. Die einzige Gefahr der ungebundenen Marschroute liegt in allzufrüher Spezialisierung

Wie lange die Bestimmungen des Gesetzes und der Reglemente unverändert in Wirksamkeit, bleiben, ist eine Frage, die wir heute wohl aufwerfen, aber nicht beantworten können.

Bekanntlich befinden wir uns augenblicklich in einer bewegten Zeit. In der Presse, im Ratssaal, in Petitionen sind Begehren nach Reorganisation unseres Unterrichtssystems laut geworden. Behörde und Professorenkollegium befassen sich bereits eingehend mit diesem Gegenstande. Die erschöpfenden Untersuchungen, deren Abschluss so bald wie möglich erfolgen soll, fördern hoffentlich Resultate, die eine Klärung der etwas verworrenen Situation. herbeiführen — verworren nicht durch unsere Schuld, wohl aber durch manche Aeusserungen der Presse und deren Folgen, und durch Verhältnisse, die ausserhalb unserer Machtsphäre liegen.

Niemandem ist es zu verargen, wenn er sich über. Organisation und Betrieb eines Institutes, das den Staat enorme Opfer kostet, eine Meinung bildet und diese, der Oeffentlichkeit übergibt, sofern es geschieht auf Grund eingehenden Studiums der Tatsachen und ohne Nebenabsichten. Wo aber Prämissen und Schlussfolgerungen nicht im Einklang stehen mit den wirklichen Vorgängen, werden Zweck und Ziele verschoben; der Kritiker muss sich dann gefallen lassen, dass man ihn nicht ernst nimmt oder gar die Lauterkeit seiner Absichten in Zweifel zieht.

Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, die zu solchen Betrachtungen

führen, wären unschwer namhaft zu machen. Nicht alles, was gesprochen und geschrieben wurde, hält den Anforderungen einer gerechten Kritik stand; Uebertreibungen und Entstellungen haben sich breit gemacht, trüben den Blick, liefern ein falsches Bild und schaden der guten Sache. Bei der Lektüre gewisser Publikationen ist man oft geneigt anzunehmen, der Verfasser zähle zu jenen Menschen, von denen Heine sagt, dass sie alles mit subjektiven Augen ansehen, mit Archenhölzern unmutigen Augen, die nur das Schlimme sehen...

Die Anzeichen deuten auf eine Fortsetzung des Feldzuges hin; ferne liegt mir, dies hindern zu wollen. Dagegen ist es wohl erlaubt, den Wunsch auszudrücken, es möchte eine kommende . Diskussion mehr auf den Boden der Wirklichkeit und der Tatsachen gestellt werden, als dies bisher der Fall war. und sich in würdigern Formen bewegen.

Dieser Ausblick in die Zukunft bestimmt mich zu einigen zwanglosen Betrachtungen, um mehrere mit begreiflicher Vorliebe, aber wenig Wohlwollen, behandelte Fragen zum Zwecke der Aufklärung kurz zu streifen und aufgestellte Behauptungen durch Zahlen zu beleuchten.

Im Vordergrund der, Diskussion steht die Frage der «akademischen Freiheit», eines Begriffes, der sich aus seiner ersten Entwicklung im Mittelalter mit andern Gebräuchen und Institutionen durch die Universitäten bis in unser Jahrhundert hinein erhalten hat. Wenn die Höhe des Alters als Beweis für die Vorzüglichkeit einer Einrichtung gelten kann, dann muss die Wertschätzung, dieser Sache gut ausfallen. Nichtsdestoweniger gibt es Zweifler, welche von deren Vortrefflichkeit nicht überzeugt sind und die geradezu behaupten, an die Einführung der Lernfreiheit, die in ihren letzten Konsequenzen die «Freiheit nichts zu lernen» bedeute, würde heutzutage wohl niemand denken, wenn wir sie nicht bereits als Ueberlieferung an den Universitäten und ausländischen technischen Hochschulen vorfänden.

Man versteht bei uns in Weiten Kreisen nicht, wie den Auserwählten der heranwachsenden Jungmannschaft, denen ein gütiges Geschick., das Studium eines gelehrten Berufes ermöglicht, Sonderrechte eingeräumt werden sollen, deren Genuss dem übrigen, minder bevorzugten. Teil, als etwas Absurdes, ganz selbstverständlich vorenthalten bleiben muss.

Von diesem, meines Erachtens etwas engherzigen, jedenfalls einseitigen Gesichtspunkt aus, darf die Frage nicht behandelt und entschieden werden. Freiheit, die dem Bildungsgrade und der Reife des Studierenden angepasst ist und eine gesunde Beweglichkeit ermöglicht, kann viel Gutes wirken, Arbeitslust und Schaffensfreudigkeit vorteilhaft beeinflussen und die Entwicklung. selbständiger Charaktere fördern.

Für den denkenden, ernsten Studierenden existiert die Lernfreiheit in ihrer abstrakten Form nicht; sie ist beschränkt durch mancherlei Faktoren: Vorschriften über Teilnahme au Kolloquien, an Seminarien, strenge Prüfungsordnungen u. a. m.

Diese Umbildung in ihrer praktischen Bedeutung hat sie im Laufe der Jahre an den Universitäten erlitten und in dieser Form. ist sie auch in

den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts an die deutschen und österreichischen technischen Hochschulen übergegangen.

Dem System der Studienfreiheit wird die bei uns geltende Organisation mit teilweise geschlossenen Unterrichtsplänen, den obligatorischen Repetitorien und Uebungen, als eine verwerfliche, mit dem Charakter einer modernen Hochschule unvereinbare Einrichtung gegenübergestellt.

Die Wortführer in diesem Lager, soweit sie sich in der Oeffentlichkeit hören liessen, schwächen allerdings die Kraft ihrer Argumente durch eine seltene Einseitigkeit in der Würdigung der Tatsachen, durch merkbare Voreingenommenheit und durch absichtliche Negierung der Vorzüge.

Wer, wie dies geschehen, von einem «unwürdigen Zwangssystem» spricht, dessen Handhabung einer geistigen Vergewaltigung gleichkomme, der diskreditiert seine Legitimation als Kritiker und Reformator. Zudem befinden, sich diese Herren im. Irrtum, wenn sie glauben, sie hätten als erste zur Beseitigung eines von ihnen wahrgenommenen Krebsschaden das Universalmittel der Studienfreiheit entdeckt.

Schon in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde bei der Schöpfung des Grundgesetzes auch diese Frage eingehend geprüft, die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft haben damals die strengere Richtung gutgeheissen. Wiederum, im Jahre 1866, offenbar veranlasst durch zwei unliebsame Konflikte, wie sie sich seither zum Glück nicht wiederholten, kam das gleiche Thema abermals auf die Tagesordnung — ohne Erfolg.

Verschiedene Umstände, namentlich die Vorgänge an den ausländischen technischen Hochschulen, bewogen die Gesellschaft ehemaliger Polytechniker und den schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein in der 2. Hälfte der 70er Jahre zu eingehenden Erhebungen, deren Ergebnisse durch Petitionen an die Behörden gelangten. Die nach mancherlei Richtungen angestrebten Reformen wurden zum grossen Teil verwirklicht; zur Einführung der vollen Studienfreiheit konnten sich die Räte aber auch damals nicht entschliessen. Ein umfassender Bericht, der im November 1897 vom schweizerischen Schulrat an den Bundesrat eingeliefert worden ist, beweist die Gründlichkeit und Umsicht der damaligen Behandlung dieser Fragen. Das Resultat jener Reorganisations-Kampagne, an dessen Zustandekommen auch Männer der Praxis, ehemalige Studierende des eidgenössischen Polytechnikums, mitgewirkt haben, erblicken Sie in unserem heutigen Unterrichtssystem.

Und wenn Sie den ganzen Entwicklungsgang verfolgen, so werden Sie gewahr, dass das Werk, welches sich in unserem eidgenössischen Polytechnikum verkörpert, auf den Schultern von Männern ruht, die als wahre Säulen unseres gesamten Staatswesens hervorragten und deren Namen mit der neuem Geschichte unseres Vaterlandes ruhmvoll verflochten sind. Ich nenne die verstorbenen Bundesräte Francini, Schenk, Welti, den ersten Schulratspräsidenten und spätem Gesandten Dr. Kern, dessen Nachfolger,

den verdienstvollen langjährigen Schulratspräsidenten Dr. Karl Kappeler, Dr. Alfred Escher... .. ..

Was diese Männer als gut und zweckmässig erfunden, und uns als Vermächtnis hinterlassen haben, hat sich beinahe ein halbes Jahrhundert in Jugendfrische erhalten; es kann so verwerflich nicht sein, wie es nun plötzlich dargestellt werden will. Und auf dieser Grundlage, die durch unsere Bundesversammlung Gesetzeskraft erhalten hat, baut sich die Tätigkeit des Professors auf. Mag der Einzelne mit dieser oder jener Bestimmung einverstanden sein oder nicht —gleichgültig — er hat in getreuer Erfüllung der ihm überbundenen und von ihm übernommenen Pflichten seines Amtes zu walten. Ihm deshalb einen Vorwurf zu machen, wie dies in jüngster Zeit wiederholt geschehen ist, ist unrichtig und ungerecht zugleich und beweist wenig Verständnis für Verfassung, Gesetz und Recht.

Ich bezwecke mit diesen Erinnerungen nichts anderes, als den Nachweis zu führen, dass es nicht so einfach und leicht ist, über die aufgerollten Fragen zu urteilen, wie es bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. Dem Ernst der Sache angemessen ist eine eingehende Untersuchung; Vor- und Nachteile sind gewissenhaft zu ermitteln, objektiv gegen einander abzuwiegen und aus dem Ergebnis die logischen Schlüsse zu ziehen. Ein bewährtes Lehr- und Lernsystem wird nicht leichten Herzens preisgegeben; triftige Grunde müssen dazu nötigen. Wenn aber solche überzeugend nachgewiesen sind, darf auch nicht starrköpfig am Hergebrachten festgehalten werden. Von diesem Gesichtspunkt aus wird, wie ich hoffen will, die Angelegenheit behandelt. Der Ausfall der Haupt-Enquête wird dann zeigen, ob und in welchem Umfange weitere Aenderungen notwendig werden.

In innigem Zusammenhang mit den gebundenen Vorlesungen stehen die Repetitorien. Diese müssten der Einführung voller Lernfreiheit weichen, wenigstens in ihrer bisherigen Bedeutung verschwinden. Interessant ist es, den herrschenden Ansichten über diese Institution nachzuforschen. Dem in meiner Akten-Mappe liegenden Material aus der neuesten Zeit entnehme ich folgendes:

Die einen, darunter namentlich zahlreiche ehemalige Polytechniker, erblicken in den obligatorischen Repetitorien ein mächtiges Förderungsmittel, eine wertvolle Wechselwirkung zwischen Lehrer und Lernendem, und möchten sie deshalb nicht preis geben; andere anerkennen deren Notwendigkeit, wünschen aber Abschaffung des Obligatoriums; dritte sprechen ihnen jeden Nutzen ab und vierte endlich — schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort — glauben,. dass sie dem Studierenden zum Schaden gereichen.

Weit gehen die Meinungen auseinander, wie Sie sehen, und unmöglich scheint eine Lösung, die alle befriedigt. Vielleicht steckt in jeder dieser Auffassungen ein Stück Wahrheit. Es kommt tatsächlich nicht bloss darauf an, dass Repetitorien gehalten werden, sondern ganz wesentlich wie sie gehalten werden.

Mit dem richtigen Takte durchgeführt und nicht ausschliesslich als Examinatorien behandelt, bilden sie ein unschätsbares Mittel zur Ergänzung, Befestigung und Vertiefung der erworbenen Kenntnisse und zur Förderung selbständiger Gedankenarbeit.

Mit der vollen Studienfreiheit unverträglich sind die Promotionen. Welche Bedeutung dieser Einrichtung zukommt, soll hier nicht näher erörtert werden. Doch kann ich mir nicht versagen, einige Zahlenangaben zu machen. -

Eine Statistik, die sich auf die letzten 10 Jahre erstreckt und etwa 8000 Studierende umfasst, ergibt durchschnittLich pro Jahr rund 5 %Nichtpromovierte (auf die Gesamtzahl der Studierenden bezogen). Die einzelnen Jahresergebnisse schwanken zwischen 3,56 % (Minimum) und 6,9 % (Maximum).

Sollte die Abschaffung der Promotionen belieben, so müsste an deren Stelle ohne Zweifel ein Ersatzmittel in Form von Zwischen- oder sogenannten Einzel-Prüfungen treten. Ich kann mir wenigstens kaum vorstellen, dass der Zutritt zu den Uebungs- rund Konstruktions-Sälen, zu den Laboratorien gestattet sein soll, bevor nicht in irgend einer Art der Besitz der erforderlichen Vorkenntnisse nachgewiesen ist.

Solche Massnahmen werden gefördert durch die elementarsten Grundsätze der Pädagogik, sie liegen im Interesse der Studierenden und sind auch durch andere Umstände, wie z. B. die bescheidenste Rücksicht auf die vielbeschäftigten Professoren geboten. Im übrigen existieren ähnliche Einrichtungen an ausländischen technischen Hochschulen und an Universitäten; ich erinnere an das sogenannte Verbandsexamen, an die neuesten Vorschriften über Zulassung zu den klinischen Vorlesungen und Uebungen an der hiesigen Universität.

Anhaltend sind die Klagen über die «steten Schwierigkeiten», die dem Schweizer während seiner Studienzeit bei der Erfüllung seiner Militärpflicht erwachsen sollen. Wie unbegrtündet dieselben sind, will ich versuchen, ziffernmässig nachzuweisen:

Im Jahr 1897 sind von 485 schweiz. Stud. 72 beurlaubt worden =14,84 %
» , » 1898 » » 522 » » 69 » » = 13,21 %
» 1899 » » 553 » » 95 » » =17,18 %
» » 1900 » » 620 » » 154 » » =24,84 %
» » 1901 » » 642 » » 109 » » =17,00 %
» » 1902 » » 707 » » 181 » » =25,60 %

In diesen sechs Jahren sind somit 680 Urlaubsgesuche bewilligt worden; Abweisungen gehören zu den grössten Seltenheiten. In den letzten vier Jahren — mein Gedächtnis kann mich hierin kaum täuschen — sind im ganzen zwei Gesuche abschlägig beschieden worden. Auf 539 Bewilligungen zwei Abweisungen! Diese waren so eigenartiger Natur, dass sie bei gründlicher Ueberlegung überhaupt nicht hätten gestellt werden können.

Wie man angesichts solcher Tatsachen von «tagtäglichen Scherereien und Schikanen» sprechen kann, ist mir unerklärlich.

Auch die Diszipliarbestmmungen unseres Reglementes erleiden harte Anfechtung; sie werden in einer verbreiteten Artikelserie als etwas unerhörtes», «geradezu als eine Invektive gegenüber. den Polytechnikern» bezeichnet. Leider hat der Verfasser übersehen, dass solche Ordnungen an in- und ausländischen Hochschulen ebenfalls bestehen. Hätte er. sich z. B. die «Statuten für die. Studierenden und Auditoren der Universität Zürich». verschafft, so wären ihm dort die meisten der beanstandeten Artikel in sachlich beinah völliger Uebereinstimmung wieder begegnet. Und doch hat sich dort niemand gegen deren Existenz aufgelehnt

Die praktiSche Bedeutung dieser Disziplinar-Artikel kann einigermassen durch statistisches Material veranschaulicht werden. In den letzten zehn Jahren wurden vollzogen:

Verweise durch den Vorstand 549
Verweise durch den Direktor 241
Androhung der Wegweisung 151
Wegweisung bezw. Streichung 70

Diese Massnahmen entfallen auf etwa 500-550 Studierende.

Die überwiegende Zahl dieser Disziplinar-Verfügungen betrifft Fälle mit ungenügenden Leistungen und fallen in die Kompetenz der Fachschulkonferenzen; ein verschwindender Bruchteil ist auf andere Ursachen (tätliche Angriffe in Unterrichtsgebäuden, Vergreifen an fremdem Eigentum) zurückzuführen; Zugehörigkeit zu einem Verein ist, soweit meine Erinnerung reicht, nie Gegenstand einer Massregelung gewesen; ebensowenig sind Vereinsstatuten, Mitgliederverzeichnisse — wozu wir vollauf berechtigt wären — eingefordert worden.

Von den Disziplinarstrafen wird im Matrikel Vormerk genommen; worüber die Studierenden durch die Matrikel-Auszüge genau orientiert werden. Das geheimnisvolle Buch, von dem irgendwo die Rede ist, welches mehr enthalten soll, als die Studierenden erführen und das wohlverwahrt in den Schränken der Behörden gehütet werde, existiert ausschliesslich in der Phantasie des Verfassers; es gehört ins Reich der Fabel.

Und wenn in der Handhabung der Reglemente im Laufe der Jahre eine Aenderung eingetreten sein sollte, wie dies oft behauptet wird, so isi es im Sinne einer freiern Auffassung und nicht in reaktionärem, engherzigem Geiste geschehen. Das wird Jedermann bezeugen müssen, der sich einen ungetrübten Blick und ein klares Urteilsvermögen bewahrt hat.

Noch gar manches wäre zu sagen, doch soll den kommenden Enquêten nicht vorgegriffen werden. Nur eines kann ich zum Schlusse nicht unterdrücken.

Schmerzlich muss es denjenigen berühren, dem das Wohl unserer Hochschule am Herzen liegt, wahrzunehmen, dass die jüngste Bewegung mit Bitterkeit und Uebelwollen — um keinen andern Ausdruck zu gebrauchen

— gegen unser Landesinstitut und zum Teil gegen die Professoren, durchtränkt ist.

Wie ein roter Faden ziehen sich die Anschuldigungen durch die verschiedenen Elaborate hindurch; übelgelaunte Rufer im Streit sprechen von Misserfolgen, unterlassen jedoch, solche namhaft zu machen; von den Vorzügen, die der herrschenden Ordnung erwiesenermassen zukommen, ist nirgends die Rede.

Die Form ist ihnen alles — nichts der Inhalt.

Es werden Zeiten kommen, wo über diese Art Kritik auch Kritik geübt werden wird.

Dies alles wird uns nicht hindern, die Klagen und was damit im Zusammenhange steht, und vielleicht noch manch anderes, mit Ruhe und Objektivität zu prüfen und unser Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben.

Ob dabei das Grundprinzip der Organisation:

«Ordnung mit Freiheit gepaart»

durchbrochen wird, das muss die nächste Zukunft lehren.

Soviel an uns liegt, werden wir. mit allen Kräften dafür besorgt sein — und in diesem Bestreben hoffen wir auf Ihre Zustimmung und Unterstützung, verehrte junge Freunde — dass das prophetische Wort, welches Bundesrat Frei-Herose am 15. Oktober 1855 bei der feierlichen Eröffnung des eidgenössischen Polytechnikums gesprochen hat:

Die Anstalt möge werden: «zu einem kräftigen Eckstein
des Vaterlandes, an welchem Bund und Bürger
sich stützen, aus dem Ruhm und Segen quillt, und dessen
Einrichtung stets mit Stolz eine der schönsten Schöpfungen
des neuen Bundes genannt werden kann..»

auch für die fernere Zukunft zur Wahrheit werde. -.

Damit erkläre ich das Studienjahr 1903/04 für eröffnet.