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Rede bei der Feier des Jahrestages der Eröffnung der Hochschule in Bern

den 15. November 1838,

gehalten von

Dr. M. Schneckenburger,

d. z. Rektor der Hochschule

Bern. 1838.
Gedruckt bei Chr. Fischer.

Die Wiederkehr des Tages, an welchem vor vier Jahren unsere Hochschule ins Leben trat, führt uns heute zusammen. Es ist gut und löblich, beim Beginn eines neuen Arbeitsjahres die festliche Stimmung neu zu erwecken, welche beim anfänglichen Eintritt in den schönen und erhebenden Kreis der Thätigkeit uns erfüllte. Es verdient die Gründung einer Hochschule, dieser wichtige Schritt zur geistigen Verselbständigung eines Volke, als ein Moment der Nationalgeschichte liebevolles Andenken, und ihre Feier die Theilnahme der Freunde des Vaterlandes. — Beauftragt, heute das Wort zu ergreifen, empfinde ich nicht geringe Verlegenheit, der Feier ihren würdigen Ausdruck zu geben, und nach der Weise der früheren Festredner Ihren Forderungen mit gediegenem und geistreichem Vortrage zu genügen. Soll ich einen Rückblick werfen auf das zurückgelegte Jahr der Universität, oder Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft vorbringen? Dass eine junge Anstalt noch Vieles zu wünschen und erst zu hoffen hat, ist wohl natürlich, aber davon jetzt und hier zu reden, zwecklos. Was dagegen an ihr zu rühmen ist, wodurch sie zu Hoffnungen berechtigt, was sie von Gedeihen, von erfreulichem Fortschreiten, von wirklichen Früchten zeigt, rühmend

zu erwähnen, will ebenfalls nicht passend scheinen, da keine bestimmte Veranlassung vorliegt, mit dem hervorzutreten, wodurch etwa missgünstiger Zweifel zurückgewiesen werden könnte, und da eine abgeneigte Gesinnung, die erst zu gewinnen wäre, nicht darf vorausgesetzt werden in den geehrten Theilnehmern unserer Feier. Allerdings gehören die Früchte einer solchen Anstalt nicht zu den schnell reifenden, sie sind aber um so nachhaltigen, und müssen sich selbst Anerkennung verschaffen, und der Anstalt, der sie verdankt werden. Oder soll ich die preiswürdige Sorgfalt der hohen Behörde, den gewissenhaften Fleiss der Lehrenden und Lernenden, von welchem die Zahl der Collegien und der Erfolg gesetzlicher Prüfungen zeugt, hervorheben? so würde es ja scheinen, als ob diess etwas Besonderes wäre, das sich nicht von selbst so verstände und so sein muss, wenn ein gedeihliches Resultat soll herauskommen.

Lassen Sie sichs daher nicht verdriessen, wenn ich von der blossen Rücksicht auf die Zustände unserer Hochschule hinweggehe auf ein weiteres Feld, und eine Materie von allgemeinerer Natur zu besprechen versuche, welche jedoch nicht ganz ausser Beziehung zu dem Wesen unserer heutigen Feier stehen möchte. Die Hochschulen deren Gründung wir feiern, soll ja — und die Redner vor mir haben es mehrfach und würdig ausgeführt — ihrem wesentlichen Zwecke nach eine Stätte der Bildung und in den Kulturgang nicht nur des Volks, das sie geschaffen, sondern der Menschheit überhaupt einzugreifen geeignet sein. Lassen Sie mich über den Begriff der Bildung, wie er sich historisch entwickelt hat, sprechen,

und in kurzen Hauptzügen eine Geschichte dieses Begriffs Ihnen vorführen. Ich beschränke mich dabei auf die christlich-germanische Welt und Zeit, absehend von den antiken, klassischen Völkern und ihren Bildungsbegriffen. Wird es Ihnen, wie mir, scheinen, dass bei den gegenwärtig im Grossen herrschenden, zum Theil einseitigen und widersprechenden Ansichten über Bildung überhaupt, es Sache der Wissenschaft sein muss, die ja der Bildung zu dienen hat, den Begriff derselben nach seiner Wahrheit und seinem Grunde zu bestimmen, und dass dazu auch die historische Betrachtung, wenn gleich nicht massgebend, doch hinleitend beitragen kann: so bleibt mir nur übrig, das Bekenntniss voranzuschicken, dass ich mir wohl bewusst bin, weder irgend wie erschöpfend, noch auch ohne die Farbe meines Fachstudiums das gewählte Thema behandeln zu können, umfassenderen und tieferen Ansichten es empfehlend, die Lücken und Mängel meiner Behandlung zu ergänzen.

Roh, aber naturkräftig und unverdorben, hatten sich durch die Völkerwanderung Stämme germanischen Ursprungs in den Regionen des Südens und Westens niedergelassen, und die abgestandenen, durch römische Kultur und Despotie gebrochenen Nationalitäten mit neuem Entwicklungskeime befruchtet. Regel und Gesetz erhielten sie durch das Christenthum, durch die den Untergang der politischen Institutionen trotzende Hierarchie, durch den die Sinne fesselnden und das Gemüth der Barbaren wundersam anregenden Cultus. Am bewusstesten erkannte Karl der Grosse die Aufgabe der Kirche, den Geist der Völker zu entwickeln, und was er für sie that,

geschah in jenem grossartigen Gesichtspunkte, eine Schule der Nationen aufzuthun. Die Pfalz des Kaisers war der Mittelpunkt und Heerd der Kultur; die lateinische Kirchensprache zu verstehen, machte die Hauptsache derselben aus. Damit blieb der Weg offen zu den Schätzen der Alten, und die ersten Männer des Zeitalters, dieser ersten Epoche der germanischen Bildung, waren, wie Karl selbst, mit Rom und Griechenland nicht unbekannt. Allerdings nimmt sich's fremdartig aus jenes Hausen mit klassischen Formen in Besprechung unmittelbarer Gegenstände des damaligen Lebens, und man hat sie schon witzig fremde geschmacklose Hüllen genannt, mit denen der erwachende Geist sich schmückte, wie der schöne Wilde mit den Lumpen des Europäers. Allerdings war diese Bildung nicht eine Blüthe des Volkslebens; sie war ein fremdartig Erlerntes. Aber war diess Erlernen nicht eine nothwendige Zucht des erwachenden Geistes, wenn derselbe zur eigenthümlichen Blüthe sich erschliessen sollte? War nicht das weltlich klassische Element neben dem kirchlichen und in der Einheit mit diesem, die noch kein entwickelter Gegensatz zerrissen hatte, ein schöner und der einzig denkbare Ersatz für die durch die kirchlichen Tendenzen zum Untergang bestimmten und auch durch Karls gemüthreiche Sorgfalt nicht geretteten heimischen Produkte des Volksgeistes in Heldenlied und Sage? Schade nur, dass die von Rar! so emsig gepflegte Gartenpflanze nicht nachhaltig gedieh unter den Stürmen, welche bald nach ihm, besonders nach dem Untergange seines Geschlechtes, hereinbrachen. Kaum dass hie und da hinter Klostermauern

die Kenntniss des klassischen Alterthums und die damit zusammenhängende geistige Frische als seltene Oasenerscheinung hervortaucht; kaum dass wie ein schnell vorübergehendes Morgenroth ohne gleichfolgenden Tag unter den Ottonen eine vielversprechende Berührung mit dem griechischen Geiste stattfand. Die Bildung im Allgemeinen beschränkte sich auf das Kirchenlatein und was dieses bot, die Geistlichkeit blieb in ihrem einzigen Besitz und die Aeusserlichkeiten der Kirche ihr hauptsächlichstes Material. So bis ins eilfte Jahrhundert. Wenn in dieser Zeit die Geistlichkeit ausschliessliche Trägerin dessen war, was man Bildung nennen kann, so tritt vom eilften bis ins vierzehnte Jahrhundert eine andere Bildung dieser kirchlichen an die Seite und gegenüber, die weltliche Bildung der Ritterschaft, Courtoisie, Höfischheit, eine Frucht allerdings der bisherigen kirchlichen Zucht und des religiösen Eifers, aber auch eine Aeusserung der menschlich natürlichen Selbstständigkeit und nationalen Weltlichkeit, ursprünglich eine christliche Verklärung des alten Kraftheldenthums, bald aber eine rein menschlichen, gemüthlichen, geselligen Interessen zugewandte Tüchtigkeit des Thuns und Geniessens, des Strebens und Waltens, und wenn auch im Aeusseren der Kirche nicht entzogen, doch, wie schon entstanden nicht ohne Einflüsse saracenischer Art und Sitte, und gefördert durch die zuerst von religiöser Begeisterung veranlasste, nachher aber ganz in's Weltliche aufschlagende Näherung und gegenseitige Reibung der Nationen in den Kreuzzügen, so auch nicht ohne bemerkenswerthen Anklang an die dem Grundcharakter der Zeit noch ferne liegende

allgemein menschliche Toleranz. Ich erinnere nur an Friedrich den zweiten, der gewissermassen die Blüthe dieses weltlichen Ritterthums darstellt; ich erinnere ferner an den dem Gottesdienst gleichstehenden romantischen Frauendienst, ich erinnere an die ansprechenden Denkmale jener ritterlichen Bildung in den heimischen Lauten der Minnesänger. Nirgends tritt und plastischer, anschaulicher und belehrender die Gewalt der ritterlichen Bildung nach ihrer rein menschlichen, von kirchlicher Sitte und Gesinnung emancipirten Seite mit allen Vorzügen und Gebrechen entgegen, wie in Gottfried von Strassburger Tristan und Isolde. Reisen durch fremde Länder und Erlernen fremder Sprachen (der durch die Kreuzzüge erweiterte Gesichtskreis lässt sich hier nicht verkennen) ist ein Haupttheil dessen, was zur Vollendung des jungen Herrn gehört; mit Allen zu leben wissen, in jeder Lage gerecht und gewandt, redselig, angenehm, den Treuen treu, den Falschen rund, in Gesellschaft bescheiden und duldsam, aber vorsichtig und klug, tapfer und waffengeschickt, empfindsam, zart und beständig in der Hingebung, aber ohne festen moralischen und religiösen Halt: so erscheint der Held, in dem sich die ritterliche Kultur spiegelt.

Mit dem allmäligen Verkommen dieser ritterlichen Bildung, wie der ihr parallel gehenden kirchlichen, welche besonders das vierzehnte Jahrhundert darstellt, erheben sich aus den absterbenden Stämmen zwei neue Reiser mit theilweise frischer Lebenskraft, die gelehrte Bücherbildung auf Universitäten und die Bürgerbildung in den Städten. Die Universitäten, diese Pfleglinge der

Hierarchie, so lange sie noch an den Geist glaubte, und durch Geist die Welt zu beherrschen getraute, erzogen einen gelehrten Stand der Doktoren, einen geistigen Ritterstand, und ihre höchste Thätigkeit war, die von der Kirche überlieferte Wahrheit denkend zu durchdringen, und dadurch zum innersten Eigenthum zu machen. Dialektische Schlagfertigkeit, hervorgehend aus der Schärfe des jeden Stoff in seine Elemente zersetzenden Verstandes, war die Haupteigenschaft der Bildung, welche die Universitäten schufen, und in ihren Disputirkämpfen den ritterlichen Turnieren vergleichbar, übten, woneben reiche Anschauungen von Natur und Geschichte vergeblich gesucht worden. War auch der Hauptstock des Denkens von der gelehrten Tradition und präsenten Auctorität gegeben und gehütet, so konnte doch nicht fehlen, dass die denkende Beschäftigung mit ihm eine geistige Selbstständigkeit erzeugte, welche der blossen traditionellen Gelehrsamkeit und jeder Auctorität gefährlich werden musste, und die Wendung in den Universitätsstudien, wodurch Aristoteles, erst nur geborgt von den Saracenen und Juden, die Grundlage alles Wissens, der Inbegriff aller Wahrheit wurde, mit dem Ruhme ein Vorläufer Christi zu sein, deutet genugsam auf die Emancipation des Geistes, welche die scholastische Bildung bei aller Unbehilflichkeit ihrer, den stählernen Beinschienen und Panzerhemden der Ritter vergleichbaren, Categorien, bei aller Deferenz gegen die äusserlich geltende Macht der Kirche mit sich führte, so dass es zu dieser formellen Lösung hinzu nur noch der reiferen positiven Kenntnisse und Wissenschaften bedurfte, damit von den Universitäten

aus ein Geist der Freisinnigkeit und Selbstständigkeit ausging, der nach Reformen in allen Zuständen rief. Stellt sich in der Universitätsbildung eine allerdings nur auf den vom Volk abgetrennten gelehrten Stand beschränkte, allmälig entwickelte Verselbstständigung deo germanischen Nationalgeistes gegen den die Zügel der Zucht und des Geisterregiments führenden romanischen Geist der Hierarchie dar, — ein Oppositions-Verhältniss, welches auch darin sich ausspricht, dass die volksmässigen Mönchsgesellschaften, die oppositionsreichen Bettelorden die Coryphäen der Universitätsbildung lieferten: so ist eine andere Verselbstständigung des weltlichen und nationalen Geistes zu finden in der theils von Traditionen der alten klassischen Zeit, theils von den Wirkungen der Universitätsweisheit, theils und vorzüglich von unmittelbaren Erscheinungen und Zuständen des Lebens getränkten Bürgerbildung. Was das Aufkommen der Städte und das Sinken der Rittermacht begünstigte, das erzeugte eine Cultur der Prosa, der auf Befriedigung unmittelbarer äusserer Bedürfnisse gerichteten Fertigkeiten, Gewerbe, Handel, Kunstfleiss, Kenntniss der Menschen und Länder, politische Klugheit, Freiheitsinn, Kraftgefühl, Selbstvertrauen. Bürgerschaften, die durch Fleiss und Betriebsamkeit zu einem festen Besitze gelangten, lernten den Werth des mühsam erworbenen, und die Wichtigkeit jeder beim Gewerbe bethätigten Person doppelt hoch anschlagen. Der Mensch lernte etwas sein eigen nennen. Aus diesem Keim entwickelten sich gesellige Tugenden und Formen des Zusammenlebens, genaue Abgrenzung der Rechte, Gefühl der Persönlichkeit,

gegenseitige Achtung des Menschlichen im Bürger. Die Uebung des Sinnes und der Kraft in den Gewerben gab eine männliche Tüchtigkeit und Frische; der Verkehr des Kaufmanns lehrte fremde Länder, Sitten und Gebräuche kennen, und hob den Blick über das Weichbild der Heimath. Mit dem durch die beständige Hut vor herrschaftlichen Anmassungen wach erhaltenen bürgerlichen Freiheitsgefühl verband sich Freisinn und Unbefangenheit gegen kirchliche Despotie, und wie sich im offenen Meistergesang, der den Feierabend verschönte, die Lebensweisheit des ehrbaren, bürgerlichen Sinns aussprach: so bewahrten die Hütten der Bauleute mit den Geheimnissen der edeln Kunst einen Geist der Unbefangenheit, der sich bewusst von kirchlichen Vorurtheilen befreite. — Diese vier Bildungen finden wir im 14.-16. Jahrhundert nebeneinanderstehend, die kirchlich traditionelle der Geistlichkeit, die weltlich-höfische des Adels, die gelehrt-scholastische der Doktoren, die bürgerliche der Städte, alle vier Formen aber, auch die zwei jüngsten, bedroht und dem Untergang zugeführt durch die überhandnemende sittliche Rohheit, doch die städtische noch am längsten gesund. Während nämlich die kirchliche Bildung im Durchschnitt nichts anders war, als eine Dressur zu dem Mechanismus des Cultus, ohne allen tiefern Ernst und ohne alles gründlichere Wissen, hatte die ritterliche auch jene Feinheit des Anstandes längst verloren, und war in ein wüstes Wesen versunken, so dass der begeisterte Hutten seine Träume von einer geistigen Hebung der Ritterschaft bald aufgeben musste und verzweifelte an den . . "Centauren voll schlechter Sitte." Die Universitäten

pflanzten zwar immer eine Tradition von Wissenswürdigem neben Wissensunwürdigem fort, hatten aber aufgehört, Stätten der Geistesfreiheit zu sein, und leisteten, als ein neues Bildungs-Element eintrat, nicht selten den plumpsten Widerstand, während in den Städten eine gewisse Frische und geistige Lebendigkeit fortdauerte, die sich z. B. in dem nicht verstummten Meistergesange, wie auch in der Aufnahme des neuen Bildungs-Elements ausspricht. Ich meine damit dasjenige Element, welches mit dem Ende des fünfzehnten und Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, oder bei der sogenannten Wiederherstellung der Wissenschaften sich Bahn machte. Die zwar nie ganz vergessenen Alten kamen nach Petrarca's und Boccaccio's Vorgang unter günstiger Einwirkung politischer und kirchlicher Verhältnisse zu neuer allgemeinerer Kenntniss und Geltung. Und wie jenseits des Oceans eine neue Welt emporstieg, so aus dem Schutte Jtaliens eine untergegangene Welt in ihren schönsten Kunstdenkmalen. Beides gab dem Geiste einen Schwung, eine Frische, ein Selbstvertrauen und eine Keckheit, dass weder die Traditionen kirchlicher Sitte, noch die abgestandenen scholastischen Formen der Revolution zu widerstehen vermochten, welche die Geister durchfuhr. Als unter den Augen des Statthalters Gottes ein Heiligendienst der Classiker aufkam, und mit einem religiösen Enthusiasmus, wie ihn die Gläubigsten kaum mehr für die Kirche hegten, die altgriechische Weltansicht, die Lehren der Peripatetiker und der Akademie vorgetragen und aufgenommen wurden; als die Fürsten des Kirchenglaubens selbst, um ihren klassischen Styl nicht zu verderben,

das neue Testament nicht mehr lesen wollten; als die Götter Griechenlands den Päpsten so lieb und vertraut waren, als die — freilich einträgliche — fabula de Christo: da war doch eine völlige Umwandlung des Culurstandes eingetreten, und das ganze Bewusstsein des Gebildeten so vollständig als möglich in den antiken Geist zurückgebeugt. Ohne die Uebertreibung der Italiener genossen fast alle europäischen Länder an dem frischströmenden Born allgemein menschlicher Bildung; und die Sache des Humanismus, wenn gleich fast überall angefeindet von den legitimen Heerden der bisherigen Bildung, gewann in Deutschland theils durch die um den Unterricht so verdienten frommen Brüder des gemeinen Lebens, theils durch freie Verbindungen heller Köpfe, dergleichen die bisherige städtische Bildung erzogen hatte, die Aussicht auf entschiedenen Sieg. Die vollendetsten Repräsentanten dieser neuen Bildung, wodurch die weltliche Seite des menschlichen Geistes zum entschiedenen Bewusstsein gelangte, sind Valla und Macchiavelli, Hutten und Erasmus. Wenn die ersteren drei die eigentliche Trefflichkeit ihrer Nationalität; gekräftigt und durchdrungen von dem Geiste des Alterthums darstellen: so der leztere, der vielgewanderte, mit allen Ständen und Nationen seiner Zeit in einflussreicher Verbindung stehende, von weltlichen und geistlichen Fürsten hochgeachtete Erasmus, den universellen Mann der Aufklärung und Gelehrsamkeit, der die Segnungen der Presse zuerst im Grossen verwirklichte, und die Resultate der klassischen Studien zum Gemeingut der höheren Stände machte, ein Hauptträger der neuen Bildung in ganz Europa .— Diese

ganze humanistische Bildung war ader eine schnell vorübergehende Blüthe; die schöne Form des klassischen Alterthums konnte nicht befriedigen, wo das religiöse Gemüth leer ausging; die vornehme Feinheit der Humanistenbildung liess neben sich die Rohheit und den Aberglauben des Volks, die Verderbniss der weltlichen und geistlichen Grossen. Gehen wir nur ein halbes Jahrhundert vorwärts, so finden wir anstatt jenes lebensheitern Enthusiasmus für die Alten, anstatt jenes eifrigen Studiums ihrer Kunstwerke und Schriftdenkmale, anstatt dieser weltlichen Humanitätsbildung einen streng kirchlichen Ernst, ein gegen weltliche Wissenschaft und Kunst feindseliges Eifern für den Glauben, ein Ringen der Geister über die rechte Form der christlichen Wahrheit alle Bestrebungen durchdringen. Die Kirchenspaltung, von von einer Seite wohl genetisch zusammenhängend mit jenen Humanitätsstudien, wie sie in Deutschland mit religiösem Sinn getrieben wurden, sonst aber allerdings aus tieferem Grunde hervorgegangen, hatte diese Wendung herbeigeführt. Wie überraschend bald und glücklich restaurirte sich der kirchliche Geist in Italien, als der Stoss von dem deutschen religiösen Geiste aus das Gebäude erschütterte, welches nur noch als Gerüste dazustehen schien. Ueber ein Jahrhundert dauerte der Kampf auf Leben und Tod, und dieser Kampf gab der gesammten Bildung der Zeit ihren Inhalt und ihre Form. Gebildet war nur der zum geistigen Kampf der Kirchen geschickte: die Kenntniss der Controverse und die Fähigkeit zur Theilnahme an ihrer Führung war die höchste Cultur. So sehr hatte sich das kirchliche

Interesse an die Spitze aller Bestrebungen gestellt. Die Humanitätsstudien verfielen, so weit sie nicht jenem Interesse dienen konnten, und machten einem neuen Scholastizismus Platz; selbst der Gegensatz zwischen gelehrter und Lebensbildung hob sich in so weit auf, als der kirchliche Streit in das Volksbewusstsein vollkommen einging, und selbst in der Volkspoesie als der alles beherrschende Mittelpunkt erscheint. Gerade in Deutschland griff der geistige Gegensatz am tiefsten ein, und absorbiere alle früheren Cultur-Bestrebungen, weil sich dort mehr als anderswo beide kirchlichen Mächte in einem gewissen äussern Gleichgewicht gegeneinander halten konnten, und der Sieg nicht, wie anderswo, durch Gewaltmittel für die eine oder andere Seite entschieden ward. Da galt es, hauptsächlich durch geistigen Kampf das Uebergewicht zu erringen, und diese Spannung der kirchlichen Interessen war so allgemein und so intensiv, dass man nicht achtete und merkte, wie der sichere Grund der Erde zu wanken anfing, als das Feuerauge des Kopernikus in die Tiefen des Himmels geblickt hatte, und dass der kühle, prosaische Realismus, der über alle Religion lächelt, wie er in der Schrift de tribus impostoribus auftauchte, als ein bis jetzt noch unerklärtes, im Schatten des Geheimnisses fortgepflanztes Räthsel des sechszehnten Jahrhunderts dasteht. —Erst musste der aus gesteigerter Spannung über die Religion hervorgegangene 30jährige Krieg durchgekämpft sein, und die absolute Unmöglichkeit gezeigt haben, das eine oder andere Prinzip zur alleinigen Herrschaft zu bringen, diese Unmöglichkeit gezeigt haben mit dem

äusseren Ruin der meisten deutschen Länder, bis von der alles umschlingenden und alles beherrschenden kirchlich-religiösen Bildung eine neue weltliche Bildung sich abzweigen und um sich greifen konnte. Es trat ein Aehnliches ein, wie bei den Kreuzzügen. Der anfängliche Enthusiasmus um die Religion, welcher den Krieg angeschürt hatte, erkaltete über den Erfahrungen des Kriegs immer mehr; die Religionsfrage ward —zunächt den Vornehmeren — gleichgültig. Der Friedensschluss zeigt auf's Klarste das Vorherrschen von durchaus politischen Interessen über religiöse, die von jetzt an politisch machtlos werden. Sodann die gegenseitige nähere Berührung so verschiedener Stämme, der Nachkommen jener Auswanderer der grossen Völkerzüge, in ihrer ursprünglichen Heimath war nicht minder, wie die Völkerberührung in den Kreuzzügen, ein anregendes Moment, und Deutschland, dessen äusserem Glück jener Krieg so tiefe Wunden schlug, hat durch denselben geistig neue Anregungen der Bildung von all den fremden Völkern aufgenommen, die in seinem Schoosse sich schlugen. Denn von jetzt an beginnt in Deutschland mehr als anderswo die Theilnahme an den geistigen Schätzen der übrigen Nationen, beginnt allmälig die Kunde von den fremden Litteraturen, wenn auch langsam, sich zu verbreiten, und damit eine Gährung einzutreten, welche für die Cultur von höchster Wichtigkeit werden musste. Während allerdings das Latein die Grundlage aller Geistesbildung und das Medium selbst für politische Unterhandlungen blieb, zog man nun auch die französische, italienische, zuletzt die englische Sprache herbei, und

es bereitete sich dadurch vom Anfang des vorigen Jahrhunderts an ein gewisser rein menschlicher Universalismus. Als weltliche Lebensbildung galt das französische Wesen, das am Hofe und in der Zeit Ludwigs XlV., Gestalt gewonnen hatte, / und gewissermassen die Ritterbildung der Vorzeit in neueren Formen wiederholte, von dort tonangebend in die Länder ausging, Sitten und Begriffe der vornehmen Welt bestimmte, und die französische Sprache zum allgemeinen Medium für feinere Geselligkeit, / französische Litteratur zum Muster und Inbegriff des Schönen und Edeln machte. Wie diese weltliche Lebensbildung von Frankreich ausging, als dem Lande, in welchem die kirchliche Restauration nie vollständig durchgeführt, und auch der kirchliche Eifer von vorn herein am stärksten von weltlichen Interessen tingirt war, wo die Emancipation der weltlichen Politik von der geistlichen Leitung, die seit den Restaurations-Bestrebungen sich wieder an die Spitze der Völker gestellt hatte, am frühesten ausgesprochen war; so gewann die weltliche gelehrte Bildung im Sinne des aus den Religionscontroversen sich wieder erhebenden Humanismus da einen Mittelpunkt, wo durch die Reformation ein die Rührigkeit und den Freisinn der früheren städtischen Bildung in höherem Masse repräsentirendes bürgerliches Gemeinwesen entstanden war, in den Niederlanden. Diese weltliche gelehrte Bildung verstieg sich diesseits der Alpen und in nüchterner gewordener Zeit nicht, wie in den Tagen des klassischen Enthusiasmus, zu einer anachronistischen Uebertragung der gesammten alten Weltanschauung, und es trat zu ihr ein neues Element hinzu, das nicht auf

einer schönen Vergangenheit, sondern auf dei unmittelbaren Gegenwart ruhte. Es war, als ob mit dem freien, unbefangenen Sinne für das Alterthum jener Zeit erst auch der Blick auf die Gegenwart geschärft worden wäre, und der Mensch nach den leidenschaftlichen Händeln über den Himmel erst recht anfangen wollte, in seiner nächsten Heimath sich umzusehen, und auf Erden zu Hause zu sein. Durch das "frische Umherschauen mit gesunden Sinnen," durch die vereinten Erfindungen und Erforschungen der Deutschen, Engländer, Franzosen und Italiener gestalteten sich die Naturwissenschaften zu dem reichsten Systeme von Welt- und Verstandesgesetzen, und es konnte nicht fehlen, dass von dieser für den Geist neu in Besitz genommenen Welt der unmittelbaren Erscheinung aus eine Regung entsprang, die mit der geltenden kirchlichen Bildung und ihrer traditionellen Auctorität in leiseren oder lauteren Conflikt trat. Doch geschah diess erst im Verlaufe, da Anfangs der Kreis der Kenner klein war, und sich, vermittelst der noch immer gebrauchten lateinischen Sprache, in gelehrter Abgeschlossenheit hielt. Es war etwa gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass die drei Formen der Cultur, die kirchlich-gelehrte, die weltlich-gelehrte und die Lebensbildung sich erst mit rechtem Bewusstsein von einander schieden, und den von Anfang an schon vorhandenen aber noch verdeckten Gegensatz zur gegenseitigen Ausschliesslichkeit ausbildeten. An dem Gefühl der Nothwendigkeit einer Ausgleichung fehlte es nicht, namentlich sind ihrer Tendenzen wegen, wenn auch schwächlich genug ausgeführt, zwei solche Versuche zu

nennen, welche von den beiden kirchlichen Seiten ausgingen, und sich in zwei Unterrichtssystemen darstellten, in dem der Jesuiten einerseits, und andererseits in dem der Pietisten zu Halle. Beide Unterrichtssysteme, und zwar das pietistische von Franke nicht minder wie das der Jesuiten, stellen sich dar als Bestrebungen der kirchlichen Bildung, sich der beiden andern Bildungsweisen zu bemächtigen. Warum diess Bestreben nothwendig misslingen musste, und keine harmonische Bildung, die jene drei Formen vereinigt hätte, zu Stande brachte, bedarf keiner Ausführung. Die kirchliche Bildung erwies sich im Ganzen unfähig, den Bewegungen gleichen Schritt zu halten, die in den andern Kreisen vorgingen; sie kam von der scholastischen Form, in welcher sie sich zuletzt durch die Wolfische Philosophie zu halten suchte, sehr rasch in völligen Verfall, dessem Schild das sogenannte gebildete Christenthum war; und die weltliche Bildung erhob sich zu hohem Glanze, zu weit ausgedehnter Verbreitung, zur Selbstständigkeit. Um in der Kürze die Elemente dieser nun zur Herrschaft kommenden Bildung zu bezeichnen, sind vor Allem zu nennen die Naturwissenschaften, welche von der englischen und französischen Chemie aus einen früher unerhörten Aufschwung nahmen, in Verein mit Mathematik eine nie geahnte Sicherheit erlangten, und in schnell steigendem Fortschritt den gewinnreichsten Einfluss auf Handel und Gewerbe äusserten. Sodann die griechische Litteratur, welche anstatt der bisher fast ausschliesslich cultivirten lateinischen, hauptsächlich seit Winkelmann und Lessing, als Quelle aller wahren und gesunden Cultur betrachtet zu

werden anfing, auf griechische Kunst und Poesie die Aufmerksamkeit richtete, den Sinn für die reine Schönheit der Form weckte, und die Ideen von harmonischer Ausbildung, von reiner Humanität in Umlauf und Geltung brachte. Damit verband sich für den durch die Berührung mit dem griechischen Geiste geöffneten Sinn (besonders seit Lessing und Herder) die Richtung auf die Erzeugnisse fremder Nationallitteraturen als eine immer mehr zur Universalität strebende, und aus allen Gefilden Blumen und Früchte zum unmittelbaren Genuss herbeiholende litterarische Kritik, eine gewaltige Kämpferinn gegen alle Einseitigkeiten. Endlich aber trat die Wissenschaft, die, so lange sie noch lateinisch redete, mehr nur einen Zweig der Gelehrsamkeit ausgemacht, und ihre zur Herrschaft strebende Natur in Schulformen, gleich als in Klostermauern, verborgen gehalten hatte, geweckt und hervorgetrieben durch den frischen Tag der Naturbetrachtung, heraus in die Welt mit der Zunge und dem Gemüth der Völker, lehrte die Erscheinungen der Menschenwelt und Natur nach ihrem Wesen schätzen und erkennend und gab, wie die geistige Einheit und den Faden der Orientirung für den bunten Reichthum von Schätzen, welche Erfahrung und Studium aufgespeichert hatten, so auch Regel und Richtmass und die in dem Wesen selbst, in der Vernunft liegende Werthbestimmung für alle geistige Thätigkeit. Das philosophische Denken zerlegte, was bloss hergebrachte Geltung hatte, und lehrte keine Schranke zu respektiren, als die es selbst setzte. Der ursprünglich gebrauchte Name Weltweisheit deutet genugsam darauf hin, wie

in der Philosophie das rein menschliche, weltliche Bewusstsein dem erstorbenen und machtlos gewordenen kirchlichen gegenüber zur Blüthe gekommen war. Was sonst das stille Eigenthum einsamer Denker gewesen, das wurde Gemeingut, war ja der gesunde Menschenverstand, den man nur zu brauchen hatte, die gemeinsame Gabe; ihm musste jede Grösse sich beugen. In jenen vergnüglichen, hellen Tagen der Popularphilosophie, der Philosophie für die Welt u., gehörte es zur allgemeinen Bildung, Philosoph und aufgeklärt zu sein, daneben etwa Geschmack zu haben an den Schöpfungen der Poesie und Kunst, zuletzt wohl auch gar selbst eine Art von Genie zu sein. Während die Philosophie sich bald wieder tiefere Gänge grub, und in den eigenthümlich grossen Systemen von Kant an mehr oder minder esoterisch wurde, in der Stille aber fortfuhr, alle Fachwissenschaften zu revolutioniren; entfaltete die Poesie ihre schönsten Blüthen, und der Dichtkunst Stimme zu vernehmen und sich ihrer geniessend zu freuen, galt für das sicherste Zeichen, kein Barbar zu sein. Wie diese neuen Bildungs-Elemente und Begriffe auf das ganze System der Erziehung und des Unterrichts einwirkten, wie die ganze Gestalt des häuslichen und öffentlichen Lebens dadurch modifizirt wurde: darauf weiter einzugehen, muss ich mir versagen, um nur das Eine noch zu erwähnen, dass, während das Panier der reinen Humanität, der harmonischen Entfaltung und Bethätigung der Geistes- und Gemüthskräfte hochstand, unter ihm sich ein geheimer Feind einfand, her das trügerische Zeichen der Brüderschaft an der Stirne hatte, und nicht wenig Verwirrung

anrichtet, eine Verwirrung, in der wir zum Theil noch stehen. Es ist diess die moderne Lebensbildung, am Ende des vorigen Jahrhunderts von Frankreich ausgehend, die consequente Entwickelung jener früheren feinen Hofbildung und der durch das, was man dort Philosophie nannte, gewonnenen Aufklärung. Fassen wir die wesentlichen Züge dieser modernen Lebensbildung, welche noch fortwuchert, und in Schule und Staat bestimmend und tonangebend eindringt, zusammen, so besteht sie erstlich in derjenigen Theilnahme an Kunst und Poesie, welche aus ihnen Mittel des Luxus, des raffinirten sinnlichen Genusses macht, an Theater und Musik das Surrogat für Kirche und Religion hat, zweitens in jenem Uebermuthe der Gesinnung, welche innerlich abgelöst von allem, was sich als Schranke dem willkührlichen Belieben entgegenstellt, wider alle Herkömmlichkeiten in Religion, Sitte und Volksthum, als wider pedantische Fesseln verhöhnend und zerstörend auftritt, drittens in jener weichlichen Menschenfreundlichkeit, welche kein anderes Wohl, als das sinnliche kennend, als ob der Mensch von Brod allein lebte, und den natürlichen Menschen für den absolut berechtigten haltend, das Glück der Menschheit im Grossen durch allerhand mechanische Mittel und philanthropische Central-Anstalten zu befördern, sich selbst aber und dem eigenen sinnlichen Egoismus in diesem Treiben das geniessende und schmeichelnde Bewusstsein der Grossmüthigkeit zu geben sucht. Wenn diese moderne Lebensbildung mit wachsender Entschiedenheit nicht bloss ungenügende kirchliche Formen, sondern das christliche Element selbst auswarf, welches die ganze Entwicklung

der germanischen Welt und Zeit bisher immer noch beherrscht hatte, und nie zu schwächlich ist, neue angemessene Formen zu erzeugen, so stellte sie sich andererseits auch in Opposition mit der weltlich-gelehrten Bildung, und verwarf im Namen der reinen Humanität die bisherigen Humanitätsstudien. Es sind zwei bald vorübergegangene Erscheinungen der jüngsten Zeit, welche als die unverhohlenste Ausprägung dessen angesehen werden können, was im Grunde dieser modernen Lebensbildung von Tendenzen verborgen liegt, der St. Simonismus in Frankreich und die junge Weltlitteratur und Weltreligion der Rehabilitatoren in Deutschland. Beide Regungen, wenn gleich nach kurzem Geräusch scheinbar wieder zur Ruhe gebracht, sind keineswegs überwunden, weder jene praktische systematische Schule St. Simons, noch die poetisch-reformatorische des jungen Deutschlands. Sie hatten ihre Berechtigung auf dem Zeitboden, daraus sie hervorwuchsen, und wenn es gleich scheinen möchte, dass die Gegenwart sich noch unreif zeigte für die neuen Offenbarungen der Harmonie zwischen Fleisch und Geist: so ist ein stilles Fortwuchern solcher Grundsätze der Lebensbildung nicht abzuläugnen. Nicht zu reden davon, dass sie anschliessen an die Einkünfte gefeierter Erscheinungen in Wissenschaft und Kunst, Einflüsse, welche immer mehr ins Herzblut der Gegenwart eingehen: so arbeitet ihnen ja vermöge innerlicher Verwandtschaft der Industrialismus in die Hände, der von Tag zu Tag mehr zur souveränen Macht gedeiht, dessen Utilismus bereits im Gebiet der Schule in siegreichem Fortschreiten ein Zugeständniss nach dem andern erhält, der kein Tempe

und Engadin des Gemüths schonen und von Eisenbahnen frei lassen will, und mit gewinnreichem Dampfe das tiefere Verlangen des Geistes erstickt. Soll ich noch daran erinnern, wohin es durch das Fortwuchern jener modernen Lebensbildung mit dein Worte Bildung gekommen ist, das in der Hierarchie der Begriffe unserer Gegenwart so hoch steht? Ich will die Worte eines Schulmänner gebrauchen, der sich so ausdrückt: Am allgemeinsten versteht wohl heutzutage die grosse Menge unter Bildung ein gewisses äusseres Betragen, wodurch der Mensch ein unterhaltendes oder wenigstens bequemes Glied einer Abendgesellschaft wird. In dieser Bedeutung gewinnt aber dasselbe Wort von den feinsten Soirees an bis zu den Tanzvergnügungen der Gesellenherbergen herab den mannigfaltigsten Gehalt.

So sind wir mit den flüchtigen Umrissen dei der Gegenwart angelangte und nun berechtigt und aufgefordert, über die Stellung uns zu orientiren, welche zu den Zeitbegriffen von Bildung eine Anstalt anzunehmen hat, die der Bildung dienen soll, wobei Veranlassung sein wird, diese Begriffe selbst auf ihren wahren Gehalt zu reduciren.

Fehlt es ja nicht an lauten Stimmen, welche von dem wahren Grundsatze, dass nicht für die Schule sondern für das Leben gelernt werden müsse, eine Anwendung auf unsere Bildungsanstalten fordern, angeblich um dieselben erst recht volks- und zeitgemäss zu machen, wodurch sie geradehin aufhörten, Menschenbildung zu fördern, ja vielmehr anfingen, auch in ihrem Theile die Verkehrtheit der Zeitrichtungen zu befestigen, und den Menschen entadeln zu helfen. Nicht zufrieden damit,

dass die positiven Kenntnisse und Fertigkeiten, welche die Hochschule zu geben sich anheischig macht, die für bestimmte Berufsarten erforderlichen Fachstudien, wie sie von jeher der nur auf Broderwerb gerichtete Sinn für eine Waare gehalten hat, daran er sein Kapital setzt, um mit Behaglichkeit einst die Zinsen zu geniessen, für die Hauptsache erklärt werden, um deretwillen Bildungsanstalten sind; es sollen diese Kenntnisse und Fertigkeiten auch ohne das, was man gelehrten Pedantismus nennt, zum Gemeingut gemacht und mit Beseitigung und Ersparung solcher Vorstudien mitgetheilt werden, welche bisher als die unerlässliche Bedingung gedeihlicher Fachstudien und wissenschaftlicher Tüchtigkeit überhaupt galten. Es lässt sich dieser Forderung manche scheinbare Maske anziehen: die Kraft des unverfälschten, natürlichen Sinnes, die keine Schulzucht von todten Traditionen bedarf; das Interesse und Recht der Gegenwart, das jede Zunftaristokratie aufschliesst. Hat ja gar allerneuestens das Interesse der Religion gemeinsame Sache hiemit gemacht in dem Vorschlag einer Hochschule für Norwegen von Grundvig, in welcher von dem, was Griechen und Römer gedacht und geschrieben, gar nicht die Rede sein solle. Eine solche Verkehrtheit näher zu charakterisiren, ist hier nicht der Ort; auch will ich nicht fragen, wo der Mensch bleibt und was aus ihm werden soll, wenn auf die vorgeschlagene Weise im Schüler der Hochschule ein nothdürftiges Berufsinstrument fertig wird, nicht fragen, welche Förderung das Leben überhaupt und das allgemeine Wohl durch solche einseitigen Fragmente vom wahren Menschen erhalten

soll; ich will nicht weiter hinweisen auf den Frevel, dessen sich eine Hochschule schuldig machen würde, hie dergleichen Forderungen nachgäbe, auf den Frevel gegen die heiligsten Interessen der Menschheit, gegen die dringendsten Bedürfnisse der Zeit, auf die Entbildung und Verrohung, der sie in die Hände arbeiten, auf den Selbstmord, den sie an sich und ihrem wahren Sein begehen würde: nur erinnern möchte ich, uns selbst beglückwünschend, daran, dass unsere Hochschule, obgleich ein Kind der neuesten Zeit, unter glücklicheren Auspizien ins Leben trat, als dass jene Zeitstimmen auf die Anlage derselben den die wahre Bildung gefährdenden Einfluss ausüben konnten. Wenn das Stiftungsgesetz unserer Hochschule (§. 28) das Wesen und die Bedeutung des academischen Unterrichts dadurch ehrt, dass es die Vorträge ausgehen heisst von dem wissenschaftlichen Standpunkte der Gymnasialstudien und der daraus gewonnenen Reife; so sehen wir damit glücklich jenes handwerksmässige Utilitäts- und Popularitätstreiben von unserm Heerde der Bildung abgewiesen, und demselben die Gesundheit vor den ansteckenden Zeitrichtungen gesetzlich bewahrt; und ganz im Sinne des hochherzigen Gesetzes war es gesprochen, wenn der geehrte Sprecher der Eröffnungsrede es ausführte, "wie Wesen und Leben der Universität des neunzehnten Jahrhunderts und in der Republik im wissenschaftlichen Geiste der allgemeinen Bildung bestehe, wie sichs um nichts geringeres als um die Wiederherstellung des menschlichen Geistes in seine volle Selbstheit und Freiheit, nicht zunächst um praktische Theologen, routinirte Advokaten, erfahrene Aerzte, geschickte Oekonomen

und Technologen handle, wie der ganze Mensch von seiner innersten Einheit aus zu bilden sei, das Innerste und Höchstes Geist und Herz, Gesinnung und Gesittung, Tugend und Thatkraft in dem aufwachsenden Geschlechte hervorgehoben, der ganze Inbegriff von Kräften und Anlagen, von Fähigkeiten und Vermögen, die wir Menschheit nennen, zu seiner hohen Bestimmung, welche nicht nur vorübergehend und nicht bloss auf's Irdische beschränkt sein kann, herausgebildet werden muss." Gewiss nur so ist die Hochschule nicht eine Dressur= sondern eine Bildungsanstalt. wie sie ihrem Begriffe und den dringendsten Zeitbedürfnissen nach sein soll. Jene sogenannten Gymnasialstudien, die das Gesetz meint, was sind sie anders, als das durch die Erfahrung, seitdem es eine christlich-germanische Cultur gibt, bewährte vorzüglichste Zuchtmittel des Geistes, die Sprachen die Alten, deren gründliche Aneignung theils wegen ihrer Fremdheit und vorzüglichen Ausbildung, theils wegen des Stoffes von rein menschlichem, urkräftigem und charaktervollem Gehalt, den sie vorführen, dem Geiste diejenige Uebung, Bändigung und Durcharbeitung gewährt, welche zu einem subactum ingenium, zu einem liberalen Geiste gehört. und ist diess nicht die unumgängliche Grundbedingung dafür, dass der ganze Mensch von seiner innersten Einheit aus gebildet werde? Ist nicht die durch das Studium der Alten zu gewinnende sogenannte formale Bildung die kräftigste Durchbrechung des selbstsüchtig abgeschlossenen Gedankenkreises der Einzelnen, welchen zu durchbrechen die Unlust und Unfähigkeit eben die Rohheit ausmacht, die das Innerste und Höchste nicht

in sich aufgehen lassen kann. Und hier ist es, von wo wir einen Blick thun können auf die Bedeutung des Wortes Bildung im Munde derer, die nur sogenannte Welt- und Lebensbildung kennen, und bei aller Verunstaltung doch noch von dem wahren Verhältniss Zeugniss geben. Ein formales Moment, das sich negativ erweist gegen das unmittelbare Hervortreten der Selbstsucht in die präsente Erscheinung, eine Zurückdrängung der rohen Ausbrüche des selbstischen Wesens und ein Geltenlassen der Persönlichkeit Anderer — diess zeigt sich als die Grundlage aller Lebensbildung von jener ritterlichen Courtoisie an bis zu den feinen Manieren des Vielgereisten in der Handwerkerherberge, der auf Bildung Anspruch macht. Auch diese Bildung, wer mag es läugnen, hat als Milderung her Selbstsucht ihren Werth, wenn sie gleich, wie die Erfahrung lehrt und die Natur der Sache erklärt, häufig nur eine äusserliche Zucht ist, hinter welcher, ja, durch welche sich der gesteigerte und verfeinerte Egoismus geltend macht. Wesshalb es begreiflich ist, dass von einem wohlmeinenden Manne, der die feinste Lebensbildung in der Nähe beobachtet hatte, im Namen der Tugend wider die Bildung Protest eingelegt und die Regeneration der Menschheit in der Urkultur gesucht werden konnte. Diess führt uns auf ein Weiteres. Jene bloss formelle Bildung des subactum ingenium verlangt zu ihrer Ergänzung einen Inhalt und Stoff; sie ist noch nicht volle Bildung. Dazu gehört der Besitz von Gedanken, Kenntnissen, Fertigkeiten. Aber von welchen? Da sehen wir die verschiedenen Bildungsstufen ihre Theilnahme vorzüglich dem Bunten

und Mannigfaltigen, dem Neuen und Unerwarteten, beni Grossartigen und Edeln, dem Ernsten und Heiligen, dem Nützlichen und. Einträglichen, dem Sinnlichen und Ueppigen, ja dem Allergemeinsten zuwenden. und in der That darf nichts Menschliches ausgeschlossen bleiben als fremd, damit der Keim des Menschlichen befruchtet und gross gezogen werde. Aber nur wo eine tüchtige Gesinnung und Kraft des Willens die Liebe gibt, einzugehen in das Allgemeine, und die Stärke, nicht unterzugehen im bunten Strome und nicht zu versanden im Berufsfache, sondern sich als selbstständigen Spiegel der Erscheinungen, als Subjekt des Wahren, Guten und Schönen zu behaupten, als berufen, auch in dem speziellen Fache der Lebensbestimmung Ideen der Humanität zu verwirklichen, nur da werden wir wahre und gesunde Bildung anerkennen dürfen. Wie so Gesinnung und Charakter, Tugend und Thatkraft des Willens erfordert wird, damit auch nur theoretisch die Bildung des Menschen zu Stande komme, und ein harmonisches, gediegenes Ganzes werde; so ist auf dieser Seite wohl auch allein die Heilung zu suchen für das Unheil und Verderben, welches die falsche Cultur verbreitet; so ist von dieser Seite aus die Einseitigkeit zu überwinden, welche herrschenden Culturbegriffen anklebt, und es dürfte aus dem wahrsten Bewusstsein der Sache selbst und der Zeitbedürfnisse herausgesprochen sein, wenn uns im Namen derjenigen Wissenschafl; welche als das centrale Organ aller Cultur, als die Wissenschaft schlechthin den andern Wissenschaften mit der Fackel voranzuleuchten hat, bei der Eröffnung unserer Hochschule das Wort gesprochen wurde,

dass das wahre menschliche Leben in der Einheit der geistigen mit der sittlichen Kraft bestehe, dass die Ur- und Grundbildung der menschlichen Natur nur durch das Licht und die Kraft des Christenthums zu gewinnen, und damit endlich Ernst zu machen sei. Unläugbar ist nämlich für jeden ernsten Beobachter der Zeit, dass bei allen Fortschritten der Civilisation, der Industrie, der Kunst und Wissenschaft, bei aller gesteigerten und verbreiteten Feinheit der Lebensbildung eine ungezügelte Begier, zu gewinnen und zu geniessen, unsere Zeit vor vielen andern auszeichnet. Hat der Mensch mehr denn je die Natur bezwungen — und diess gehört zu seiner Aufgabe: sein eigen Herz hat er nicht bezwungen. Der Einzelne betrachtet sich mehr denn je als den Mittelpunkt der Welt, und diese abgöttische Freiheit, die nur sich selbst zum Gott hat, greift mit jedem Tage mehr um sich. Da wird die Liebe, wenn nicht zu sich selbst, zum Traum, die Aufopferung auch für das Höchste eine Thorheit; da können die Folgen nicht ausbleiben, welche uns die Stimmen des Tages deutlich genug verkünden, jene Unzufriedenheit, die vom Norden bis zum Süden geht, jene Angst, welche durch die Geschichte des Tages, durch das ganze Leben der Gesellschaft zieht. Da ist kein ander Heil, als in dem Aufgehen und Herrschendwerden einer solchen Bildung, welche, um mich noch einmal fremder Worte zu bedienen, beseelt ist durch Religion, und welche Licht, Kraft, Gesinnung und Gesittung in sich schliesst.

Und hier stehen wir an der Station, an welcher die Entfaltung des Begriffs von Bildung angelegt ist. Harmonische Entwickelung aller Seelenkräfte, reine Humanität, und was

dergleichen Kategorien mehr sind, womit man Ziel und Wesen der Bildung zu bezeichnen pflegt, mögen wohl ausreichend und treffend scheinen, wenn unter jener Harmonie die durch die Hegemonie der sittlichen Gesinnung geleitete Totalität der menschlichen Fähigkeiten, unter der reinen Humanität die von dem Grundschaden des Egoismus geheilte Menschheit und Menschlichkeit verstanden wird. Wenn neuestens aus Veranlassung der Tendenzen der jungen Weltlitteratur gesagt wurde (Hase): das höhere Bildungsstreben der Zeit gehe dahin, den Einklang und die Versöhnung zu suchen zwischen der hellenischen und der ascenischen Weltanschauung: so mag diess den gegenwärtigen Stand des Bildungsbegriff richtig ausdrücken. Aber vergessen wir nicht, dass mit der sogenannten hellenischen Weltanschauung, die den Menschen doch nur als die höchste Naturblüthe kennt, und den Wurm aus der Blume nicht zu vertreiben vermag, jene Selbstabgötterei gerade ihre Berechtigung und das Culturverderben der Zeit seine Legitimation erhältst um nicht die asccenisch-christliche Weltansicht so mit ihr vereinigen zu wollen, dass die hohe Bildungs-Idee von dem göttlichen Bilde, das im Menschen zur Wirklichkeit werden soll, und das die wahre Freiheit des Geistes und die wahre Seligkeit bringt, verkehrt wird zur Apotheose des bloss natürlichen Menschen, der sich etwa mit den Hüllen des wahren schmückt, und im lügnerischen Bewusstsein seiner Würde sich aufspreizt — eine klägliche Begriffsverwirrung, welche, wenn auch von scheinbarer Weisheit des Tages gehegt, doch nur dazu dienen kann, das Verderben der Zeit, worin sie schon herrscht, zu mehren, und die Bildung, die Noth thut, zu verhindern.

Habe ich die mir vorgesteckte Aufgabe einer bloss historischen Skizze verlassen, so mag die Entschuldigung darin liegen, dass die Bildungsbegriffe der Gegenwart bei ihrer Divergenz von selbst das eigene Urtheil herausfordern, und die Stellung an einer Anstalt, welche neu gegründet ist, um für Bildung zu wirken, es von selber mit sich bringt, offen auszusprechen, wie ich die Aufgabe der Bildung verstehe.

Soll ich zu Ihnen noch ein Wort reden, werthe Jünglinge, in denen das Vaterland die künftigen Träger seiner höchsten Interessen, die Organe seiner Bildung erhalten wird: so werden Sie nicht erwarten, dass ich mit Ermahnung zum Fleiss in den Studien Ihres besondern Lebensberufs die Mahnung wiederhole, welche schon Ihre eigene vernünftige Berechnung Ihrer künftigen Brauchbarkeit, oder, ich will es lieber glauben, Ihre eigene Liebe zum gewählten Beruf und das Gefühl der Pflicht gegen das Vaterland, dem mit Stümpern in keinem Berufe gedient ist, Ihnen nahe legt. Aber die eine Bite lassen Sie mich noch direkt an Sie richten, und sehen Sie sie, als die Ihrer Lehrer überhaupt, als den theuersten Wunsch ihres Vaterlandes an, das Ihnen die hiesige Bildungsschule eröffnete, dass Sie nicht nur die Tüchtigkeit in Ihrem Berufsfache zu erhöhen, sondern überhaupt wahre Bildung, das einzig würdige Ziel jedes Studiums, zu erreichen streben, indem Sie sich keine geringere Aufgabe stellen, als das Schönste und Edelste, was in der Menschheit zu Tage kam, sowohl kennen zu lernen und damit vertraut zu werden, als auch in sich selbst, im eigenen Geiste und Gemüthe, den verwandten Quell zu erwecken und in reiner Kraft ausströmen zu lassen.