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Die Hochschule

Rektoratsrede
gehalten am 17. November 1945 an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule von
Prof. Dr. Franz Tank
Polygraphischer Verlag A.-G. Zürich • 1945

In einer Zeit der tiefsten Not unseres Vaterlandes, im Jahre 1798, entwarf Philipp Albert Stapfer, damals Minister der Künste und Wissenschaften der einen und unteilbaren Helvetischen Republik, den Plan einer allumfassenden schweizerischen Hochschule. Von einer solchen versprach er sich eine eigentliche Wiedergeburt des Schweizervolkes. Sie sollte der Brennpunkt der höheren geistigen Kräfte, ein einigendes Band zwischen den einzelnen Volksteilen und ein Sammelplatz der so verschiedenartigen kulturellen Reichtümer unseres Landes werden. Deutscher Tiefsinn sollte sich hier mit fränkischer Gewandtheit und italienischem Geschmacke vermählen. Gesetzgeber, Richter, Ärzte, Natur- und Geisteswissenschafter, Künstler, Ingenieure und Baumeister: sie alle sollten hier geschult und zum Dienste an der Allgemeinheit erzogen werden. Stapfers Vorschläge, geschöpft aus tier Tiefe des Gedankengutes des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, umweht vom Hauche der Ideenwelt eines Heinrich Pestalozzi, zeichneten sich durch Weite ihrer Konzeption aus. Er faßte die Frage der gesamten menschlichen Schulung und Bildung als ein innerlich einheitliches Problem auf. Nicht dem Nutz und Frommen des einzelnen sollte die höhere Schulung in erster Linie zugute kommen, sondern dem Wohle des Landes. in diesem Sinne betrachtete er den Richter als den berufenen Diener des Rechtes, den Arzt als Helfer der Kranken, den Forscher als Mehrer des Wissens und den Ingenieur als Schöpfer kühner Werke der Technik. Für ihn bedeutete die Erziehung einer ihrer Aufgabe zutiefst bewußten geistigen Führerschicht die Schicksalsfrage eines Volkes.

Es waren goldene Körner, welche Stapfer ausstreute. Aber erst rund ein halbes Jahrhundert später, nach mannigfachen Wandlungen, konnte ein Teil der Saat zur Frucht reifen. In der Grundsteinlegung der Eidgenössischen Polytechnischen Schule, unserer Technischen Hochschule, hat Stapfers Streben endlich eine Krönung gefunden.

Es gibt ein Gesamtleben des Geistes, das in seiner Weitergabe von Generation zu Generation Zusammenhang und Entwicklung aufweist. Fortschreitend und sich ändernd, strebt es einer fernen, uns

unbekannten Zukunft entgegen. Dieser Strom des Werdens wird aus tausend Quellen gespeist; aber eine dringt aus besonderer Tiefe und übt besondere Wirkung aus: wir nennen sie die Hochschule. Sie dient dem Leben und ist selbst ein Stück Leben. In der ungeheuren Auseinandersetzung zwischen Kultur und Macht, deren Zeugen wir in tiefster Erschütterung heute sind, hat die Hochschule mehr denn je der Bedeutung ihrer Sendung sich bewußt zu werden. Als Pflegestätte menschlichen Wissens ist sie ein Hort der Kultur. Soweit aber im Wissen der Keim zur Macht schlummert, darf diese Macht nicht blind befreit werden, sondern nur im Zügel eines unbedingten Willens zur Kultur. Im Wechselspiel der Verpflichtungen vermag die Hochschule ihre Aufgabe nur zu erfüllen, wenn sie bereit ist, Erkenntnis im weitesten Sinne des Wortes zu lehren.

Der Abendländer erblickt in Platos Akademie die erste Hochschule. Plato, mit zwanzig Jahren Schüler des Sokrates, begütert und begabt, ein tiefer Denker, von edelm Wollen erfüllt und ein ausgezeichneter Lehrer, versammelte als reifer Mann in den schattigen Hainen des Halbgottes Akademos in Attika eine Anzahl von Jünglingen um sich, mit welchen er Gespräche über Fragen der Erkenntnis, des Wissens und der Politik führte. Seine Lehrform war der Dialog, wie er ihn auch, in kunstvoller Ausgestaltung, durch seine Schriften der Nachwelt hinterlassen hat. Seine Philosophenschule erhielt den Namen Akademie. Plato lehrte das wissenschaftliche Denken im modernen Sinne; ihm verdanken wir den Begriff der Idee und des Ideals. Platos Welt ist eine rein geistige. Das Geistige in uns weiß um jene Ideale, vermag sich ihnen aber nur zu nähern, nicht sie zu verwirklichen. Alles Geistige ist unsterblich; wir sind nur dessen Hülle und Träger. In der Gegenüberstellung einer letzten Welt des nicht mehr anschaulich Beschreibbaren zum Reiche unserer sichtbaren und greifbaren Erfahrungen besitzt Plato Berührungspunkte mit den Gedankengängen der heutigen Physik. Auch das Sittliche ist im Gebiete des Geistigen eingeschlossen. So diskutiert Plato mit seinen Schülern die Frage nach der Lehrbarkeit der Gerechtigkeit. der Besonnenheit, der Freundschaft, der Tapferkeit, kurz, der Tugend. Während die Sophisten die Rhetorik lehrten als Weg zur Macht für den Politiker, geht Platos Streben nach Erkenntnis und nach Tugend. Nicht eine Aristokratie von Geburt wünscht er, aber eine Aristokratie

des Geistes, hervorgegangen aus einer staatlichen Demokratie, der die Akademie zu dienen hat. Unsere modernen Industrieführer, die so großen Wert auf Persönlichkeitsbildung legen, hätten ihre helle Freude an Platos Unterricht gehabt.

Das Wiederaufleben der klassischen Studien seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ließ von neuem Akademien entstehen, vor allem in Italien, dann auch in den meisten übrigen europäischen Ländern, aber weniger als Schulen, sondern als gelehrte Gesellschaften. Sie widmeten sich der Pflege der Wissenschaft und gelangten teilweise zu hoher Blüte; einzelne blicken noch heute auf eine ruhmvolle Vergangenheit zurück. Es waren die hohen Schulen des ausgehenden Mittelalters, die Universitäten, welchen in der Folgezeit die eigentlichen Hochschulaufgaben zufielen. Sie bestanden ursprünglich aus Körperschaften oder Zünften, in welche sowohl Lehrer wie Schüler aufgenommen wurden. Den Mittelpunkt und Kern dieser Vereinigungen bildete der berühmte Lehrer. Sie wußten sich weitgehende Freiheiten zu sichern, darunter Ehrenrechte wie die Verleihung akademischer Grade; teilweise besaßen sie eigene Gerichtsbarkeit. Sie beschäftigten sich aber, wenigstens in ihren ursprünglichen Formen, nicht mit der freien Forschung, sondern mit der Weitergabe eines überlieferten mehr oder weniger starren Wissens. Eine Lehrfreiheit im heutigen Sinne bestand nicht. Im Gegenteil, der Andersdenkende erschien häufig verdächtig; nicht selten wurde er verfolgt und ausgestoßen. Selbst die hochangesehene medizinische Fakultät von Paris duldete keine Abweichungen von den Lehren des Hippokrates, und wer Arzneien der Araber brauchte oder an den Kreislauf des Blutes glaubte, mußte die Hochschule verlassen. Manche Bezeichnung und mancher Brauch, vor allem auch das stolze Festhalten vieler Universitäten an ihrer Selbstverwaltung, erinnern an jene älteren Zeiten.

Besonders reich an solchen Überlieferungen sind einzelne Universitäten in England, wo von jeher ein ausgesprochener Sinn für Tradition herrschte. Das studentische Gemeinschaftsleben und die allseitige Ausbildung, auch unter Einbeziehung von körperlichen Übungen, also des Sportes, wurde an den englischen Hochschulen immer als wesentlich betrachtet. Eines ihrer vornehmsten Ziele bestand stets in der Erziehung des jungen Mannes zum «Gentleman». Im deutschen Sprachgebrauche lebt im Worte «Bursch» und «Burschentum»

die Erinnerung an jene «Bursae» weiter, Gründungen, durch welche unbemittelte Studenten eine weitgehend kostenlose Ausbildung erhalten konnten. Der fahrende Schüler hat im Worte «Vagant» noch Spuren seines Daseins hinterlassen, und nicht ohne Rauhigkeit haben wir uns die Trink- und Duellsitten an den früheren deutschen Hochschulen zu denken. Die mit dichterischer Groteske ausgemalte Szene «Auerbachs Keller» in Goethes «Faust» mag davon eine Vorstellung geben. Die französischen Hochschulen führten mehr und mehr ein straff geordnetes Unterrichtssystem ein. Sie bildeten sieh zu eigentlichen Fachschulen mit festgefügtem Studienplane und häufigen Examina aus. Die Hochschulen technischer Richtung in Frankreich, unter ihnen die 1747 gegründete Ecole Nationale des Ponts et Chaussées und die rund fünfzig Jahre jüngere Ecole Polytechnique gelangten früh zu bedeutendem Ansehen.

Eine reiche Fruchtbarkeit war tien deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts beschieden. Ihren Aufstieg mag man von der Eröffnung der Berliner Universität im Jahre 1810 an zählen, deren Gründung in schwerster Zeit, teilweise unter dem Drucke der Fremdherrschaft und bei größter Mittellosigkeit, das Werk weitblickender Männer wie des Gelehrten und Staatsmannes Wilhelm von Humboldt und des Philosophen Johann Gottlieb Fichte war. Die Pflugschar stürmischer Ereignisse hatte das verkrustete Erdreich alter, aber freiheitlicher und in ihrem Kerne wertvoller akademischer Überlieferungen gelockert; nun konnte das geistige Gut einer neuen Zeit hier kräftig Wurzel schlagen. Ein Kennzeichen dieser Hochschulen bestand in der umfassenden Lehr. und Lernfreiheit und damit in der Erschließung des unbehinderten Weges im Streben nach Erkenntnis und Wahrheit. Ein weiteres Kennzeichen bildete die Betätigung des hervorragenden Forschers und Gelehrten zugleich als Lehrer der akademischen Jugend. Ursprünglich wurden die geisteswissenschaftlichen Richtungen stark bevorzugt, so daß die Mathematik und vor allem die Naturwissenschaften im Rahmen der Universitätsbildung nicht in ihrer vollen Bedeutung zur Geltung kamen. Die Ingenieurwissenschaften wanderten gänzlich an die Technischen Hochschulen ab, und die Geisteswissenschaften verloren in erheblichem Maße die Berührung mit der Technik. Dem Studierenden wurde eine große Selbständigkeit in der Wahl der Universität und

des Lehrers sowie in der Gestaltung des Unterrichtsplanes eingeräumt, dafür aber ihm auch die Verantwortung für sein Weiterkommen an der Hochschule auferlegt. Bei der Freizügigkeit des Studiums ließen sich Unebenheiten im Bildungsgange nicht immer vermeiden; ferner fiel den Universitätsabsolventen der Übergang zur praktischen Tätigkeit durchaus nicht immer leicht. Aber diese Nachteile wurden bewußt in Kauf genommen. Die Studienzeit gestaltete sich zum Erlebnis, und das war von grundlegender Wichtigkeit. In der Erinnerung des ehemaligen Studenten bildete sie einen der schönsten Abschnitte seines Lebens. Das Vorbild des bedeutenden Lehrers, aufgenommen in einem empfänglichen Alter, blieb von nachhaltigster Wirkung. Nicht ohne Stolz sagte der große Physiker Hermann von Helmholtz 1877 in einer auch heute noch bemerkenswerten Rede «Über die akademische Freiheit an den deutschen Universitäten», sich auf seine eigene Studienzeit und auf seinen hervorragenden Lehrer, den Physiologen Johannes Müller, beziehend: «Wer einmal mit Männern ersten Ranges in Berührung gekommen ist, hat seinen geistigen Maßstab für das Leben verändert; zugleich ist eine solche Berührung das Interessanteste, was das Leben bieten kann.» Und weiter hören wir von ihm: «Wie sehr die Universitäten unter diesem System imstande waren, die wissenschaftlichen Köpfe Deutschlands an sich zu ziehen, zeigt sich am besten an der geringen Zahl bahnbrechender Männer, welche außerhalb der Universitäten übriggeblieben sind. Ein Beweis liegt schon darin, daß gelegentlich darüber gescherzt oder gespottet werden kann, wie in Deutschland alle Wissenschaft Professorenweisheit sei.»

Zu jeder Schulung, welcher Art sie auch sei, gehört in gewissen Zeitabschnitten die Feststellung des Erreichten. Aus dem Lernen wächst von selbst auch die Prüfung heraus. Beim Examen treten sich die Welt des Lehrers und die des Schülers zu einer Auseinandersetzung gegenüber. Die Notwendigkeit, die Prüfungen in ein mehr oder weniger starres Schema zu kleiden, bringt sie in Gegensatz zur freiheitlichen Gestaltung des Unterrichtes. So bildet sich die Problematik der Examina. Nur in der idealen Form des Zwiegespräches, wie Sokrates und Plato und nach ihnen Galilei und andere lehrten, durchdringen sich Unterricht und Prüfung in harmonischer Weise. Wenn heute die Examina als zu sehr mit Stoff belastet gelten, so

waren sie früher noch viel weniger frei von Mängeln. Der bedeutende Astronom François Arago erzählt aus der Geschichte seiner Jugend über seine Prüfung zur Aufnahme an die Ecole Polytechnique im Jahre 1803: «Endlich war der Augenblick des Examens gekommen, und in Begleitung eines Bewerbers, der seine Studien am städtischen Gymnasium gemacht hatte, ging ich nach Toulouse. Mein eingeschüchterter Begleiter fiel auf das vollständigste durch. Als ich nach ihm an die Tafel kam, entstand zwischen dem großen Geometer Monge, welcher als Examinator wirkte, und mir die seltsamste Unterhaltung:

Monge: «Sollten Sie wie Ihr Freund antworten, so ist es unnütz, daß ich Sie frage.»

Arago: «Mein Herr, mein Kamerad weiß viel mehr, als er gezeigt hat; ich hoffe glücklicher zu sein als er; aber was Sie mir soeben sagten, könnte wohl dazu dienen, mich einzuschüchtern und all meiner Fähigkeiten zu berauben.»

Monge: «Mit Schüchternheit entschuldigen sich alle Unwissenden; um Ihnen die Schande des Durchfallens zu ersparen, schlage ich Ihnen vor, sich nicht examinieren zu lassen.»

Arago: «Ich kenne keine Schande, die größer ist als die, welche Sie mir in diesem Augenblick antun. Stellen Sie mir Fragen: das ist Ihre Pflicht.»

Monge: «Sie führen eine stolze Rede, mein Herr! Wir wollen sogleich sehen, ob Sie dazu berechtigt sind.»

Arago schildert den weitern Verlauf des Examens, in dem Monge aber immer wohlwollender wurde, und schließt dann: «Ich stand nun seit zweieinviertel Stunden an der Tafel. Monge erhob sich, und von einem Extrem zum andern übergehend, umarmte er mich und erklärte feierlich, ich solle auf der Liste den ersten Platz erhalten.»

Der Prüfungserfolg und der durch eine Prüfung zu erwerbende Titel dürfen nicht als Sinn des Studiums gelten So kannte unsere Eidgenössische Technische Hochschule früher das Diplom nicht als notwendigen, sondern nur als möglichen Abschluß der Studien. Der Student, der aus Lust und Liebe arbeitet, der treibt, was ihn interessiert, und der das Strebertum nicht kennt, wird im Leben sich bewähren, auch wenn er im Examen nicht an die Spitze gelangt ist.

Wo aber ein Dokument allein den Zweck der Studien bildet, weil man in ihm eine Waffe im späteren Wettbewerbe zu erblicken glaubt, können Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die Hochschule ist eine Bildungsstätte, deren Ziele zu sehr auf das ganze spätere Leben der Studierenden ausgerichtet sind, als daß ihre Aufgabe darin erblickt werden darf, sie müsse auf dem kürzesten Wege Berufskenntnisse vermitteln und rasch zum Erwerbe führen. Wo lediglich die Utilität gilt und das Wissen vom Machtstandpunkt aus betrachtet wird, da verdorrt die Kultur und senkt der Genius der Hochschule seine Fackel.

Stets hat im Wandel der Zeiten die studentische Jugend lebhaften, ja leidenschaftlichen Anteil an den Geschicken ihrer Heimat genommen. Die zukünftige Gestaltung des Vaterlandes ist eine Schicksalsfrage vor allem für die Jugend. Gedenken wir zunächst der Verdienste der schweizerischen Studentenverbindungen um die Pflege des staatsbürgerlichen Interesses. Die Restaurationszeit mit ihrer Herstellung des Alten, der auch der Sinn für die Wiederbelebung der Stapferschen Hochschulpläne fehlte, enttäuschte die akademische Jugend. Sie wünschte ein würdiges, dem Fortschritte offenes Vaterland. So trafen sich vom Jahre 1819 an zur Zusammenarbeit bereite und gleichgesinnte Studenten aus allen Gegenden der Schweiz in Zofingen. Sie organisierten sich, gaben sich die eidgenössischen Farben und nannten sich Zofinger. Dieser Verein war eine vaterländische Verbindung, deren Mitglieder eine gegenüber dem Ausland feste und im Innern geeinigte Haltung der Schweiz erstrebten. Nicht alle Blütenträume reiften. Rückschläge und Spaltungen blieben nicht aus. Im Kampf der verschiedenen Auffassungen zweigte sich die Helvetia ab und wurde der Schweizerische Studentenverein gegründet. Die Geschichte dieser und anderer der farbentragenden Verbindungen verkörpert in ihrer Gesamtheit ein erfreuliches Beispiel vaterländischer Gesinnung und eines höheren geistigen Interesses am Wohl des Staates. Daneben haben die Strömungen der modernen Zeit später noch manches andere Wertvolle geschaffen.

Ein Unglück ist es aber, wenn das eigentliche Parteiwesen in das Leben der Hochschulen eingreift. Es liegt eine tiefe Bedeutung in der überparteilichen, ja überstaatlichen Aufgabe der Hochschulen.

Ihre erste Verpflichtung gilt der Kultur. Was sie leisten, darf der ganzen zivilisierten Menschheit gehören. Die Grammatik läßt sich auch heute noch nicht von einem Cäsar diktieren. Ein großer Cäsar, Napoleon I., hat dies auch erkannt. Als Napoleon im Jahre 1804 den Umschwung der Französischen Republik, deren Konsul er bis dahin gewesen war, zum Kaiserreich durchsetzte, wurde infolge von Fehlern der Regierung die Ecole Polytechnique eine Beute der Leidenschaften. Die Schüler erhielten Befehle, deren Ausführung sie verweigerten. Bei der Meldung über diese Widersetzlichkeiten rief Napoleon dem Direktor der Schule, einem General, zu: «Sie können in der Schule die Zöglinge nicht behalten, welche einen so lebhaften Sinn für die Republik gezeigt haben; Sie werden sie fortschicken.» Sich verbessernd, fügte er dann hinzu: «Vorher will ich ihre Namen wissen und den Rang, welchen sie einnehmen.» Als er am andern Tage die Liste sah, las er nicht über den ersten Namen hinaus, der dem besten Schüler zugehörte. «Die ersten in der Rangordnung schicke ich nicht weg», sagte er, «aber wenn es die letzten gewesen wären...», und sich an den Direktor richtend fuhr er fort: «Herr General, lassen Sie es dabei bewenden.»

Bei aller Vaterlandsliebe muß die Meinung Andersdenkender geachtet werden. Warnend belehrt uns Jakob Burckhardt in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen»: «Jedes Volk ist unvollständig und sucht sich zu ergänzen, je höher es steht, um so mehr», und weiter: «Der Patriotismus, den wir zu entwickeln glauben, ist oft nur ein Hochmut gegenüber von anderen Völkern und schon deshalb außerhalb des Pfades der Wahrheit ... Es gibt aber neben dem blinden Lobpreisen der Heimat eine ganz andere und schwerere Pflicht, nämlich sich auszubilden zum erkennenden Menschen, dem die Wahrheit und die Verwandtschaft mit allem Geistigen über alles geht.»

Der allgemeine Wachstumsprozeß der Wissenschaft hat das moderne Hochschulwesen vor ganz neue und schwierige Probleme gestellt. Gleich einer riesigen architektonischen Schöpfung entwickelt sich das Gebäude der Wissenschaft Stockwerk um Stockwerk, und noch ist kein Ende abzusehen. Auch den Besten beginnt der Überblick zu entschwinden. Den Universalgelehrten, den Polyhistor, gibt es nicht mehr. Dafür braucht man Spezialisten und Arbeitsgemeinschaften

von Spezialisten. Zur Bewältigung all der verschiedenen Aufgaben namentlich der technischen Wissenschaften und der naturwissenschaftlichen Forschung, die Medizin inbegriffen, bedarf es vieler begabter und hervorragend geschulter Menschen. Das Studium wird länger, die Zahl der Studierenden steigt. Letzten Endes stehen wir einem natürlichen Wachstumvorgang gegenüber, der sich — so scheint es — mit nicht zu hemmender Folgerichtigkeit vollzieht und der zu einer Anpassung an neue Lebensformen führen kann. In seiner Auswirkung kommt er einer Mobilmachung der geistigen Volkskräfte in breiter Schicht gleich, die unentbehrlich sind angesichts der gewaltigen Erweiterungen im Hause der Wissenschaft und der Technik. Dabei erscheinen die materiellen Erfolgsaussichten des einzelnen höchst ungewiß, ja gefährdet, wenn nicht gleichzeitig eine Hebung und richtige Verteilung des allgemeinen Wohlstandes erfolgt. Der junge Student darf aber durch Urteile, die in ihrer Art stets einseitig und lückenhaft sein müssen, der Freude nicht beraubt werden, seine Kräfte erproben zu wollen. Immer ist es ein Glück, den geliebten Beruf zu erringen und auszuüben, und immer werden sich Wege finden, durch welche dem aufrichtigen Streben auch die Anerkennung zuteil wird. Vergessen wir nicht, daß das Beste im Leben sich ohnehin weder zählen noch wägen läßt und auch nicht in Hast gesammelt werden kann. Das Studium aber, längst kein Klassenprivileg mehr, wird vor allem zu einer Frage der Tüchtigkeit. Studieren soll nur, wen der Drang zum Wissen treibt und wer im Studium selbst Befriedigung findet.

In zunehmendem Maße tritt der Student mit bescheidenen Ansprüchen auf den Plan. Die materielle Unterstützung der heranwachsenden geistigen Elite wird zu einem Problem, das neuartiger Lösungen bedarf. Diese Lösungen werden mehr als bisher auf die Schaffung geeigneter, sehr freizügig ausgestalteter Arbeitsgelegenheiten zu zielen haben. Ernst Abbe, bekannt als bahnbrechender Mitbegründer der Carl-Zeiß-Werke, der in bitterer Armut aufgewachsen war und kinderlos als ein großer Industrieller starb, hat in bemerkenswerter Weise schon früh ein Recht der Allgemeinheit auf die Leistung der Begabten gefordert. In seinem Entwurfe zum Statut der Carl-Zeiß-Stiftung schrieb er 1895: «Talent und geistige Kraft in den untern Volksschichten,

welche mangels der Möglichkeit genügender Ausbildung dem Dienst der größeren Aufgaben im wirtschaftlichen und öffentlichen Leben der Nation fortgesetzt verlorengehen, müssen durch die Stiftungsmittel zum Vorteil des Gemeinwohles für diesen Dienst quasi rekrutiert werden. Für die Auswahl solcher Stipendiaten soll nicht nur keinerlei territoriale Beschränkung bestehen, sondern es soll im Gegenteil ein tunlichst weites Gebiet der Auslese besonders anzustreben sein.» An den Stipendiaten gerichtet schreibt er weiter: «Junger Mann, du würdest wahrscheinlich glücklicher werden, wenn man dich in Ruhe ließe und in dem Stande, in welchem du geboren bist. Aber die Rücksicht auf das Gemeinwohl verlangt, daß man deine Kräfte für den Dienst von wichtigeren und schwierigeren Aufgaben zu gewinnen suchen muß.»

Welches auch die Zukunft der Hochschule sein möge, ihre Sendung bleibt die Erziehung einer geistigen Elite. Es ist weder die Fülle des Wissens noch die Vollendung des Könnens, durch welche diese Elite in erster Linie ausgezeichnet sein soll, sondern die auf Erkenntnis im weitesten Sinne des Wortes gerichtete vertiefte geistige Haltung. Was die Hochschule sät, ist für das ganze Leben bestimmt. Während sie das Talent formt, legt sie gleichzeitig in den Charakter den Keim späterer Bewährung. Die Hochschule will nicht das Wissen allein vermitteln, sondern auch den Weg zum Wissen zeigen. Es ist ihr nicht nur um Fähigkeiten zu tun, sondern auch uni das Schöpferische. Sie strebt nicht nur nach der fertigen Reife, sondern auch nach der Aufnahmebereitschaft für alles Reifende. Wer aus Berufung und mit innerer Anteilnahme eine Hochschule durchlaufen hat, betrachtet zeitlebens sich als einen Werdenden. Er behält die Gabe, sich zu wundern, besitzt aber auch den Willen und die Kraft, Neues und Unbekanntes, das sich ihm bietet, zu meistern. Die Wahrheit beglückt ihn. Das Suchen nach Wahrheit ist ihm Bedürfnis, die Stunde ruhiger Betrachtung eine Notwendigkeit. Er weiß um die echte Bescheidenheit, welche auf der Freiheit von Vorurteilen und falschen Wertungen beruht, und kennt die Kunst des Zuhörens und des Verstehens. Fremden Leistungen zollt er die gebührende Achtung.

Trotz aller Vielgestaltigkeit der Wissenszweige möge eine solche geistige Haltung stets vom gemeinsamen Ursprung aller Hochschulbildung

zeugen. Sie möge das Band bilden, welches sämtliche Gebiete des Wissens durchflicht. Aus dieser Einstellung heraus gewinnt auch für den Ingenieur die Sprache den Sinn eines geistigen Wunders, das an der Spitze aller Kultur steht, und offenbart sich dem Philologen die Entwicklung der Mathematik als ein königliches Werk in der Geschichte des Geistes. Universitäten und Technische Hochschulen aber werden sich der gemeinsam zu lösenden kulturellen Aufgaben wieder voll bewußt und ihre Trennung hat nur äußerliche Bedeutung. Der Plan von Philipp Albert Stapfer war gut!

So ist der Wesenskern der Hochschule zeitlos. Ihre Form nur ist wandelbar und zeitbedingt. In jeder Form ist sie Dienerin der Allgemeinheit und Wegbereiterin für eine noch höhere Schule. Und diese höchste Schule ist das Lehen selbst.