reden.arpa-docs.ch Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VON DER IDEE DES HUMANEN IN DER GEGENWÄRTIGEN BIOLOGIE

Rektoratsrede

gehalten am 22. November 1947
von
Adolf Portmann
Verlag Helbing &Lichtenhahn —Basel 1948

Druck von Friedrich Reinhardt AG., Basel

Hochansehnliche Versammlung!

Solange es Wissenschaft gibt, sind nicht nur ihre greifbaren Ergebnisse, sondern auch ihre Theorien zu allen möglichen Absichten praktisch verwendet worden. Auch viel Anfechtbares haben dabei die Zeugnisse der Wissenschaft gestützt und geschützt! Aber noch nie hat mari Argumente des Forschens zur Rechtfertigung von so Entsetzlichem verwendet, wie während der letzten Jahrzehnte, wo in manchen Ländern unter der Herrschaft der Schlechtesten die Lebensforschung für politische Abenteuer ausgebeutet worden ist.

Während Jahrzehnten ist die Biologie ein Zeughaus gewesen für Waffen der Politik, mit denen nach der Entwertung des Menschenlebens und zugleich nach einer rauschhaften Ueberwertung des Lebens schlechthin getrachtet worden ist. Das Unmenschliche dieses Kampfes wirft düstere Schatten auf manche, die sich Biologen nannten.

Seit 80 Jahren etwa hat die Verwirrung sich ausgebreitet, deren vorläufiger Höhepunkt ein Zusammenbruch von noch unabsehbaren Folgen ist. Wachsame Zeitgenossen haben nach 1870 die bedenklichen Anfänge festgestellt, die damals in Deutschland den Mißbrauch der biologischen Arbeit einleiteten. Es begann mit der völligen Entstellung der Abstammungslehren. Bereits um 1870 ist die Wirkung der vulgarisierten Lehre vom Daseinskampf

warnend mit der des "Contrat social"verglichen worden. Und Wilhelm His, der damals in Leipzig gewirkt hat, schrieb 1874, die Abstammungslehre sei aus einem Felde der offenen Forschung ein geschlossenes dogmatisches System geworden. Ludwig Rütimeyer —selber ein bedeutender Mitbegründer der Wissenschaft von der Artumwandlung — hat die politische Anwendung biologischer Theorien in steigendem Unmut miterlebt. In seinem Nachruf auf Darwin zitiert er darum 1882 das mahnende Wort von Thomas Huxley, "es sei nicht unmöglich, daß in ferneren 20 Jahren die neue Generation die allgemeinen Lehren vom Ursprung der Arten mit so wenig Ueberlegung und vielleicht mit so wenig Recht annehme, als so viele Zeitgenossen sie vor 20 Jahren verworfen hätten". Und Rütimeyer fügt hinzu: "Wie die neue Aera von Fortschritt...., deren Begründung so vielfach als vollendete Leistung Darwins begrüßt wurde, sich bewähren werde, wird größtenteils davon abhängen, ob seine Nachfolger mit dessen Umblick und Selbstlosigkeit fortzuarbeiten vermögen."

Ein Arsenal der Schlagworte, das ist die Biologie einer ganzen Generation gewesen. Nicht nur Bismarcks Kulturkampf ließ sich von ihr ausgiebig ausrüsten, auch die um ihre Rechte ringenden Arbeitermassen erhielten die Parolen zum Kampf aus der neuen Lebensforschung. Welche Rolle hat noch um die Jahrhundertwende auch bei uns ein so dürftiges Werk wie das des Botanikers Dodel-Port gespielt, das unter dem Titel "Moses oder Darwin"Auflage um Auflage erlebt hat. Doch ebenso wie der aufstehende Sozialismus trachtete die Gegenseite nach biologischer Stützung. So setzt Friedrich Krupp um 1900 einen stattlichen Preis aus für die Beantwortung der Frage "Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in

Beziehung auf die innere Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?" Als oberster Preisrichter amtete Ernst Haeckel. Das war am Beginn eines neuen Jahrhunderts, das damals —auch unter dem Einfluß biologischer Arbeit —optimistisch als "das Jahrhundert des Kindes"angezeigt worden ist.

Alle diese Erscheinungen sind nicht auf Deutschland beschränkt gewesen. Warum sie gerade in diesem Lande so unabsehbare Folgen gehabt haben, warum anderswo der Widerstand gegen die Ausbeutung der Lebenslehre mächtiger gewesen ist, das müssen die Historiker und Soziologen abklären. Die Pflicht des Biologen aber ist es, die Beziehungen der Lebensforschung zu den Ansichten über Mensch und Staat aufmerksam zu prüfen. Darum mag es heute dem Zoologen erlaubt sein, über die Idee des Humanen in der gegenwärtigen Biologie zu Ihnen zu sprechen.

Die biologische Forschung hat abseits von allen politischen Mißbräuchen ihres Werkes fruchtbare Arbeit geleistet, aus der auch auf die Idee vom Menschen neues Licht fällt, und die unsere Vorstellungen vom Humanen tief beeinflussen muß. Als Folge dieser Arbeit ist zuerst eine Veränderung der Perspektive zu beachten, in der uns heute der Mensch inmitten der Naturdinge erscheint. Ist doch gar oft das Bild vom Menschen in einer Verkürzung erschienen, die es unmittelbar hinter dem der höheren Tierformen auftauchen ließ, so wie wir etwa Bergketten in trügerischer Nachbarschaft erscheinen sehen, die über einem nahen Kamme aufragen. Heute ist es, als hätten wir miteinander einen solchen Kamm erstiegen — und nun erblicken wir den weiten Abstand, der die Massive trennt. Die einen mögen enttäuscht sein, die anderen

erfüllt von der Größe und Weite des Ausblicks. Zu solcher neuen Perspektive hat vor allem die biochemische Erforschung des Protoplasmas geführt, deren Ergebnisse seit einiger Zeit unsere Ansichten vom Lebewesen stark beeinflussen. Entscheidend ist die in jüngster Zeit geförderte Einsicht, daß die plasmatische Struktur einen besonderen Bezirk der Wirklichkeit ausmacht, der seine eigenen Regelmäßigkeiten aufweist und der sich als ein Feld von noch nicht absehbaren Komplikationen darstellt.

Die Untersuchung der großen organischen Moleküle durch die Macromolekularchemie und die submikroskopische Plasmaforschung hat uns gezeigt, wie ferne wir noch von einer tieferen Einsicht in den Bau des Plasmas, der Zellkerns oder der Erbfaktoren sind. Es sind nicht nur neue Wege in dieses Gebiet gebahnt worden, sondern zugleich ist auch ein Ergebnis von sehr allgemeiner Bedeutung gezeitigt worden.

Die neuen Arbeitsweisen haben die Vorstellung davon ermittelt, wie unabsehbar lang der Weg ist, der von einer erst noch zu ergründenden Plasmastruktur im unsichtbaren Gebiete bis zu den sinnfälligen Gestalten der Lebewesen führt, wie sie in unserer Welt des Alltags erscheinen. Verflogen ist jener Optimismus, der noch zu Beginn dieses Jahrhunderts Bücher entstehen ließ mit dem zuversichtlichen Titel "Vom Nebelfleck zum Menschen" oder mit dem etwas bescheideneren "Vom Bazillus zum Affenmenschen". Wir wollen diese naiven Erzeugnisse nicht leicht nehmen, denn gerade sie haben den Weg zu den tragischen Geschehnissen unserer Tage mit vorbereiten helfen. Welche Wendung sich aber in der Biologie selber vollzogen hat, das zeigt die Aeußerung eines bedeutenden Erforschers der Makromoleküle, der 1946 sagt "wenn wir das Lebendige verstehen wollen, dann können wir dasselbe

nicht bei den kleinsten lebenden Objekten erfassen, da uns diese zu fernstehen." Wie weit sind wir von der noch so nahen Zeit, die vom Studium der Amöbe die Lösung des Lebensrätsels erwartet hat!

Angesichts dieser Lage gewinnt man ein neues und tieferes Verständnis für die Vielfalt der Standpunkte, für die Mannigfaltigkeit der Methoden, die zur Erforschung eines so reichen Objektes notwendig sind, wie es ein Lebewesen und erst recht unsere eigene Daseinsform ist. Auf der einen Seite muß mit größer Konsequenz der Weg beschritten werden, der den Geltungsbereich der physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten im Organismus festgestellt. Es braucht kein Wort, um die Bedeutung dieses Forschens in Theorie und Praxis zu betonen. Aber wir wissen heute auch, daß diese physikalischen und chemischen Kräfte in der Struktur des Protoplasmas in völlig neue Dienste treten. Gerade solche Einordnung elementarerer Möglichkeiten in einer höheren Ordnung der Struktur ist eines der großen Probleme der Naturforschung.

Darum fordert die eine Seite der biologischen Arbeit, die nach der Reichweite der chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten im Organischen sucht, ihre notwendige Ergänzung, eine komplementäre Seite des Forschens. Hier sucht der Forscher aus der umfassendsten Kenntnis der jeweils untersuchten Lebensform das Ganze zu bestimmen, in dem sich die Ergebnisse der biologischen Arbeit einordnen und so verstehen lassen. Von dieser komplementären Seite der Lebensforschung soll hier in erster Linie die Rede sein.

In diesem Forschungsfelde ist vor allem eine Veränderung wirksam geworden, welche das Bezugssystem betrifft, in dem irgend eine biologische Beobachtung oder

das Ergebnis eines biologischen Versuchs eingeordnet und verstanden werden müssen. Als dieses Bezugssystem galt den Biologen zunächst stets die reife, voll ausgebildete Tiergestalt mit ihrer Gliederung in Organe und Funktionen. Heute wissen wir, daß diese Begrenzung des Bezugssystems zu enge ist und durch eine viel umfassendere ersetzt werden muß. Es hat sich gezeigt, daß die ganze Art des Verhaltens in der Umwelt, das Gebaren, der Verkehr mit anderen Lebewesen nicht von der sinnenmäßig faßbaren Gestalt zu sondern ist und auch auf vorgebildeten artgemäßen Strukturen beruht. Daß ferner die Art der Einzelentwicklung, die Beziehungen zwischen Eltern und Nachkommen wiederum jede Sonderung von Form und Funktion, von Leib und Seele im alten Sinn dieser Worte ausschließt und daß ganz neue Darstellungsformen für die Seinsweise des Tiers gefordert sind. Schließlich gehört auch die weite erdgeschichtliche Evolution einer Gruppe, so dunkel auch viele ihrer Probleme noch sind, mit zur gesamten Lebensform einer Tierart. Das Bezugssystem, das da gesucht wird, ist die volle Seinsweise eines Lebewesens, soweit sie überhaupt von der Forschung erfaßt werden kann. Diese Forderung hat den Blick auch wieder neu hingelenkt auf die zentralste Eigenart der Organismen, in deren Erscheinung, in deren Tun sich das rätselvolle, mächtige Faktum der Innerlichkeit dartut. Um ihre Erfassung müht sich heute das biologische Schaffen von vielen Seiten her.

Von dieser Wendung der biologischen Arbeit ist auch die Erforschung des Humanen ergriffen worden. Sie ist dabei verwandten Strebungen der Philosophie begegnet. So hat sich auch der Blick des Biologen in neuer Weise dem umfassenden Ganzen zugewandt, in dem die erforschbaren Teilvorgänge des menschlichen Lebenstypus

ihre Deutung finden könnten. Es war unvermeidlich, daß damit die Biologie zum Kampfe gegen die Tendenzen der Sonderung geführt wurde, welche der Lebensforschung ihr Arbeitsfeld von vornherein, vor dem Beginn ihres Suchens bereits abgrenzen, auszuschneiden versuchen.

Welche Mächte des Herkommens, der geschichtlichen Vergangenheit auch immer solche Sonderung des Humanen in Wesensbezirke des Leibes, der Seele, des Geistes begünstigen welche traditionellen Arbeitsweisen und Gebietsgrenzen auch immer auf solchen Trennungen beruhen mögen — der Biologe muß alle diese Sonderungen zurückweisen, wenn er nach jenem umfassenden Bezugssystem sucht, in dem sich die Teilvorgänge unseres Lebens verstehen lassen. Der biologischen Untersuchung, wie sie heute gefordert ist, kann nicht irgend ein "Präparat" vom Menschen zugrunde liegen, das durch eine Vorentscheidung über das dem Biologen reservierte Teilstück gewonnen ist; ihr muß zugrunde liegen das Wissen um den vollendeten Menschen.

Wir verkennen nicht etwa den Nutzen eines Präparates.. Wir verdanken ja solcher Isolierung eine Fülle wertvoller Einsichten und üben sie dauernd selber! Uns geht es nur darum, stets zu wissen, daß die durch Isolierung eines Präparates erreichte Exaktheit einen Preis hat, und daß die eigentlich anthropologische Fragestellung das Ganze wieder in unser Blickfeld bringen muß. Es geht der Biologie ja nur darum, daß ihr nicht von vornherein bloß ein von anderer Seite zubereitetes Objekt übergeben wird, an dem sie nun das besondere Leben studieren soll, nachdem man dieses eigentümliche Leben bereits zerstört hat.

Die biologische Darstellung der menschlichen Lebensform geht also nicht von einzelnen anatomischen Sachverhalten

allein aus, etwa von der Besonderheit unseres zentralen Nervensystems oder von der aufrechten Haltung, sondern sie sieht die Eigenart des Humanen meiner Gruppe von Merkmalen der Innerlichkeit, die eine Einheit bilden: im Denken, im Ausdrucksmittel der Sprache und in der Geschichtlichkeit der Sozialstruktur. Daß diese Sonderart im Zentrum der biologischen Ergründung des Menschen stehen muß, wird heute bereits in Forschungsfeldern anerkannt, die noch vor kurzem diese Auffassung abgelehnt hätten. So bedeutet es eine wichtige Wendung, daß die genetische Forschung, welche die Evolution unserer Lebensform untersucht, heute diese Evolution in wesentlichen Zügen als die Konsequenz unserer abweichenden Verhaltensweise auffaßt und das Denken an erster Stelle unter den Faktoren aufführt, welche das Besondere der menschlichen Evolution zu erklären vermögen.

Eine entsprechende Wandlung hat sich aber auch in der Erforschung unserer Einzelentwicklung, unseres embryonalen wie auch des nachgeburtlichen Werdens vollzogen.

Es galt früher als selbstverständlich, daß die menschliche Lebensform durch allmähliche Veränderungen der Reifeform unserer tierischen Ahnen entstanden sei. Daraus folgerte man, daß die frühen Etappen unserer Entwicklung zunächst einmal in großen Zügen zum Aufbau dieser Ahnenform führen und daß sich erst zuletzt an diese Entwicklung eine Etappe der eigentlichen Menschwerdung anschließe. In diesem Sinne konnte noch vor nicht sehr langer Zeit etwa von psychologischer Seite gesagt werden, im ersten Lebensjahr überwinde der Mensch das Schimpansenstadium.

In der Stille hat sich aber ein Umschwung vollzogen. Es ist die Einsicht durchgedrungen, daß die Evolutionsprozesse

nicht nur die Umgestaltung der Reifeform bewirken, sondern daß sie auch die ganze Keimentwicklung ergreifen und daß die Menschwerdung ein Geschehen ist, das die gesamte Entwicklung unseres Wesens von allem Anfang an betrifft. Die Folgerungen, die aus dieser veränderten Auffassung unseres individuellen Entwicklungsganges für die Auffassung vom Ursprung des Menschen sich ergeben, setzen sich erst in jüngster Zeit langsam durch, und ihre Ergebnisse erfahren erst im vorhin umrissenen weitesten Bezugssystem des Humanen eine Deutung; in jeder engeren Auffassung vom Menschen aber bleiben sie zusammenhangslose Tatsachen, bloße Kuriositäten.

Wir betrachten einige Züge unseres Entwicklungsganges, um zu sehen, in welchem Lichte dieses Geschehen erscheint. Greifen wir etwa die einzigartige Dauer unseres Wachstums heraus, das bei manchen menschlichen Gruppen bis über das zwanzigste Jahr hinaus andauert und das in der Geschlechtsreife eine Steigerung erfährt, für die es unter den gestaltverwandten Tieren nirgends einen Vergleich gibt. Wir blicken einen Moment zunächst auf diese höheren Tiere: Ein Riesenwal wächst in zwei Jahren auf etwa 20 Meter Länge heran und wird in dieser Zeit geschlechtsreif. Der Elefant, mit 6-8 Jahren reif, schließt mit 14 Jahren, wenn nicht vorher schon, sein Wachstum ab und zeigt keine Spur einer Steigerung des Wachstums in der Zeit der Reife. Unsere Wuchsart ist ein Unikum — dabei wird sie von denselben Stoffen gesteuert, wie das Wachsen aller anderen Säuger —wie anders reagiert unser menschliches Plasma auf diese weit verbreiteten, generellen Wuchsfaktoren. Welch ein eigenartiger Baumeister führt hier die tierischen Hilfskräfte zu ganz besonderen Leistungen! Wieder begegnet uns das Problem, das auch

die Plasmaforschung beschäftigt, die Frage, wie das Vermögen elementarer Seinsstufen in höheren Ordnungsweisen in den Dienst genommen, in neuen Zusammenhängen verwendet wird.

Unser Wachstum ist verschieden taxiert worden. Zuweilen hat man einseitig die Langsamkeit, welche manche seiner Perioden kennzeichnet, zum generellen Merkmal gemacht und "Retardation" als einen wichtigen Faktor der Menschwerdung angesehen. Aber man hat auch auf tiefere Störungen und Disharmonien geschlossen, eine Auffassung, welche das Wachstum der höheren Sänger als die Harmonie postuliert, von der sich unsere eigene Wuchsart entfernt habe. Von solchen Ansichten war nur noch ein Schritt zu jenen Theorien, die den Menschen als im Grunde krank — am Geist erkrankt! — dem gesunden Leben des Tiers gegenüberstellen.

Nun ist aber unser Bezugssystem für die Untersuchung des Wachstums nicht irgend ein zur Norm ernannter tierischer Entwicklungsgang, sondern die ganze menschliche Daseinsweise. Außerdem hat die sorgfältigere Prüfung gezeigt, daß die Ansicht einer allgemeinen Verlangsamung aufzugeben ist. Dieses oft gebrauchte Bild ist zu ersetzen durch das eines reichgegliederten und wohlgeordneten Systems verschiedener Wuchsphasen. Eine erste dieser Perioden zeigt unser Wachsen über alles bei verwandten Tieren gefundene beschleunigt, im Zusammenhang damit, daß unser führendes, embryonales Organ, das Nervensystem bis zur Geburt etwa dreimal so massig wird, wie das eines Menschenaffen. Dieser erste Abschnitt ist nicht etwa mit der Geburt, sondern am Ende des ersten Lebensjahres abgeschlossen. Er steht in strenger Zuordnung zu der besonderen Art, wie wir Menschen die artgemäße aufrechte Haltung, sowie das Sprechen und Handeln im

Sozialkontakt in diesem ersten Jahre erwerben — eine Bildungsweise, des Ausreifens von Anlagen im Kontakt mit einer reichen Sozialwelt, wie sie nur bei uns vorkommt und deren Bedeutung noch lange nicht umfassend genug dargestellt ist.

Wie wenig bedenken wir meist den Kontrast dieses Geschehens zur Entwicklung höherer Tiere, bei denen im gleichartigen, reizarmen Medium des Mutterleibs das neue Wesen heranreift bis zur völligen Bereitschaft aller Instinkte des Verhaltens und aller Organe der Bewegung. 22 Monate lang wächst so das Kind im Leibe eines Elefanten heran; bei einem Füllen hat das Gehirn bei der Geburt schon etwa die Hälfte seines Endgewichtes erreicht, während es bei uns seine Masse noch verdreifachen muß. Selbst wo das Jungtier außerhalb des Mutterleibs heran. wächst, wie bei hoch organisierten Vögeln, da reifen Verhaltensweise und Flugfähigkeit ohne jede besondere Bewirkung durch die Eltern; auch im Laboratorium, fern vom elterlichen Nest, geht die Entwicklung bei normaler Ernährung genau ganz gleich vor sich.

So entsteht bei höheren Tieren eine Lebensform, bei der Generation um Generation in strenger Gebundenheit sich dieselben Abläufe vollziehen. Jahr für Jahr kreisen im Sommer die dunklen Segler, die Spyren, über unserer Stadt. Sie haben einst über dem wilden Waldtal des Rheins gerufen, bevor es hier eine Siedlung gab. Sie sind dann von den Jurafelsen in das Gemäuer der Menschen gezogen; aber Jahr üm Jahr erscheinen sie wie je in den letzten Tagen des April oder zum Anfang des Mai; Jahr für Jahr legen sie in der zweiten Maihälfte ihr erstes Ei und verlassen uns wieder, von einem starken Trieb erfaßt, in der zweiten Julihälfte. Welche Gleichförmigkeit der Lebensform, wenn wir vergleichen, was sich an dieser

Stelle in der Gesellschaft der Menschen, über der die Spyren kreisen, alles verändert hat.

Es könnte vielleicht für einen Augenblick der Verdacht aufsteigen, die höhere Bewertung unserer menschlichen Eigenart beruhe auf der Abwertung des tierischen Lebens. Es ist indessen für die heutige Erforschung des Tierlebens im Gegenteil kennzeichnend, daß unsere Beobachtungen zu einer besonders hohen Schätzung der höchsten tierischen Lebensstufen geführt haben und daß gerade in jüngster Zeit die tierische Innerlichkeit mit ganz neuem Ernst erforscht wird. Wesentliche Einsichten sind in letzter Zeit erreicht worden. Vergessen wir nicht, daß es kaum zwanzig Jahre her ist, daß zum ersten Mal das soziale Verhalten, die soziale Gliederung einer Tiergruppe wirklich objektiv untersucht worden ist, daß wir erst in diesen letzten Jahren die Bedeutung einzelner gefühlsbetonter Stellen im Lebensraum oder auch den Zeitsinn höherer Tiere zu erkennen und zu untersuchen anfangen. Die Hochwertung unserer eigenen Sonderart baut also nicht auf einer möglichst geringen Taxierung des Tiers auf; nein, sie erhält ihre Bedeutung gerade durch den Umstand, daß wir von der Innerlichkeit der höchsten tierischen Stufen sehr hoch denken. Dabei gibt uns das vertiefte tierpsychologische Studium der tierischen Aeußerungen gerade Gelegenheit, manche Gegensätze von Tier und Mensch viel deutlicher zu erfassen, als dies dem oberflächlichen Beobachter möglich gewesen ist. Wir greifen nur ein Beispiel heraus: die Ausnahmestellung der menschlichen Sprache inmitten der anderen tierischen Kommunikationsmittel ist so deutlich geworden, wie nie zuvor in der biologischen Forschung. Im Fall des höheren Tiers, des Sängers oder Vogels eine Reihe erblich festgelegter Laute, gebunden an feste Situationen und verstanden durch ererbte Strukturen

des Wiedererkennens — bei uns eine nicht festgelegte, offene, erbliche Anlage, die in langem Sozialkontakt eine durch Konvention und Geschichte entstandene Sprache mühevoll (und lustvoll zugleich!) übernimmt, ein von der Situation völlig freier, durch Tradition gegebener Wortsinn — wobei dieser Wortsinn aber nur durch das erworbene Wissen um die gesamte Sozialwelt einer Menschengruppe erfaßt werden kann.

Die Eigenart unseres Wesens zu zeigen, ist das ungeheure Phänomen der Sprache ganz besonders geeignet. Denn die Instrumente der Lautbildung, die Muskeln und Luftwege, die Stimmbänder, die Nervenbahnen sind dieselben wie beim höheren Tier. Völlig anders ist aber der Einbau dieser Instrumente in unsere Lebensform, ganz anders ist die Art, wie die niedere Struktur von der neuen Organisationsweise in Dienst genommen wird.

Wie sehr dieser Einbau der tierischen Ausdrucksinstrumente in eine neue Organisation im Zusammenhang mit den anderen wesentlichen Strukturen des neuen Bauplans geschieht, zeigt gerade das Beispiel der Sprache. Wir beobachten die frühen Vorübungen im ersten Lebensjahr zur Zeit, wo auch das Greifen der Hände sich übt, wo die Versuche zum Aufrichten beginnen. Und wir stellen die ersten Nachahmungen von Worten fest in auffälliger Entsprechung mit den Vorbereitungen zu der aufrechten Haltung. Wir finden alle diese Entwicklungsprozesse zu dem in zeitlicher Beziehung zu den deutlicheren Manifestationen des Denkens, d. h. mit dem Hervortreten der zentralsten menschlichen Eigenart aus der Verborgenheit der zum Denken bestimmten Anlage.

Solche Feststellungen weisen uns auf die Frage nach der Art der Anlagen und führen den Biologen zurück zum Problem des menschlichen Plasmas.

In der Erwartung weiterer Ergebnisse des Forschens, fur die wir ja keine Grenzen kennen — auch wenn es solche gibt — in der Erwartung neuer Resultate darf der Anthropologe doch eine Forderung anmelden.

Das entwicklungsphysiologische Experiment am tierischen Ei hat uns gelehrt, die optisch einfachen Systeme solcher Eizellen vorzustellen als mit einer großen Fülle von Potenzen ausgestattet. Man verlangt heute vom Entwicklungsforscher Beträchtliches an Vorstellungskraft zur Vergegenwärtigung des im Unsichtbaren wirksamen Zusammenspiels von Faktoren. Und ich habe den Eindruck, daß schon die kommende Generation sich im Vorstellen noch komplexerer Gehalte in der Zone des Nicht-Geschauten wird trainieren müssen. So ist es vielleicht auch nicht abwegig, wenn wir daran mahnen, daß jedenfalls der Keim eines Menschen in seinem Anlagenmuster die beim Molch- oder Fliegenkeim gefundene Komplikation noch um einiges übertreffen wird. Unerläßliche Vorstufe aber einer jeden noch so vorläufigen und zögernden Vorstellung solcher Anlagen ist das Wissen um das uns Zugängliche des menschlichen Wesens, das Wissen um den vollen Reichtum der Daseinsform, deren Keim da erforscht werden soll, und deren Keimzelle bereits die eines Menschen mit weitgehend festgelegten und doch so eigenartig offenen Anlagen ist.

Zu diesem reich gegliederten, im Unsichtbaren erst noch zu ergründenden Anlagemuster unseres Menschenkeims gehört auch die Abfolge der Wachstumsrhythmen, die in sinnvoller Gliederung während unserer langen Wuchszeit sich ablösen, und deren Melodie so ganz anders ist als der einfache Ablauf im Wachsen höherer Säuger. In unserem Entwicklungsgang ist ja die lange dauernde und reich gegliederte Wachstumsphase unlösbar verbunden

mit der Aufnahme des Traditionsgutes, das von Generation zu Generation wechselt und dessen Wechsel jeden von uns in eine einmalige, neue Situation versetzt vom Moment an, wo mit der Geburt der Einfluß dieser sozialen Ordnung wirksam wird. Damit wird Geschichtlichkeit zu einem natürlichen Glied unserer Lebensform, zu einem bedeutsamen Teil unserer Natur, zu einem natürlichen Faktor unserer Entwicklung. Wenn so die Biologie das Kulturleben als unsere eigentliche Natur auffaßt, so stellt sie damit die Kultur mitten hinein in das weiteste Naturgeschehen und lehnt jede vorgefaßte Konstruktion ab, welche diese Kultur als etwas Widernatürliches darstellt. Es gilt uns darum auch als ein schönes Zeugnis fur die Einsicht in die Eigenart menschlichen Lebens, wenn unser Streben nach Natürlichkeit im Sozialleben von den Besten nie als eine wirkliche Rückkehr zur Natur gedacht worden ist, sondern stets als eine neue Lebensweise, stets auch als ein Erfolg unseres Wollens, immer als eine "Lebenskunst" gesehen worden ist.

Wie sehr die Geschichtlichkeit des Daseins unsere Natur ist, d. h. von unserer Anlage bestimmt und ihrer Entfaltung zugeordnet ist, darauf macht in jüngster Zeit wiederum gerade jene biologische Forschung aufmerksam, die besonders stark von der Untersuchung der Pflanzen und Tiere her bestimmt ist: die Erbforschung.

Beim Versuch, mit den aus der Beobachtung von Pflanzen und Tieren bekannten Regeln die Evolution im menschlichen Bereich zu verstehen, stößt die Erbforschung auf die Tatsache, daß die heutigen Verhältnisse der Menschengruppen sich nicht ableiten lassen aus den Regeln, die wir bei Rassen oder Spielarten höherer Tiere beobachten. Dabei unterliegt es keinem Zweifel, daß im Uebrigen das Geschehen in unserm Erbgut weitgehend

mit dem bei höheren Tieren übereinstimmt. Die Genetiker sagen uns heute, daß die Sonderart der menschlichen Evolution von der Eigenart unserer Verhaltensweise, also von unserer menschlichen Innerlichkeit herrühre.

Wie das gemeint ist, kann auf dem Umweg über die Kenntnis der höheren Tiere deutlicher werden. Wenn solche Tierarten eine ähnlich weite Verbreitung haben wie wir selber, dann beobachten wir die Bildung vieler und stets neuer erblicher Varianten, die im Laufe ihrer Ausbreitung immer mehr vom ursprünglichen Typus divergieren. Diese Variantenbildung geht soweit, daß oft an den Rändern des Verbreitungsgebietes diese neuen Varianten, falls sie sich begegnen, einander wie fremde Arten behandeln und sich untereinander nicht mehr fruchtbar vermehren. Aehnliches bewirkt die Varietätenbildung nach der Trennung ursprünglich zusammenhängender Gewässer oder die Teilung eines Areals durch die Auffaltung von Gebirgen. Die letzte große Vergletscherung der Nordhälfte der Erde hat durch die Eisbildung viele Areale derart getrennt und manche abweichende Varietäten entstehen lassen, die sich zuweilen heute in gewissen Gebieten wieder begegnen. Solches beobachten wir etwa bei den Kohlmeisen im Amurgebiet Sibiriens. So sind auch Hering- und Silbermöven des Polargebietes nächste Verwandte, deren Divergenz aber so weit vorgeschritten ist, daß sie sich fast immer als völlig fremd begegnen, wo sie aufeinander stoßen. Divergenz der Evolution bis zu völliger Sterilität ist bei der tierischen Variantenbildung die große Regel.

Beim Menschen besteht statt dessen volle Fruchtbarkeit auch der extrem verschiedenen Gruppen — ferner sind Mischungen der Typen die Regel. Gruppensonderung kann bei uns nur durch strenge soziale Normungen

und Tabus aller Art erreicht werden; die Regel ist Rekombination der verschiedenen Erbfaktoren. Diese Eigenart des heutigen Evolutionsgeschehens beruht auf unserer Lebensart, auf dem Fehlen der instinktmäßigen Ordnungen, auf der relativen Freiheit der Wahl beim Liebesbund. Auch wird die Rekombination gefördert durch die willkürlichen Wanderungen der Einzelnen wie der Gruppen in der geschichtlichen Lebensform.

Diese Feststellung der Erbforschung bezieht sich auf das Geschehen in der geschichtlich erfaßbaren Zeit der menschheitlichen Entwicklung. Wie weit zurück in die Vergangenheit dieselben Faktoren als wirksam angenommen werden dürfen, das ist ja noch Gegenstand heftiger Kontroverse und unsere Frage führt daher auch zu der weiteren, welches denn die Herkunft der divergenten Menschentypen gewesen sei, die ja am Anfang des Vorgangs der Rekombination stehen müssen. Diese Probleme können indessen nur eben erwähnt werden, damit wir in diesem Augenblick wenigstens die ungewisse Ferne ahnen, in die uns solches Fragen nach dem Ursprung führt. Wir lassen die große, dunkle Zone des Werdens, in der das Licht forschender Untersuchung nur schmale Randgebiete dürftig beleuchtet.

Das Menschliche als eine Sonderform des lebendigen Seins! Diese Auffassung wird keine Tatsache des organismischen Bereiches vernachlässigen, aber sie wird sich nicht mehr der Täuschung hingeben, durch die Forschung an Pflanze und Tier etwas anderes zu gewinnen, als den Nachweis des allem Lebendigen Gemeinsamen. Dieser Nachweis ist in jedem Einzelfall etwas Großes; er steigert unsere Macht über die niedrigeren Stufen der Organisation und bringt uns durch Vereinfachung eine Entlastung in der geistigen Bewältigung der Weltdinge.

Wir haben indessen in diesen Zeiten des unerhörten wissenschaftlichen Aufschwungs zur Genüge gesehen, wohin die bloße Machterweiterung oder die Entlastung durch die Erkenntnis allgemeiner Gesetze führt: beides führt, wenn es allein bleibt, letztlich zum inneren Absinken des Menschen, wenn solche Taten des Geistes nicht aus einem reichen, überschauenden Wissen um uns selber geschehen. Dieses tragische Absinken ist auch im Leben einer Universität unvermeidlich, wenn sie nicht das Höchste im Denken um unsere Situation zu leisten gewillt ist. Der warnenden Zeichen sind uns in diesen Jahren genug gegeben worden.

Die Besinnung auf das Wesen des Menschen geschieht heute unvermeidlich im Schatten der Ereignisse, in denen gerade der Mißbrauch biologischen Gedankengutes sich so grauenvoll ausgewirkt hat. Darum ist auch die Gefahr groß, daß an eine Besinnung auf unsere Lebensform von vorneherein die Forderung gestellt werde, nach so viel Schrecklichem, das im Namen der Lebenslehre geschehen ist, müsse diese nun auch ihren Beitrag zur Förderung des Guten leisten. In der Tat tragen denn sehr viele biologische Werke, die in unseren Tagen geschrieben werden, deutlich das Merkmal ihrer Entstehung aus der Sorge des politischen Kampfes, indem auch sie wieder vor allem danach trachten, den Gegner mit neuen geistigen Waffen aus ihrem Arbeitsgebiete zu schlagen, mit Waffen, die allzu rasch den Stätten der Forschung entrissen worden sind.

Die Notwendigkeit, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu bezwingen, hat auch bei uns die geistigen Kampfarten nicht unberührt gelassen. Es wäre ein Leichtes, aus den politischen Meinungskämpfen unseres eigenen Landes die Beispiele zusammenzubringen, die zeigen würden, wie vieles aus der Not der Zeit, wie viel auch aus Mangel an

Kritik aus dem Lager des Gegners an biologisch beeinflußten Parolen unbesehen übernommen worden ist.

Es muß aber vom Forscher, der sich auf die Beziehung der biologischen Arbeit zur Idee des Humanen besinnt, gefordert werden, daß er sich bei dieser Arbeit nicht von politischen oder anderen Zielen der Lebensgestaltung leiten läßt. Wir dürfen nicht in den Irrtum Peter Kropotkins verfallen, der kurz nach 1900 der politischen Auswertung des Darwinschen Prinzips vom Daseinskampf ein Werk entgegenstellte, das die Rolle der gegenseitigen Hilfe im Tier- und Menschenreich rühmend hervorhob. Niemand wird den Adel der Absicht, die menschliche Würde dieses Unterfangens verkennen oder gering achten — trotzdem war das Verfahren ein Irrtum, weil es ein Problem der moralischen Entscheidung mit Argumenten zu lösen versucht, die einer Sphäre entstammen, in der es dieses Problem nicht gibt.

Die Lebensforschung wird mit ihren Mitteln bestrebt sein, das Bild unserer Daseinsform zu bereichern. Sie wird aber dabei wissen, daß sie selber das Gesamte, in dem allein die Einzelfunde verstanden werden können, nicht aus ihrer eigenen Arbeitsweise voll zu erfassen vermag. So muß sie trachten, in Gemeinschaft mit' Anderen das Ganze unserer Daseinsform, soweit es Menschen zugänglich ist, mit den weitesten Mitteln des ganzen Denkens zu entwerfen.

Dieser rings ausschauenden Beobachtung zeigt sich aber das Menschliche in zwei Aspekten, von denen man den einen gerne etwa mit dem positiven Vorzeichen ausschließlich als das Humane taxiert, während man den andern negativ wertet, ihn als das Unmenschliche benennt, obwohl er nicht weniger menschlich ist. Für eine Betrachtung, die wahrhaft orientieren soll, müssen wir uns frei

halten von dem durch starke Tradition gefestigten Gebrauch, der das Wort human meist in der Gegenstellung gegen das Barbarische, gegen das Ungebildete oder das Brutale gesehen hat. So sehr sich der Gedanke zunächst auch dagegen auflehnen mag, so muß uns der Begriff des Humanen das Unmenschliche mit umschließen. Wir müssen die Anstrengung leisten, beide Möglichkeiten im weiten Bereich des menschlichen Lebens zunächst einmal ohne Wertung in ihrer gewaltigen Macht zu sehen. Die Potenz des Inhumanen läßt sich nicht etwa durch Herleitungsversuche einfach mit dem Tierischen als dem "Brutalen" zusammenbringen und so mit dem Anschein von Objektivität abwerten. Es erscheint als ein in allen Beziehungen vollwertiges Glied von uns selbst; es ist mitten in uns drin und ein Faktum von furchtbarem Ernst.

Es ist umso notwendiger, beides zusammen zu sehen in einem Felde der menschlichen Spannungen, das Humane wie das Inhumane — weil ja die Wertung wirklich nicht von der biologischen Besinnung vollzogen wird.

Die Entwicklungsweise des Menschen mit der eigenartigen Offenheit unserer nicht instinktgebundenen Anlagen, mit der frühen Möglichkeit der Wahl und Entscheidung im Sozialkontakt — diese originale, nur uns gegebene Entwicklungsform ist der späteren Offenheit eines stets ungesicherten, stets unentschiedenen Daseins zugeordnet. So liegt das Faktum der Entscheidungsfreiheit durch die Art der Anlage noch im Horizont der biologischen Ansicht vom Menschen. Der Hang nach Bindungen mag oft aus der Furcht vor solcher Freiheit stammen — doch auch dies Suchen nach Bindungen geschieht aus der ursprünglichen Möglichkeit zur Freiheit. Das Feld des Humanen ist nach allen Seiten weit offen, und es ist

die erste Aufgabe der Erforschung unserer Daseinsart, diese Weite der Entscheidungsfreiheit zu sehen.

Mit einer solchen Haltung ist selbst auch schon eine Entscheidung getroffen, eine Art des Daseins gewählt worden. Die Führung des Lebens ist in die Hand genommen worden — wir sind in das Reich der Wertung eingetreten. Das biologische Forschen vermag manche Grundlagen unserer weltoffenen Lebensform aufzuzeigen; die Entscheidungen selber, auch die zum Forschen aufrufenden, entstammen aber einer Sphäre jenseits dessen, was mit biologischen Arbeitsweisen faßbar ist.

Der biologische Versuch zum Erkennen dieser Lebensform trachtet jener Forderung nachzuleben, die schon in frühen Zeiten des Denkens um den Menschen gestellt worden ist — sie sucht vom Gegenstand ihrer Forschung groß zu denken. Sie sucht, fern von jeder Ueberheblichkeit, den Menschen in seinen Grenzen, doch auch in der Weite seiner Möglichkeiten zu sehen, sie will ihn als Menschen verstehen im Glücken sowohl wie im Verfehlen seines Daseins.

Ob wir aber ein Leben als geglückt oder verfehlt taxieren, das ruht in Entscheidungen, für die wir keinerlei Begründungen aus der Beobachtung der außermenschlichen Natur zur Klärung des Urteils herbeiziehen können.

Ob ein Evolutionsprozeß, eine Mutation im tierischen oder im pflanzlichen Leben richtig ist oder falsch, darüber entscheidet — falls solche Worte überhaupt noch einen Sinn haben sollen, die Erhaltung, die Bewährung in der steten Gefährdung des nackten Lebens: es entscheidet der Erfolg. Ob indessen ein menschliches Dasein geglückt sei oder verfehlt, darüber wird nie und nimmer die bloße Erhaltung, die machtmäßige Behauptung, niemals einfach

der Erfolg entscheiden. Es entscheidet ein Reich der Werte darüber, wie unser Tun letztlich beurteilt werden soll.

Aber in diesem Reich der Werte ist eine Revolution von unabsehbaren Folgen im Gange. Ein Teil dieser Revolution ist ja gerade der Versuch, die Maßstäbe für das menschliche Tun im außermenschlichen Leben, in biologischen Gesetzen zu suchen. Der Kampf um neue Formen des Zusammenlebens in der Gemeinschaft der Menschen ist in vollem Gange. Wir alle treiben passiv oder tätig, bewahrend oder umstürzend, einer neuen Zuordnung des Einzelnen zur Gemeinschaft entgegen. Die biologische Arbeit wirkt bei diesem Suchen nach neuen Formen mit, indem sie eine möglichst reine und umfassende Ansicht vom Humanen durch ihr wissenschaftliches Streben herausstellen hilft.

Doch leistet die Lebensforschung nur einen Teil des Wissens, dessen der Mensch im Ganzen von sich selber fähig ist. Die Biologie kann daher ihrer Anlage nach auch nicht die Maßstäbe liefern, nach denen die Führung unseres Daseins sich richten könnte. Gerade wer selber seine Arbeit biologischem Forschen widmet, muß mit aller Deutlichkeit dazu stehen, daß wir Menschen den Mut finden müssen, unsere Entscheidungen im Reich der Werte zu suchen und die Parolen für die Führung des Daseins nicht aus dem Felde des Vitalen zu holen.

Denn in wilder Größe, unser Grauen wie unser Wundern erregend, immer aber in furchtbarer Verschlossenheit, ist die Lebenssphäre vor unserem Blick und rings um unsere stets bedrohte Kulturwelt. Indem wir dieses Leben zu erforschen trachten, sind wir Suchende, die sich um die Entzifferung vieler unbekannter Schriften aufs Mal zu mühen haben. Und das so schwer zu Fassende,

in das wir da forschend eindringen — es ist zugleich in uns selber mitten drin, es ist Glied von uns. Die Art dieser Einordnung, das Eigenartige dieses menschlichen Gliedbaus ist ja unser Forschungsobjekt.

Die Wirkweisen, die wir in Pflanzen und Tieren beobachten — sie stehen beim Menschen in neuen Diensten. Und wir schauen uns heute in großer Sorge und Not suchend um nach den Mächten, welche die Kraft hätten, die gewaltigen Möglichkeiten unseres Menschenwesens in rechten Dienst zu nehmen. Wir blicken um uns und viele blicken dabei fragend nach der Universität, deren umfassender Name die Hoffnung weckt, daß hier die Ziele gezeigt, die Werte gelehrt werden, nach denen verzweifelnde Menschen suchen. Die Universität kann heute diese Hoffnung nicht erfüllen, Dafür ist sie zu sehr selber Ausdruck des innersten Schicksals unserer Zeit. Aber trotz der unvermeidlichen Vielfalt und der Teilung der Aufgaben will sie doch eines: sie will wirken aus der Verpflichtung, mehr zu sein als nur ein getreues Bild der Zeit — sie will in den besten Stunden des Gelingens emporwachsen zum Vorbild, das Menschen zu erwecken vermag für das schwere und dunkle Glück eines Lebens in der Freiheit der Entscheidung.