ÜBER DIE FREIHEIT

Rektoratsrede

gehalten am 24. November 1950
von
Andreas Speiser
Verlag Helbing &Lichtenhahn —Basel 1950

Druck von Friedrich Reinhardt AG. Basel

Hochansehnliche Versammlung!

Trotzdem in früheren Zeiten die Mathematik und die Philosophie ein unzertrennliches Ganzes bildeten, so haben sie sich doch in den letzten zwei Jahrhunderten vollständig getrennt, zum Schaden für beide Teile. Der letzte Vertreter der gemeinsamen Arbeit ist wohl Leonhard Euler, dessen Werke den Grund gelegt haben für den Aufschwung, den die Philosophie durch Kant und seine jüngeren Zeitgenossen erfuhr. Zunächst freilich bemerkte man die Gefahr nicht, aber heute hat man wohl allgemein eingesehen, daß das Versäumnis ein schwerwiegendes war. Die Richtung, welche die Philosophie seit Kant eingeschlagen hat, war den Mathematikern wenig geheuer, vielmehr ist die von Plato begründete Dialektik naturgemäß das, was sie gebrauchen können, denn sie ist ja unmittelbar durch das Studium der Grundlagen entstanden und bildet darum das wahre Fundament unserer Wissenschaft. Betrachtet man Platos Schriften von diesem Gesichtspunkte aus, so schreitet man von Entdeckung zu Entdeckung vorwärts und es erscheint uns fast unbegreiflich, wie weit er vorgedrungen ist. Darum ist es wohl an der Zeit, die grundlegenden Probleme der beiden Wissenschaften wieder einmal vom mathematischen Standpunkt aus in Angriff zu nehmen, und so möchte ich mir erlauben, einige Betrachtungen über den dunkeln Begriff der Freiheit anzustellen, die auf das engste mit aller Wissenschaft verbunden ist.

Euler hat in der Freiheit schlechterdings das Wesen der Geister im Gegensatz zur toten Materie gesehen und Hegel sagte: "Damit daß die Freiheit als das Wesen und die Substanz der sogenannten Seele erfaßt worden ist, ist der absolute Grund für das philosophische Erkennen gelegt worden."

Es gibt eine Lehre, welche alle Freiheit leugnet und das ganze Geschehen der Innen- und Außenwelt durch materielle Gesetze bestimmt wissen will. Wir wollen uns darum zunächst den mathematischen Naturgesetzen zuwenden und nachsehen, was sie in Wahrheit aussagen. Nehmen wir das Beispiel, das sich am besten bewährt hat, die Newtonsche Mechanik. Sie besagt folgendes: Wenn der Zustand der materiellen Welt in einem gewissen Moment, der sogenannten Anfangszeit, bestimmt ist, so ist er durch das Gesetz für alle Zeiten, sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit, festgelegt. Hieraus schloß man nun so weiter: Da der Zustand der Welt doch offenbar jederzeit feststeht, so ist das ganze Geschehen unwiederbringlich determiniert und jegliche Freiheit ist ausgeschlossen, auch der Mensch unterliegt dem absoluten Zwang. Aber dieser Schluß ist erschlichen, denn der Anfangszustand ist durch das mechanische Gesetz nicht bestimmt, er wird im Gegenteil offengelassen und bleibt daher gegenüber der Mechanik gesetzlos, willkürlich oder, wie man zu sagen pflegt, kontingent. Daran kann das Gesetz nichts ändern, jeder Augenblick kann ja als Anfangszeit genommen werden und es ist hier kein Unterschied gegenüber dem Gesetz, der Zustand bleibt für alle Zeiten kontingent. So können wir die vollständige Aussage der Mathematik in folgende Formel bringen:

Ein völlig gesetzloser Zustand wird völlig gesetzmäßig durch die Zeit hindurchgetragen.

Das mag sehr paradox klingen, aber wer die Lehre von den Differentialgleichungen kennt, der weiß, daß ihre Lösungen erst durch die Anfangsbedingungen bestimmt sind und daß diese vom Gesetz nicht festgelegt werden, sondern frei hinzugebracht werden müssen. So ergibt die Mechanik eine innige Durchdringung von Gesetz und Gesetzlosigkeit. Sie sind nicht etwa nebeneinandergestellt, so daß man sagen könnte: Dieses Stück der Natur ist reines Gesetz und das nächste ist reiner Zufall, sondern jede Parzelle der Welt, sie sei noch so klein, ist stets durchdrungen von Gesetz und Kontingenz. Dies ist der Charakter aller Naturgesetze, ein Urphänomen im Sinne Goethes, weil in ihm eine unbegrenzte Menge von einzelnen Tatsachen und Erscheinungen zusammengefaßt sind. Da es in der neueren Philosophie nicht beachtet wurde, so mußte ihre Naturlehre unfruchtbar bleiben.

Der in Bezug auf die Gravitation kontingente Anfangszustand ist selbstverständlich keineswegs zufällig im absoluten Sinne. Die Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen mit ihren Werken, den Häusern, Straßen, sind durchdrungen von Gesetzen anderer Art, aber auch sie sind unzertrennlich mit dem Zufälligen und Kontingenten verbunden, und selbst wenn man ein Gesetz fände, welches alles bisher Gefundene in Eins zusammenfaßte, so wäre auch dieses wieder von derselben Struktur, es würde einen völlig zufälligen Zustand völlig gesetzmäßig durch die Zeit hindurchtragen. Ein absolutes selbstgenugsames Gesetz ohne sein zufälliges Substrat, auf das es sich bezieht, ist ein sinnloser Begriff, wie sich leicht zeigen läßt. Entsprechend gibt es auch keinen bloßen Zufall ohne Gesetz, das Kontingente ist ein Grenzbegriff, der keine Realität hat, ein formloser Stoff ohne Gehalt, das reine Nichts. Die Wahrscheinlichkeit besteht aus Gesetzen des

Zufalles und bildet Regeln für die Natur genau wie die Mechanik, obschon ihre Vorschriften sich gegenseitig widersprechen.

In der neueren unmathematischen Philosophie spielt das Kontingente eine Hauptrolle, man sieht in ihm das Tiefe, das Göttliche, während man geneigt ist, die Gesetze als etwas Totes zu verachten. Man pflegt zu sagen: Gewiß schenken uns die Naturforscher allerhand Nützliches, aber der bloße Verstand wird nie das Wesentliche ergreifen. Dieses entflieht, denn es ist das Irrationale, das Incommensurable. Den Geist kann man nicht errechnen, sondern er kann nur durch unmittelbare Intuition sich dem Genie und dem dämonischen Menschen offenbaren. Fragt man dagegen, was denn die Gesetze bedeuten und wozu die Künstler und Gelehrten sie überhaupt noch studieren, statt sich den passiven Intuitionen hinzugeben und zu warten, bis sie erscheinen, so erhält man keine Antwort. In Wahrheit gibt es im bloßen Kontingenten keine Quelle, die großen Entdeckungen können nur im Reich der Gesetze oder Ideen gemacht werden. Glaubt man denn wirklich, daß Kepler, als er voll Begeisterung in den Gesetzen der Planetenbewegung die Gedanken Gottes erblickte, einem Popanz zum Opfer gefallen ist? Jedem echten wissenschaftlichen oder künstlerischen Werk soll eine derartige Entdeckung zugrunde liegen und das eigentliche Erlebnis bilden, während das, was man gewöhnlich unter dem Wort Erlebnis versteht, zufällig und machtlos ist, Rost und Staub, den man wegwischen muß. Auch die sogenannten Improvisationen stammen keinesweges aus dem Kontingenten, sie sind gar keine Kreationen, sondern sie gehören zu den gebundensten Handlungen in der Kunst. Wenn Beethoven eine Phantasie komponierte, so besteht das, was dem

Stück diesen Charakter der unmittelbaren Intuition verleiht, aus einer Folge von wild hingeworfenen Tonleitern und Arpeggien, das heißt aus den Fingerübungen, die jeder Schüler täglich übt. Die scheinbar schöpferische Kontingenz ist daher nur ein unbewußt angewendetes Gesetz ohne Freiheit, ein Erzeugnis der Technik, nicht einer der seltenen Augenblicke der Erleuchtung.

Die Freiheit kommt erst durch das Bewußtsein zustande, indem der Mensch die Verbindung von Gesetz und Gesetzlosigkeit versteht und denkt. Sie stammt nicht aus der Kontingenz, sondern aus höheren Regionen, aus dem Verstand und der Reflexion. Man befreit sich aus den Fesseln der Natur, indem man ihre Gesetze studiert, und man schafft neue Freiheit, indem man neue Gesetze entwirft. Das Erkennen und Denken der Gesetze bis zur völligen Durchsichtigkeit und die darauf erfolgende Entscheidung ist die Heimat der Freiheit.

Die Regeln, welche das Denken selber aufstellt, um frei zu werden, sind meist mathematischer Natur und ich möchte mir erlauben, Ihnen eines der wichtigsten Beispiele vorzulegen, nämlich das Geld. Um seine Funktion zu verstehen, muß man von den Menschen ausgehen. Wären sie alle gleich und würden ihre Begehren und Wünsche übereinstimmen, so brauchte es kein Geld. Bei völlig passiven, indolenten Völkern, wie sie in gewissen Teilen Asiens und Afrikas leben, bei Fellachen, die gleichermaßen fatalistisch eine Hungersnot und eine reiche Ernte hinnehmen, wird es keine Rolle spielen. Aber die Geisteskräfte des europäischen Menschen sind nicht nivellierend und horizontal, sondern vertikal gerichtet. Schule, Sport, Militär, Handel, Wissenschaft, alles will im Menschen die Aktion wecken und damit Ungleichheit herstellen. In dem, was einem jeden am Herzen

liegt, will er vorwärts kommen, einen Aufstieg verspüren. Niemand denkt darin nivellierend, wenn er auch in Dingen, die er als Nebensache erachtet, gerne andern den Vortritt läßt. Nun besteht aber ein mathematischer Unterschied zwischen passiven und aktiven Kräften. Die ersteren streben nach einem natürlichen statischen Gleichgewicht, das sich von selbst herstellt. Beim Wasser tritt Ruhe ein, sobald die Oberfläche eben geworden ist, spätestens also, wenn es ins Meer gelangt. Die aktiven Kräfte aber wirken jeder festen Form entgegen, und wenn nicht alles in einen chaotischen Kampf aller gegen alle, und in Selbstvernichtung enden soll, so muß eine höhere Ordnung diese Kräfte binden. Alle Ordnung stammt aber von dem größten Geschenk, das dem Verstand gegeben ist, von der Zahl. Das Geld ist eine ihrer höchsten und wichtigsten Manifestationen. Seine Funktion ist nicht, wie man oft meint, die ungehemmte Auslösung von Macht, sondern im Gegenteil die absolute Begrenzung derselben. Wenn jemand unvermutet zu einer großen Summe Geldes gelangt, so mag er wohl, wenn er nämlich ein Tor ist, eine zeitlang an die Unbegrenztheit seiner Macht glauben, bald wird ihm aber eine harte Wirklichkeit die Grenze zeigen, welche das Wesen und die Natur des Geldes bildet, eben weil es Zahl ist. Durch das Gesetz des Geldes hat der Mensch seiner natürlichen Habgier Fesseln auferlegt und dadurch ist er frei geworden, er kann im Rahmen seiner gezählten Kräfte seine Ansprüche zur Geltung bringen. Das Geld beschränkt und schützt gleichzeitig, wie die Mauern des Hauses, und seine Einführung ist darum etwas heilsames. Das hat man schon früh erkannt. Als Dante im Fegefeuer den römischen Dichter Statius antraf, erzählte ihm dieser, er wäre wegen seiner Verschwendungssucht unrettbar der Hölle verfallen gewesen.

Da habe der heilige Hunger nach Gold seine Begierde gezähmt. Dante gibt hier einer rhetorischen Floskel Virgils eine unerwartete tiefe Bedeutung: Der Hunger nach Gold überwindet die sündliche Gier und rettet eine Seele vor der Hölle, darum ist er heilig.

Ganz im selben Sinne wurden die Gesetze der richtigen Verwendung des Geldes von John Wesley scharf formuliert. Er sagt:

1. Erwirb soviel du kannst.
2. Erspare soviel du kannst.
3. Gib soviel du kannst.

Man kann das Feld für die Freiheit, das uns durch das Geld geöffnet wird, mit allen seinen Möglichkeiten nicht treffender beschreiben, als es hier geschehen ist. Die beiden ersten Forderungen stellen die Notwendigkeit der ungleichen Geldverteilung fest, denn nur dann kann man erwerben und sparen. Sie ist untrennbar von der aktiven Haltung des Menschen und niemand will sie bei uns ernstlich aufheben. Die dritte Forderung, "gib soviel du kannst", stellt den Gegensatz zu den vorigen auf, und zwischen diesen Polen muß das Gleichgewicht gefunden werden. Hier müßte die Wissenschaft einsetzen, um die beste Leistung des Geldes zu bestimmen. Leider hat sie das bisher nur selten und in unzulänglicher Weise unternommen. Man darf das Geld nicht einfach als ein gleichförmiges Medium ansehen, denn seine Energie hängt von der Stelle ab, wo es sich befindet. Gerade wie das Wasser, wenn es hoch in den Alpen einen Stausee füllt, eine gewaltige Energiequelle bildet, dagegen im Meer sich nur noch als entnervte Masse von jedem Windhauch leiten läßt, so kann das Geld je nach dem Besitzer eine große produktive Kraft erzeugen oder steril bleiben. Eine Theorie, welche diese Verschiedenartigkeit nicht berücksichtigt,

kann nur unsichere, ja gefährliche Resultate liefern. Tausend Franken leisten beim Weisen mehr, als Millionen beim Narren. Wesley mit seinen drei Postulaten fordert, daß man Besitzer hochwertigen Geldes sein soll, das mit Energie geladen ist. Damit ist auch das Kriterium für die richtige Spannung in der Geldverteilung gegeben: Wenn das Geld auf seinem Weg fruchtbare Arbeit leistet, indem es die Kultur blühen läßt und vielen Menschen die Möglichkeit zur wertvollen Arbeit gibt, dann ist das Verhältnis richtig. Die große mathematische Schwierigkeit gegenüber der Mechanik besteht nicht in der Feststellung der hochwertigen Besitzer, denn diese kann nur von der Praxis geleistet werden und würde keine allzugroßen Meinungsverschiedenheiten hervorrufen, sondern in der Tatsache, daß das Geld seinen Wert ändert, und vor allem in der Auffindung der günstigsten Spannungsdifferenz zwischen Arm und Reich. Ihre Bestimmung hängt zudem von der Größe des Landes und vom Bildungszustand der Personen ab. Soviel ist historisch erwiesen, daß, wenn einmal für kurze Zeit das günstige Verhältnis getroffen ist, eine große Ernte erwächst, während in ungünstigen Fällen alles stockt. Der durchschnittliche heutige Zustand ist weit entfernt vom Optimum.

Wir haben gesehen, wie sich die Menschen durch die stahlharte Fessel des gezählten Geldes die gegenseitige Bewegungsfreiheit geschaffen haben. Aber nur die kurzfristigen Leistungen werden unmittelbar vom Geld erfaßt. Für Unternehmen auf weite Sicht genügt es nicht, sie müssen durch besondere Gesetze über geistiges Eigentum geschützt werden, besonders im Gebiet der Kunst. Gar nicht erfaßt werden die Wissenschaften, ihre Resultate sind Freigut. Man denke etwa an die Geschichte,

die Philologie, an die mathematischen Formeln, an die Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften. Um diese Arbeiten zu ermöglichen, wurden die Universitäten zunächst als Stiftungen gegründet. Die Zahl der Gelehrten war früher gering, aber etwa seit der französischen Revolution vergrößerte sie sich enorm. Um 1800 gab es in der Schweiz etwa 100 Studenten, heute sind es deren gegen 20000. So ist es verständlich, daß die Stiftungen nicht mehr genügten und der Staat eingreifen mußte. Nicht nur Basel, sondern sechs weitere Kantone stellten Mittel zur Verfügung. Das war ein sehr glücklicher Umstand, sonst wäre die Eidgenössische Universität erstanden und damit alle Freiheit verloren gegangen, denn nur die Vielheit garantiert die freie Forschung, die Zentralisierung bringt gelenkte Forschung, welche den großen Entdeckungen nachhinkt und sich mit den Abfällen begnügen muß. Denken und Freiheit sind dasselbe und da die Wissenschaft das wahre Denken ist, so ist auch Wissenschaft und Freiheit identisch. Es hat Länder und Zeiten gegeben, in denen ein Gelehrter stetsfort auf der Hut sein mußte, ja nichts Interessantes zu finden, weil er alsdann in Lebensgefahr gekommen wäre. Der Schaden macht sich erst nach längerer Zeit bemerkbar, ist aber später kaum mehr auszubessern. Glücklicherweise war Basel in dieser Hinsicht stets mild, so wurde z. B. die Bibelkritik im letzten Jahrhundert von Gelehrten gepflegt, die anderswo kaum geduldet worden wären.

Die Arbeit an der wissenschaftlichen Forschung gehört zu den obersten Pflichten eines kultivierten Staates und gerade unser Land, das mitten im gebildetsten Kontinent liegt, ist dringend angewiesen, Anteil zu nehmen. Denn wir sind in denkbar günstiger Lage. In den unabhängigen Städten, den letzten Resten der früher blühenden Stadtkulturen,

haben wir Zentren für freie Menschen, die, wie die Geschichte zeigt, stets die eigentlichen Träger der Kultur gewesen sind, wo sich die Quellen der geistigen Ströme befanden. Weil sich in Athen, Florenz, in den rheinischen Städten Menschen befanden, die "Muße hatten" — um einen Ausdruck von Aristoteles zu verwenden —ist die Wissenschaft entstanden und groß geworden. Man muß aus eigener Neugierde forschen, wenn man etwas rechtes finden soll. Goethe ist in neuerer Zeit ein besonders typisches Beispiel für den gelehrten Bürger einer freien Stadt, aber auch Basel hatte deren eine nicht geringe Zahl aufzuweisen.

Man kann sich nun fragen, ob die massenhafte Beschäftigung mit der Wissenschaft nicht schädlich ist, indem sie das Niveau senkt und vielen Leerlauf hervorbringt. Da möchte ich zunächst eine Bemerkung von Henri Poincaré, zitieren, der sagte: Ich habe nichts gegen die Technik einzuwenden, denn indem sie viele Menschen von der mechanischen Arbeit befreit, ermöglicht sie vielen, die Schönheiten der Mathematik zu genießen. Unzweifelhaft sind die Zeiten, wo die Kultur verbreitet ist, auch für die hohe Wissenschaft oder Kunst günstig. So gab es in der Zeit Homers viele Dichter, ebenso zur Zeit Dantes. Nur weil er alle seine Mitbürger so gewaltig überragte, scheint er uns einsam. Für die Musik mögen die Beispiele von Wien und Leipzig genügen. Dasselbe dürfte wohl auch für die Wissenschaft gelten und es ist eine auffallende Tatsache, daß sich heute alle Länder die größte Mühe für die Pflege der Gelehrsamkeit geben. Die Aufwendungen des Staates haben auch in kleinen Ländern wie Belgien, Holland, Skandinavien riesige Zahlen erreicht. Wird die Schweiz hier nachkommen können und vermag sie es, ihren Anteil am Geistesleben auf der

bisherigen Höhe zu halten? Auf kantonalem Wege ist vieles möglich, aber wir dürfen nicht vergessen, daß große Aufgaben schon jetzt zwischen Gelehrten mehrerer Universitäten geteilt werden. So leistet die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten Arbeiten, die für die verschiedensten Gebiete des öffentlichen Lebens von großer Wichtigkeit sind und gerade den Kantonen ohne Universitäten zugute kommen. Ich erwähne nur die geologischen Landesaufnahmen, die fast gratis besorgt werden. Auch die Dialektforschungen, die Herausgabe der Werke unserer früheren Gelehrten kann man kaum den Kantonen zumuten und so ist es denn begreiflich, daß der Bund an diesen Arbeiten, die für ihn so wichtig sind, mithelfen will, denn alle sind gleichermaßen daran interessiert. Hoffen wir, daß die Eidgenössichen Räte das Einsehen haben und die kleine Summe, etwa ein Hundertstel der Ausgaben für die Armee, gewähren werden. Die Früchte werden nicht ausbleiben. Die Kosten des wissenschaftlichen Arbeitens sind ja im Vergleich zu den Leistungen überraschend gering. Nimmt man alle schweizerischen Universitäten zusammen, so kommt man auf die Größenordnung von etwa 20 Millionen Franken, während ein einziges Großunternehmen des Handels oder der Industrie etwa 50 Millionen für Löhne ausweist. Die ganze schweizerische Wissenschaft entspricht also einem einzigen mittleren Unternehmen, aber sie leistet doch viel mehr. Man bedenke, daß die Gesetzgebung, die Kontrolle der Rechtssprechung, die Gesundheit von Menschen und Vieh, die Geschichtsschreibung unseres Landes und des Auslandes von unserem Standpunkt aus, die Mathematik und die Naturwissenschaften alle von den Universitäten getragen werden und daß sie uns geistig vom Ausland unabhängig und

frei machen, so wird man zugeben, daß keine Ausgaben sich auch nur entfernt so reichlich lohnen, wie diese. Und hier ist bloß der Nutzen erwähnt, es kommt aber die Hauptsache noch dazu, daß es die eigentliche Aufgabe der Menschheit ist, Freiheit und Denken zu befördern und daß gerade das scheinbar Unnützeste an vorderster Stelle steht, wenn es von selbstständigen Menschen als wertvoll erkannt ist.

Wir haben uns lange bei derjenigen Freiheit aufgehalten, die durch das Geld geschaffen wird, wenn es richtig gelenkt wird, und es ist wohl an der Zeit, höher zu steigen, denn daß der Reichtum dieses Begriffes noch lange nicht ausgeschöpft ist, wird man leicht erkennen. Wir müssen das Feld des Denkens, die durchdringende Mischung von Gesetz und gesetzlosem Substrat besser kennen lernen und wollen uns der Kunst zuwenden, die jedermann kennt. Die Musik dient am besten unsern Zwecken, denn in den bildenden Künsten und in der Poesie kommen durch den dargestellten Gegenstand fremde Elemente hinein, die man nicht leicht ausscheiden kann, was bei der Musik von selbst wegfällt.

Das kontingente Substrat ist hier die abgeschlossene Welt der Klänge, vom verworrenen Lärm bis zum reinen Einklang. Dieser werden die Gesetze aufgeprägt. Eine kleine Zahl von Instrumenten siebt die brauchbaren Klangfarben aus der stetigen Reihe der Töne aus, aber auch sie werden durch einfache Zahlenverhältnisse eingeschränkt, die sich aus der Oktave, der Quint und der Terz leicht ableiten lassen. Die Figuren, die mit den Tönen gebildet werden, reduzieren sich auf wenige Schemata, denn eine Melodie besitzt eine vorgeschriebene Form, die wie ein Kaleidoskop wirkt und alles Kontingente, was man in sie hineinlegt, schön erscheinen läßt,

wenn man sich nicht allzuungeschickt anstellt. Diese Formeln sind, wie die mathematischen Axiome, die Entdeckungsoperatoren für die Komponisten und je reichhaltiger sie sind, d.h. aber je gebundener die Form ist, umso mehr Freiheit verschaffen sie dem Künstler. Sie verleihen dem Kunstwerk jenes "ich weiß nicht was", jene geheimnisvolle Harmonie, jenes Irrationale und Inkommensurable, kurz jene Schönheit, die uns plötzlich im Innersten trifft, wenn wir ruhig in der Betrachtung verharren. Man sehe sich daraufhin die Sarabanden, die Kanons und Fugen an, z. B. jene von Mozart, die Sie demnächst hören werden. Man hat alle diese Werke als Erzeugnisse der Studierstube gescholten, aber die Praxis hat sich über dieses Fehlurteil hinweggesetzt und heute wird wieder die kunstvollste polyphone Musik geschaffen, man denke nur an Hindemith. In dieser zeitlosen Welt der Formen oder Ideen findet die wahre künstlerische Arbeit ihr Feld und ihre Beute, und in ihr muß der Liebhaber den Genuß suchen, nicht in den abstrakten Gefühlen oder gar in unsauberer Phantasie, wie sie uns heute so oft zugemutet wird. Von dort aus reicht kein Schein in die Kunst, und die Künstler selber ärgern sich darüber. Ich möchte aus den unzähligen Aeußerungen nur die eine von Gottfried Keller in seiner Novelle "Die mißbrauchten Liebesbriefe" wiedergeben. Es heißt dort: "Die würdigen alten Herren mit weißen Haaren ... priesen den Reiz, welchen das Verfolgen der Kompositionsgeheimnisse und des Stiles gewährte, ohne daß die Freude an dem Vorgetragenen selbst beeinträchtigt werde. Sie stellten einläßliche Vergleichungen auf und suchten den roten Faden, der durch all' dergleichen hindurchgehe..." Auch Jacob Burckhardt hat immerfort diesen

Gesetzen nachgespürt. Indem wir das tun, erfahren wir das, was Plato die Euphrosyne, den Frohsinn, nannte.

Alle Kunstwerke, die dauernden Erfolg haben, auch wenn sie scheinbar formlos sind, verdanken ihren Erfolg verdeckten Symmetrien, die unmittelbar und ohne Durchgang durch den Verstand auf das Gemüt wirken. Diese wunderbare Tatsache erklärt Kepler mit diesen Worten: "Es steckt in dieser niederen Welt eine geistige Natur, der Geometria fähig, welche sich an den geometrischen und harmonischen Verbindungen ... erquicket und zum Gebrauch ihrer Kräfte selbst aufmuntert und antreibt." Die späteren Opern von Wagner sind vom Größten bis ins Kleinste von Formen beherrscht, nicht etwa naiv durchkomponiert. Der Entdecker dieser Großformen war Mozart, der im zweiten Finale der Zauberflöte nicht weniger als sieben verschiedene Szenen zu einer großen Einheit zusammenfaßte, und daran nahm Wagner nach seiner eigenen Aussage das Beispiel.

Positivisten haben schon gefragt, wann und wo eigentlich ein Musikstück, etwa eine Beethovensche Symphonie, existiere, und sie glaubten als Antwort geben zu müssen: während einer guten Aufführung. Das ist wohl kaum richtig, denn eine Komposition, ein Gedicht, ist ein Gesetz, das allein im Denken existiert. Wenn man es kennt, so kann man es stets herbeirufen, wann und wo man will, und mit dem Zufall verbinden, denn es trägt sich selbst durch Zeit und Kontingenz hindurch, unabhängig vom Raum, allgegenwärtig, wie alles was wahrhaft existiert. Seine Verwirklichungen sind vorübergehende Erscheinungen, die uns allerdings, wenn sie von Meisterhand geschehen, die Schönheit enthüllen können und so als unvergeßliche Offenbarungen wirken. Denn der Dilettant hat weder die Zeit, noch die Erfahrung, um

von sich aus die wirksamen Triebfedern des Kunstwerkes zu finden, und er muß dieses Geschäft den Sachverständigen überlassen, zufrieden, wenn ihm selber gelegentlich einige Funde gelingen. Nur auf diesem Wege kann die Kunst belebend und reinigend wirken. Der freie Mensch soll sich vor abgestandenen mechanischen Gefühlen hüten und jeden Tag wie ein Neugeborener, quasi modo genitus, beginnen, auf der Stufe, die er erreicht hat.

Steigen wir weiter auf und fragen wir uns: Ist denn in Wahrheit der Mensch frei? Wir haben allen Grund, daran zu zweifeln. Daß wir nach einem unabänderlichen Gesetz in die Welt eintreten, läßt sich nicht bestreiten. Jede unserer Handlungen kann man als zwangsläufig geschehen nachweisen, sei es durch eingelernte Mechanismen, durch Einflüsse der Umgebung, durch die Macht der Sinne. Da aber jedes Gesetz unweigerlich mit dem Zufall verbunden ist, so läßt sich mit dem gleichen Recht sagen, daß alle Handlungen kontingent sind. Nun können wir aber unser Tun frei beobachten, denn das Ich ist wesentlich diese Reflexion auf sich selber, das Denken und also die Freiheit, und so sehen wir in der menschlichen Seele diese drei untrennbar verbunden: Zufall, Gesetz und Freiheit. Aus diesen Bestandteilen ist das Bewußtsein zusammengesetzt und keiner darf von den andern ertötet werden. Wenn jemand einem Menschen in einem psychologischen Gutachten nachweist, daß er diese und diese Talente und Mängel, diesen Intelligenzkoeffizienten besitzt, so wird er damit unter ein Gesetz gestellt, aber es steht ihm frei, sich durch Denken und den damit verbundenen Willen von diesen Fesseln zu lösen und zu sagen: Gerade weil ich kein Talent habe, will ich diesen Fehler überwinden. Die mühevolle Arbeit, welche die Überwindung der anfänglichen Hindernisse

braucht, verschafft mir die lebendige Energie, welche mich weiter trägt. So wurde Demosthenes gerade dadurch zum großen Redner, weil er kein Talent dafür hatte. Kein Gesetz kann den Menschen unweigerlich binden, denn die Freiheit der Reflexion ist mächtiger. Indem man aber seinen Willen auf einen bestimmten Gegenstand richtet, fesselt man sich und gibt sich freiwillig dem Gesetz hin. Darin besteht nun unserer Weisheit letztes Wort. Hier beginnen die Gegensätze zusammenzufallen, wie das beim Aufstieg zum Höchsten notwendig geschehen muß. Schon Nikolaus Cusanus hatte klar eingesehen, daß bei Gott, wenn sich die Wissenschaft daran versucht, alles in Eins zusammenkommt, das Maxi. mum mit dem Minimum gleich wird, Gesetz und Zufall ihren Widerspruch aufgeben. Auch Gut und Böse verlieren ihren Unterschied in dem Sinne, daß wir das Urteil Gottes fiber die Seelen nicht kennen. Schon Plato pflegte zu sagen, wenn er einen Verbrecher sah: "Bin ich nicht etwa auch ein solcher" (Plutarch, De sanitate praecepta).

Dasselbe geschieht auch mit der Freiheit und der Gebundenheit. Luther beginnt seinen Traktat von der Freiheit eines Christenmenschen mit den beiden widersprechenden Sätzen:

"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan."

"Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."

Die wahre Freiheit ist Gehorsam gegenüber Gott und der wahre Gehorsam ist die Freiheit, denn Gott begegnet nur dem Freien. Hier hört jede äußere Bindung auf, denn wo Gott unmittelbar regiert, hat das Naturgesetz seine Kraft verloren.

Werfen wir zum Schluß einen Rückblick auf den zurückgelegten Weg. Wir begannen mit dem absoluten Gegensatz von Gesetz und Gesetzlosigkeit, wie er am schärfsten durch die mathematischen Naturgesetze aufgestellt wird: Die partiellen Differentialgleichungen und die Anfangsbedingungen. Dieses so festgelegte und gleichzeitig kontingente Geschehen wird durch Raum und Zeit außereinander gehalten. Alsdann stiegen wir höher zum Zusammenleben der Menschen, das wesentlich von der Zahl beherrscht wird. Die Freiheit, welche hier Moral heißt, stellt selber die Gesetze auf, wacht über ihrem Leben und bewahrt sie vor der Erstarrung. Wir betrachteten als besonders charakteristisches Beispiel das Geld. Hierauf folgte die geistige Welt, in der die Gesetze als Ideen durch unser Denken gefunden werden können, sie ist das Reich der Wissenschaften und Künste, die durchaus zusammengehören und unvermerkt ineinander übergehen, keine Kunst ohne Wissenschaft und keine Wissenschaft ohne Kunst, falls sie nämlich kräftig und ursprünglich betrieben werden. Denn daß beides auch bloß äußerlich und verblaßt bearbeitet werden kann, versteht sich von selbst. Hier ist alles in der Trennung gemeinsam, nicht wie bei Raum, Zeit und Zahl außereinander. Schließlich folgt die Coincidentia oppositorum beim Aufstieg zum Gipfel, wo Gesetz und Zufall, Freiheit und Knechtschaft in eins zusammenkommen. Die anfängliche absolute Gegensätzlichkeit wird schrittweise überwunden und endet in der Einheit. Dieses Schema stimmt genau mit demjenigen Platos überein, das seit dem Altertum unserem Denken zugrunde liegt. Dort wird absteigend gezeigt, wie das absolute Eins über allem Denken steht, das erst beim seienden Eins, der coincidentia oppositorum, beginnt, aus dem alsdann durch Analyse

alles weitere folgt. Zwei Jahrtausende später machte sich Leibnitz anheischig, den Kaiser von China zum Christentum zu bekehren, indem er ihm nachweist, daß man aus Null und Eins alles aufbauen und die christlichen Wahrheiten ableiten könne. Fichte geht vom Ich und Nicht-Ich aus, Hegel vom Sein und Nichts, aber das alles sind nur zufällige Namen für dasselbe und sie bilden das höchste Beispiel für unsere Formel: Ein Gesetz trägt einen kontingenten Zustand durch die Zeit hindurch.

Hiermit ist der Kreis geschlossen. In diese endliche Unendlichkeit sind wir hineingestellt als kleinste Parzelle, aber mit der Kraft begabt, sie aufsteigend zu verstehen.