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Der unheilbare Kranke und seine Behandlung

Rektoratsrede

von
Prof. Dr. Jakob Klaesi
VERLAG PAUL HAUPT BERN 1950

Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1950 by Paul Haupt, Berne
Printed in Switzerland by Paul Haupt, Berne

I.

Der unheilbare Kranke und seine Behandlung —ich betone: Nicht von unheilbaren Krankheiten — von unheilbaren Kranken ist die Rede und nicht nur von unheilbaren Geisteskranken, sondern von Unheilbaren überhaupt. Ferner: Nicht jeder mit einer unheilbaren Krankheit Behaftete ist auch ein unheilbar Leidender, aber viele von diesen letztgenannten haben keine unheilbare Krankheit. Diejenigen, welchen eine an sich heilbare Störung zur Ursache einer immer tiefergreifenden dauernden Schwäche, Hinfälligkeit und Verkümmerung wird, sind in der überwiegenden Mehrzahl, die andern, die trotz einer unheilbaren Krankheit nicht lebensuntüchtig und minderwertig werden, erfreulicherweise häufig, denn eine unheilbare Krankheit ist nicht ohne weiteres ein Siechbett, sie ist ein Prüfstein, —nicht eine unüberwindliche Schranke, sondern ein Tor zu einer neuen Welt, —nicht ohne weiteres ein Fluch, vielmehr ein Aufgebot der allerinnersten, ureigensten, wertvollsten Kräfte — und eine Berufung.

Wenden wir uns dem Zusammenspiel, den gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen von Leib, Seele und Geist und damit dem Krankheitsbegriff zu. Wir wissen, wie viele Menschen plötzlich sich meldende körperliche Beschwerden und krankhafte Störungen, auch wenn sie leichter Art sind, nicht einfach hinnehmen wie Hunger, Durst oder einen Platzregen, sondern zufolge menschlichen Kausalitätsbedürfnisses sich fragen: Was heißt das? Warum das? Woher das? Namentlich der Aengstliche, Unsichere, Beengte und Ueberdrüssige fragt so, und die Antwort, die er sich gibt, ist entsprechend. Auch wenn er sich vor Krankheit scheinbar fürchtet und ihm schon der Verdacht auf eine bestimmte Diagnose Anlaß zu

großer Sorge und Aufregung wäre, treibt es ihn doch, eher das Schlimme zu denken. Der Mutmaßung, es könnte sich um Bedrohungen und Schädigungen der Existenz handeln, folgt die hypochondrische Deutung und dieser die ängstliche Selbstbeobachtung auf alle Anzeichen, welche die vermutete Krankheit vermeintlich ausmachen, bis sich dem körperlichen Syndrom ein hypochondrischer Ueberbau aufpfropft, der den Zustand verschlimmert und die Widerstandskraft ernstlich gefährdet.

Aber körperliche Krankheit und Funktionsstörung brauchen den Umweg über das Gesundheitsgewissen (Kohnstamm), über den schadhaften Gesundheitswillen und die hypochondrische Deutung und Selbstbeobachtung nicht notwendig, um auf Seelen- und Geistesleben einzuwirken. Das kann unmittelbar geschehen. Psychologische Experimente zeigen erkennbare Abhängigkeiten der Wahrnehmungs-, Auffassungs- und Erinnerungsschärfe und anderer geistiger Leistungen von Schwankungen im körperlichen Kräftehaushalt, und klinische Erfahrung lehrt, dass gewisse Organerkrankungen und Mißbildungen ganz bestimmte kennzeichnende seelische und geistige Abweichungen und Ausfälle im Gefolge haben. Trotzdem ist es bei weitem nicht richtig, daß körperliche Gesundheit absolute Voraussetzung für seelisches und geistiges Wohlbefinden ist. Das Wort Juvenals: «Mens sana in corpere sano» ist ja auch nicht als Lehrsatz, sondern als eine Bitte an die Götter gesprochen.

Viel augenfälliger und klinisch und therapeutisch wichtiger als die Einwirkungsmöglichkeiten von Schwankungen und Störungen im körperlichen Kräftehaushalt und von Krankheiten auf Seelen- und und Geistesleben sind die Einflüsse, welche von Affektivität, Wille und Vorstellung auf den Körper ausstrahlen. Nichts geschieht in diesem, was nicht letzterdings auch eine psychische Funktion und von Leistungs- und Lebenswillen abhängig und gesteuert wäre. Die Macht des Psychischen reicht bis zur Ausschaltung von Sinnesfunktionen und Schmerzempfindung, — und auf neurotischem Weg bis zur

Auslösung, Verankerung und Ausweitung allerschwerster körperlicher Krankheitszustände, Krampfanfälle, Lähmungen und Schwächen, und ohne daß die geringsten körperlichen Grundlagen gefunden würden. Darum denn auch der brennende und nie beendete Streit, ob die Psychoneurosen Krankheiten im medizinischen Sinne oder nur Affektstörungen, psychopathische Entwicklungen oder anormale Reaktionen seien.

Halten Sie sich diese Zusammenhänge und Verknüpfungen leiblicher, seelischer und geistiger Funktionen vor Augen, so ermessen Sie leicht die Schwierigkeiten, allgemein gültig zu definieren, was Krankheit ist. Die Literatur über den Krankheitsbegriff ist denn auch schon äußerst umfangreich und bald unübersehbar. Keine der gegebenen Definitionen ist mehr als ein Versuch einer solchen. Daß alle rein medizinischen Begriffsbestimmungen,. welche das Gewicht auf die pathologisch-anatomischen und pathophysiologisch-chemischen und -elektrischen Vorgänge legen, ohne deren isolierende Wirkung auf Tätigkeit und Stellung des Kranken und auf Lockerung und Einbusse seiner Umweltsbeziehungen einzubegreifen, nicht befriedigen, ist selbstverständlich. Krankheit ist eben mehr als eine Laboratoriumstatsache, Krankheit ist mehr als der örtliche Befund, mehr als die Krankheit eines isolierten Organs, sie ist von da an, wo ihr die betroffene Person Gewicht gibt, Krankheit des ganzen Menschen. Zu diesem gehört auch der Geist, so dass es wohl nicht verwundert, wenn man das Geistige in der Krankheitsproblematik berücksichtigt. (Paul Matussek). R. Siebeck sagt: «Gesundheit ist die richtige Ordnung der Kräfte des Körpers, der Seele und des Geistes in der Rhythmik des Tages und der Jahre, im Werden von der Geburt bis zum Tode. Krankheit ist Störung der Ordnung, die bald zuerst im körperlichen, seelischen oder geistigen Sein angreift, die aber mehr oder weniger mit dem einen die anderen mit sich zieht.» Aber welches ist die richtige Ordnung der Kräfte des Körpers, der Seele und des Geistes in der Rhythmik des Tages und der Jahre von der

Geburt bis zum Tode? Man denkt an die ideale Ordnung, welche aber eine Fiktion und weniger als eine Arbeitshypothese ist. Oder soll man, wie man auch getan, nach dem Durchschnitt rechnen und von Norm und Abweichungen von dieser Norm als von Krankheiten und Abnormitäten sprechen? Auch dieser Masstab hat sich als untauglich erwiesen, gibt es doch Abweichungen genug, auch auf geistigem Gebiet, die nicht als krankhafte bewertet werden. Erinnern wir uns der einseitigen Begabungen und der Genialität, der überdurchschnittlichen Sinnesfähigkeiten oder anderseits einer abstoßenden Schwerfälligkeit der Haltung und Bewegung! Um den Durchschnittsnormbegriff, der sich sowieso von der Masse aus nivellierend gegen die Individualität richtet, zu retten, teilte man ein in nützliche und unnützliche, in angenehme und unangenehme Abweichungen. Genialität wäre eine nützliche und angenehme, aber die Frage blieb offen, für wen; sicher ist sie es für die Angehörigen des Genies selten und für das Genie selbst nur in besonderen Glücksfällen. Darum ist der tauglichste Krankheitsbegriff heute ein sozialer. Darnach bedeutet Krankheit Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen des Lebens, Verminderung oder Aufhebung der Arbeits- und Genußfähigkeit infolge von Störungen und Ausfällen körperlicher oder seelischer oder geistiger Funktionen oder körperlicher und seelisch-geistiger. Mit solcher Begriffsfassung sind, wie man sofort erkennt, der Therapie ungeheuer fruchtbare Blickfelder eröffnet, handelt es sich doch jetzt nicht mehr nur darum, den ursprünglich gesunden Zustand und Funktionserfolg wieder herzustellen und zu sichern, sondern da, wo eine Restitutio ad integrum nicht mehr möglich ist, die Anforderungen des Lebens der veränderten Leistungs- und Genußfähigkeit anzupassen. Damit ist auch der für die Hilfesuchenden wie für den Helfer verhängnisvolle Trennungsstrich zwischen Heilbaren und Unheilbaren verwischt, wenn nicht gar ausgelöscht, —denn es hängt nun von der Erfindungs-, Behandlungs- und Erziehergabe des Arztes ab, wie weit er einen unheilbaren Kranken noch zu einer gewissen

Arbeits- und Genußfähigkeit bringt und den Anforderungen des Lebens genügen machen kann. Freilich muß man, um genau zu sein, einschränkend nachfügen: Es kommt noch auf das Wo und das Wieweit der Einbrüche der Krankheit an und vor allem auf den Grundcharakter des Kranken, darauf, wie zugewandt, begeisterungsfähig, schöpferisch begabt usw. er ist. Auch wird unter Arbeitsfähigkeit nicht nur die — sagen wir —versicherte Arbeitsfähigkeit, die Arbeit im gewohnten Beruf, ja nicht einmal ausschließlich produktive Arbeit verstanden, sondern tätige Hinwendung, findende Aufrichtung und ergreifende Persönlichkeitsentäußerung überhaupt. Louis R. Grote spricht von persönlicher Normalität und Responsivität der Person und sagt: «Der Organismus wird dann krank, wenn er eine vorübergehend oder ständig einwirkende Abweichung von seiner individuellen Norm in Hinsicht auf Leistungsfähigkeit und Leistungsdauer durch morphologische und funktionelle Anpassung nicht mehr auszugleichen vermag, — wenn ihm die Abweichung nicht mehr gestattet, responsiv zu bleiben.» Wir stoßen uns an der Enge des Begriffs, da er dazu verleitet, Leistung zur Hauptsache als Reaktion auf Anreiz von außen aufzufassen (respondere), und also zuviel Gewicht auf reaktive Komponenten zu legen. Ich stelle im Hinblick auf geistige Entäußerung und innern Ausgleich allgemein auf die Fähigkeit der Persönlichkeitsverwirklichung ab, wobei ich als Funktion des Geistes Ausrichtung auf außer- und überpersönliches Sein und Daranteilhaben verstehe, wie es als Gesinnung, Gewissen, Glaube, Gemeinschaft usw. erlebt wird. Sie werden erfahren, daß gerade der Anruf des Psychischen, womit wir Seelisches und Geistiges zusammenfassen, und dessen Unterstützung, Ausweitung und Vertiefung, die Erbauung und Bindung die Wege sind, auf welchen der taugliche unheilbare Kranke heilsam Zuversicht und Ausgleich zurückgewinnt, und daß sie der Arzt kennen und lebendig werden lassen muß. Nicolai Hartmann schreibt: «Sein seelisches Sein hat jeder für sich. Es ist ein esoterisches Sein des Individuums,

unübertragbar, mit dem man wohl Fühlung haben, in das man aber nicht hineingelangen kann. Man kann wohl mit ihm mitleiden und sich mitfreuen, aber es ist und bleibt ein zweites Leiden und ein zweites Sichfreuen neben dem originalen, und es bleibt auch bei aller Innigkeit ein qualitativ von ihm verschiedenes. Den Gedanken aber, den einer hat, kann man als denselben denken, wenn man ihn erfaßt; es ist zwar ein zweiter Denkakt, Akt eines anderen Bewußtseins, aber es ist derselbe Gedanke. Der Gedanke ist expansiv, er verbindet, wo der Bewußtseinsvorgang isoliert. Dasselbe ist es mit Willenszielen, Strebens- und Schaffensrichtungen, Ueberzeugungen, Glaubens-, Wertungs- und Anschauungsweisen. Sie alle gehören der Sphäre des Geistes an.» Man sieht: Abermals die Plattform, von der aus die Probleme der Behandlung — und sagen wir einmal paradoxerweise Heilung — unheilbarer Kranker anzugehen und zu lösen sind. Es sind zum Teil metaphysische Probleme. Krankheit in unserem Sinne ist eine durch physische und psychische Störungen und Minderleistungen bedingte Erschwerung und Schwächung der Persönlichkeitsverwirklichung. Von Unheilbarkeit eines Kranken rede ich dann, wenn er infolge seiner physischen und psychischen Ausfälle und Mängel dauernd außerstande bleibt, seine Persönlichkeit zu verwirklichen. Es ist aber eine tröstliche Erkenntnis, daß gegen unversiegliche Herzensgüte, Hingebung, Opferwille, schöpferischen Gestaltungsdrang, Liebe — nur die Agonie aufkommt — und der Tod.

Ziehen wir Beispiele zu Rate! Zuerst das von einem unausweichlichen, langsamen Zugehen zum Tod, das manche von uns schon aus eigener Erfahrung kennen, und alle anderen einmal kennen lernen werden — das nicht zu den unheilbaren Krankheiten zählt und dennoch für viele eine unaufhaltsame Einbusse an Arbeitsfähigkeit und Genußfähigkeit zur Folge hat und die Persönlichkeitsverwirklichung gefährdet, namlich vom Alter. Schon das Schrifttum das der vielgelesene Basler Arzt A. L. Vischer in seinem bekannten

Buch: «Ueber das Alter als Schicksal und Erfüllung» zusammengestellt hat, zeigt mit den unvereinbarsten Widersprüchen der zu Wort gekommenen Zeugen, daß es nicht am Alter als solchem liegt, ob man sich mit Klagen oder freundlicher Ausgeglichenheit oder Lobrede, wenn nicht gar mit hinreissender Schwärmerei äussert, sondern an der Art und Weise, wie es erlebt und ausgekostet wird. Es ist nicht anders möglich, als daß der von Natur Genusssüchtige, Selbstsüchtige und Ungütige wunderlich, mißmutig und griesgrämig wird, wenn ihm immer mehr Einschränkungen auferlegt werden, der Ehrgeizige ärgerlich und gehässig, wenn die Rolle verblaßt, der Habsüchtige geizig, wenn er in Sorge um die abnehmende Erwerbskraft gierig wenigstens das zusammenhalten will, was er schon erworben, und daß der Eitle und Ruhmsüchtige über Mangel an Anerkennung und Undankbarkeit der Zeit jammert. Wieviel besser haben es die Großeltern im Stöckli 1), die nach einem Leben voll Arbeit und Mühsal immer noch dabei sein dürfen und als Stützen und Ratgeber das erfolgreich Errichtete mithüten und weiterfördern, —wieviel besser auch die Großeltern, denen es beschieden ist, noch ein Mal und vielleicht sogar ein drittes als Heger und Erzieher sich liebend und verzichtend zu verschwenden, —wieviel besser auch der Handwerker, der Arzt, der Gelehrte, die einen Erfahrungs- und Wissensschatz zu betreuen und zu nähren und immer noch zu lernen haben! Aber das alles hat noch nicht die verjüngende Kraft wie der jauchzende Schwung, den ein strebender Künstler oder Forscher oder ein gestaltender Staatsmann empfindet. Hinter jeder schöpferischen Entäußerung taucht drängend eine neue auf, jede wissenschaftliche Lösung eröffnet neue Fragen, und der seherische Blick des Staatsmannes kommt nicht ab von der Ferne. Alle leben sie noch in der Zukunft, die ein Vorrecht zu sein scheint der Jugend, und die Beglückung, welche diese immer noch plänereiche Zukunft zurückstrahlt, ließen sie sich mit keinen materiellen Gütern abkaufen. Die

Beschwerden des Alters zählen nichts dagegen und auch eine Pensionierung kann ihren Eifer und ihre Zuversicht nicht schmälern. Ich erinnere mich eines großen Lehrers, der sich, als er wegen Erreichung der Altersgrenze abtreten mußte, darüber erboste, daß der Staat einen zwinge, mit 70 Jahren ein alter Mann zu sein, sagte es, liess ein Haus bauen und eröffnete eine Privatpraxis, die ging von Marokko bis Stockholm und von Ungarn bis Amerika. Als er 15 Jahre später sein Ende kommen sah, schrieb er seine Krankengeschichte und machte an sich Beobachtungen und Experimente bis zum letzten Tag.

«Tod, wo ist dein Stachel?»

Ich exemplifiziere mit den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Arbeit von Milton Drexler aus meiner psychiatrischen Klinik über die Psychologie der Krebskranken — und mit Beobachtungen und Erfahrungen, die nachher an solchen gemacht wurden. Es stellte sich heraus, dass auch der Krebs, gleich jeder anderen Notlage des Lebens, die Tüchtigen von den Untüchtigen scheidet, und daß auch er, sozusagen bis kurz ans Ende, dem schöpferischen Drang und dem eingeborenen triebmäßigen Hingabebedürfnis nichts anhaben kann. Dazu einmal die Tatsache, daß in den Fällen, die zu spät in Behandlung kommen, die Angst ausschlaggebend war, zu einer einschneidenden Kur aufgefordert und dadurch in Beruf und Erwerb empfindlichst gestört zu werden. Zu ihnen gehören Handwerker, Geschäftsleute, Juristen, Aerzte und andere in ähnlichen freien Berufen Stehende und Mütter mit unmündigen oder noch schulpflichtigen Kindern. Ist die Diagnose gestellt, und wird sie den Betroffenen selber unbezweifelbar bekannt, so wünschen gerade diese Unbeugsamen am ehesten entweder möglichst rasche und radikale Therapie, oder sie schieben den Beginn der Behandlung so lange hinaus, bis alle Hoffnung auf Heilung verloren ist und man sie nur noch konservativ behandeln kann. Im weiteren Verlauf der Krankheit zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie auch im Endstadium, in welchem andere Leidensgenossen

durch eine zunehmende Indifferenz, Schlaffheit und Medikamentesucht auffallen und dadurch, daß sie alle ihre ehemaligen Verpflichtungen auf andere abladen, immer noch feste Vorsätze und Pläne haben und alles daransetzen, ihre Arbeit noch fertig zu bringen und für die Nachkommen zu sorgen. Sie verweigern auch vielfach die schmerzstillenden Mittel aus Angst vor Betäubung und gänzlicher Bewusstlosigkeit. Eine Elite von Ausnahmen lässt sich bis zu allerletzt nicht niederdrücken. Ihr starker Wille übersteht alles. Sie geben den Gedanken an eine Heilung nicht auf. Fortdauernd versuchen sie, eine solche mit allen Mitteln, die sich ausdenken lassen, zu erzwingen. Die Lebensziele, die sie sich gesteckt haben, wollen sie noch erreichen, koste es, was es wolle. Auch an den Geschehnissen, die sich in der Welt abspielen, nehmen sie bis zuletzt Anteil. Die Verpflichtungen, die sie übernommen, überbinden sie nicht anderen. Sie suchen ihren Willen zu behaupten bis zuletzt, weil sie ein Leben ohne Aufgaben nicht ertragen können. Es scheint, sie denken, solange sie noch obenauf kommen wollen, sei noch nicht alles verloren und eine Heilung noch nicht ausgeschlossen. Am rührendsten und erhebendsten aber, wenn sie — den Tod sicher vor Augen — rastlos arbeiten, regeln und ordnen, um ja noch alles zu erledigen, das ihnen als Aufgabe ans Herz gewachsen ist. Immer sind es die geistigen Berufe, die Selbständigerwerbenden und allen voran welch Denkmal ihrer Größe —natürlich die Mütter, welche das Beispiel geben.

Aber die Station für Hoffnungslose lehrt noch etwas anderes. Unverkennbar zeichnen sich dort viele Pfleglinge durch eine besondere Anhänglichkeit und Dankbarkeit dem Arzt gegenüber aus — selbstverständlich, denn sie haben in ihrem Siechtum etwas gefunden, was sie vielleicht in ihren gesunden Tagen stets entbehren mußten, nämlich Verständnis und Mitgefühl, Führung und Anschluß, Verzichtwillen und Verzichtfähigkeit, welche allein das Gefühl von Geborgenheit, Verbundenheit und Geklärtheit sichern.

Behandlung und Leiden haben dadurch ihren größten Sinn erhalten und zum edelsten Ziel geführt: Zu einer wohltuenden Einordnung. Aehnlich liegen die Verhältnisse ja auch bei manchen Unheilbar-Geisteskranken. «Der Arzt bedeutet ihnen, wenn er das Zeug dazu hat, nicht nur die Welt, an die sie sich anklammern, sondern Ersatz für Verlorenes und Vermißtes, Erhofftes und Erträumtes, Stütze und Angelpunkt einer immer wieder neuen Aufrichtung und Glaubens.»

Besinnen wir uns abschließend auf Persönlichkeiten, die uns aus Alltag oder aus der Unsterblichkeit ihrer Schöpfungen bekannt sind, auf Staatsmänner, Gelehrte und Künstler, die trotz schwerer unheilbarer Krankheiten und Beschwernisse unbeugsam nicht nur ihren gewohnten Weg weitergingen, sondern ihre Anstrengungen verdoppelten und verdreifachten und ihr Genie erst voll entfalteten, und auf Verstümmelte, die mit ihren maschinellen Ersatzteilen statt Gliedmassen —nicht nur ihren Beruf weiter ausüben, sondern auch als erstklassige Sportsleute glänzen und wiederum auf Mütter, die erst zusammenbrechen, wenn sie das letzte Kind in die sichere Geborgenheit entlassen haben.

Dem Miterlebenden wird die Tatsache bewußt, daß Ueberwindung des körperlichen Ungemachs nach der Mißachtung, Verdrängung und Besiegung der physischen Gehemmtheit und der Schmerzen nicht Halt macht, sondern zur Ueberwindung des eigenen Ichs wird. Sie drückt sich aus durch eine geläuterte Geistigkeit, Empfindsamkeit und Teilnahmefähigkeit. Die affektive Grundhaltung ist launige Heiterkeit und ein besonderes Kennzeichen die Dankbarkeit. Kein Wunder, dass das Lied «An die Freude» von einem Dichter stammt, der zwar zur Zeit der Niederschrift noch nicht schwindsüchtig war, aber doch infolge seiner genialen Anwandlungen so angefochten und einsam, daß ihn der Freundschaftsbund mit Theodor Körner in einen dithyrambischen Begeisterungssturm hinriß; dafür war sein Komponist ein schwerer unheilbarer, vertaubter, einsamer Otosclerotiker.

II.

Wir kommen zum Kernabschnitt des Vortrages. Halten wir fest, was bis jetzt dargetan wurde: Erstens, dass körperliche Beschwerden und Krankheiten vom Aengstlichen, Unsicheren, Bedrängten und Beengten zum Anlaß hypochondrischer Deutung, Besorgnis und Selbstbeobachtung genommen werden, und dass sich dadurch dem körperlichen Symptomenkomplex ein neurotischer Ueberbau aufpfropft, der die Störungen und Ausfälle vergrößert, die Widerstandskraft gefährdet und ernstliche Komplikationen schaffen kann; zweitens, dass die Allmacht gemütlicher Ergriffenheit, willensstarken Entschlusses, der Begeisterung und der unbedingten, treuen Unterstellung unter eine leitende Idee über körperliche Hinfälligkeit und Versagen so groß ist, dass auch die Bedrängnis durch eine unheilbare Krankheit überwunden und darüber hinaus eine höhere geistige Stufe erreicht wird, und drittens, dass freilich nicht alle berufen sind und noch weniger auserwählt.

Der Schwunglose, Eigennützige, Gefühlsarme, Liebesunfähige und der Philister, der sich nur soviel zu leisten vornimmt, als er leicht ausrichten kann und damit vollauf zufrieden ist, pflegen sich möglichst früh zu sichern und vergreisen schon in jungen Jahren. Sie müssen sich fleißig erholen, pflegen und zerstreuen; eine unheilbare Krankheit ist ihnen Zerstörung allen Lebenssinnes und Lebensinhalte und Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Sie sind für den Psychotherapeuten nicht das Holz, aus dem man Pfeifen schneidet. Der Arzt muß sie symptomatisch behandeln, muss lindern und laben mit Analgeticis, Hypnoticis, mit lädierter Suggestion und Ablenkung. Auf die Dauer nützt er sich ab, an seine Stelle tritt der Kollege, der

alles anders und besser macht, und zuletzt kommt der Quacksalber. Je handgreiflicher und unwissenschaftlicher dessen Theorie und je mehr dazu angetan, die Armseligkeit der menschlichen Haltung zu bemänteln und auszureden, indem sie eine Leidensursache propagiert, die sowohl an der niederdrückenden Krankheit wie auch an aller Unzulänglichkeit und Lebensuntüchtigkeit von früher schuld ist, so dass man nun einen Sündenbock weiss und sich doch noch als wer vorkommen kann, desto besser. Wir dürfen nicht mittrauern 1).

Eine andere Klasse bilden Leute, die mit Beständigkeit und Anstand den Weg der Mitte gehen und eigentlich wohlgesinnt und rechtschaffen sind, die auch sportlichen und gesellschaftlichen Anforderungen gegenüber zu Verzicht und Entbehrungen, —ja sogar zu selbstlosen Wagnissen bereit sind, von denen aber im Alltag das gilt, was vor mehr als 50 Jahren ein berühmter Lehrer unserer Universität, Carl Hilty, Professor der Jurisprudenz, gesagt hat: «Furcht vor allem Leiden ist eigentlich der charakteristische Zug der jetzigen Weltzeit, ähnlich wie es in der letzten Zeit der antiken Kultur auch der Fall war. Nicht das Geringste will mehr ertragen werden. Was vorhergehende Generationen als sehr erträglich bezeichnet hatten, gibt jetzt Anlaß zu den lautesten Klagen und soll durch Regierungen, Gesetzgebung, Vereine oder sonstige Hilfe irgendeiner Art sofort abgestellt werden.» «Schon Tausende haben unter elenden gesundheitlichen Umständen mehr für die Welt getan als andere Tausende, die sich der ungestörten Gesundheit erfreuten. Wenn jene auch nur ein Beispiel der Geduld und der Freudigkeit im Leiden geben, der Möglichkeit, auch in solchen Verhältnissen glücklich zu sein, so ist das mehr als die meisten ganz gesunden Menschen

leisten, die oft genug die Gesundheit als ein Gut ansehen, das ihnen einfach von Rechts wegen zustehe, für das sie nicht dankbar zu sein brauchen, und in dessen Genuss sie von Niemand, nicht einmal durch den Anblick von Leidenden, gestört sein wollen.» Solche geistigen Mittelständler pflegen nach unseren Erfahrungen in einer schweren, lang sich hinziehenden und gar unheilbaren Krankheit zuerst einmal wie Hiob mit Gott und aller Gerechtigkeit zu hadern und zu fragen, warum gerade ihnen das zustoßen müsse, wo sie sich verschuldet hätten und alle zu beneiden, denen es besser zu gehen scheint, und die gesund sind. Aber durch das Leiden und durch eine sachgemäße Psychotherapie können sie nicht selten zu einer überlegenen Einsicht, zu einer erbaulichen Höherbewertung der geistigen Bande mit Angehörigen, Arzt, Gemeinschaft und Staat — und dann auch zu einer Abgeklärtheit, zu einer Milde und inneren Heiterkeit geführt werden, die sie wie eine erlösende Umkehr, Aufrichtung und Bereicherung empfinden. Sie haben, wenn sie auch zu Gott zurückfinden, die körperliche Herstellung nicht mehr nötig, und wennschon sie ihrem Beruf in keiner Weise mehr nachgehen können und auch zu grösseren Handreichungen unfähig sind, kommen sie doch soweit zu einer Verwirklichung ihrer Persönlichkeit, daß durch die Gefaßtheit, Anlehnung und Teilnahme, die sie ausstrahlen, eine große erzieherische Kraft und eine Bindung im Geist und an die Gemeinschaft ausgehen.

Aber es gibt noch eine dritte Klasse, und dazu gehören diejenigen, welche ich einleitend die Beengten, Bedrängten, Ungläubigen und Unsicheren, Mühseligen und Beladenen nannte, und die das Gute wollen und in die Neurose geraten. Auch sie rechten in einer unheilbaren Krankheit mit Gott und dem Schicksal, aber ihre Klage ist nicht immer überzeugend. Sie zeigen Reaktionen, die neurotischen Mechanismen ähnlich sind und auch entsprechende heimliche Triebfedern verraten. So aufrichtig ihr Bedauern, von Tätigkeit und Beruf ausgeschlossen zu sein, zu leiden und zur Last fallen zu müssen,

sich anfühlt, so ist doch unzweifelhaft wahrzunehmen, dass sie ihre Krankheit auch auskosten. Diese lokalisiert nämlich die aus dem charakterlichen Zwiespalt geborenen Unzulänglichkeits- und Minderwertigkeitsgefühle, von welchen sie wegen der Uneinheitlichkeit von Wollen und Handeln seit jeher geplagt und besessen sind, im Körperlichen und rechtfertigt sie damit vor Aller Augen, auch vor den eigenen. Jetzt sieht man, daß sie nicht anders können, und warum. Bekanntlich ist es für die meisten Leute leichter, körperlich zu leiden, wirklich und symbolisch (sich zu kasteien), als sich aufzuraffen und durch und durch anders zu werden. Oder die Krankheit dient als Schuldersatz, worunter ich einen Mechanismus verstehe, welcher der Bedrücktheit und Beladenheit wegen einer schweren moralischen Schuld, die heimlich gehalten werden will, zur Aeußerung und Rechtfertigung verhilft, indem eine Ersatzschuld geschaffen wird, durch welche Zerwürfnis und Jammer ausgelöst scheinen. Man jammert und weint, bittet um Verständnis und Hilfe, ohne die verfängliche Frage zu riskieren, was einem fehle, denn alle Welt sieht es vermeintlich. Es kommt auch vor, daß der Beladene sich sagt, er leide zu Recht und leiste jetzt Sühne, ja sogar, dass er etwas abzubüßen meint oder auch, daß er sich in gedankenloser Vermessenheit mit dem obersten Tröster vergleicht, der ja auch gelitten habe und noch mehr und ohne Schuld und Ursache und ebenfalls, ohne es wenden zu können. Manchmal sieht es aus, als buhlten sie um Mitleid und Zärtlichkeit, und die Neurosenlehre hat sich zu Zeiten ganz besonders auf diese Form des Krankheitsgewinns eingestellt und sie hervorgehoben; ich bin überzeugt, in sehr vielen Fällen zu Unrecht, denn das Mitleid ist dem Kranken nur ein Mittel zur Anlehnung und Aussprache und zur Flurbereinigung. Zutiefst sitzen das Kollektivitätsbedürfnis und das Streben nach einer Geborgenheit verheißenden geistigen Ebene. Zuweilen ist die Krankheit auch eine Waffe, gut, zu trotzen, zu tyrannisieren und über alle, die mitfühlen und helfen möchten, Macht auszuüben, oder ein Lot, um die

Liebe- und Fürsorgepflichtigen auf Opferwilligkeit und Langmut zu prüfen und sich daran gütlich zu tun. Die Aufzählung wäre auch im Rahmen dieses kurzen Vortrages unvollständig, würde ich nicht auch der Fälle Erwähnung tun, in welchen die unheilbare Krankheit nach der Art des Nihilismus deutlich die Tendenz zur Ausschaltung aus Gemeinschaft und Leben, also zum Tod, dartut, aber nihilismusgerecht nicht die volle Ausschaltung, sondern das Sterben und Stehenbleiben auf halbem Wege. Bekanntlich sind es nicht, weder dort, noch da, die rabiat entschlossenen Lebensüberdrüssigen, sondern eher Gütige, und wie Arnold Weber gezeigt hat, häufig humorbegabte Leute, die aus so und so vielen Bindungen an die Umgebung, an Angehörige usw. und aus Rücksicht auf diese die Nahrung verweigern und doch wieder essen, sich alles Leben absprechen und doch über Schlaflosigkeit klagen, sich abkehren und doch noch gerne zuschauen.

Was tut nun der Arzt? Die Zusammenhänge und Untergründe aufdecken, klären und lösen und wie schon angedeutet, die geistige Haltung stützen, ausweiten und vertiefen, den Zermürbten zur Erbauung und Verbundenheit führen. Daß solches von Fall zu Fall verschieden anzupacken und zu vollenden ist, leuchtet wohl ein, wie auch die Tatsache, daß alle Psychotherapie auf einer tiefgründigen Charakterdiagnostik fußen muß. Entscheidendes und Letztes sagen darüber der Körperbau (Kretschmer), das Krankheitsbild und das, was der Mensch mit seiner Krankheit anfängt. Sind neurotische Mechanismen im Spiele, d. h. ist, wie schon bemerkt, der unheilbaren Krankheit ein neurotischer Ueberbau aufgepfropft, wird die Behandlung zuerst eine Neurosenbehandlung. Nicht ohne weiteres eine solche nach psychoanalytischen Lehrsätzen, schon darum nicht, weil wir nicht der Meinung sind, die Konflikte seien durch unverdrängte oder schlecht verdrängte obsedierende Erlebnisse in Gang gesetzt, unterhalten und gefördert, sondern es sei die Persönlichkeit, welche die

vermeintlich pathogenen Erlebnisse erzielt und verwirklicht und immer wieder erziele und verwirkliche. Denn ein jeder von uns hat entsprechend den angeborenen Charaktereigentümlichkeiten, Plänen und Vorhaben seine eigene Art und Weise, sich mit Leuten und Leben auseinanderzusetzen, sich zu behaupten und sich und die Welt zu erleben. Führt es zur Neurose, sind dafür Eigenheiten verantwortlich, die im Kranken selbst liegen. Das redet nicht erbarmungslos einer unabwendbaren «Praemotio physica» das Wort. Der Erfolg der Behandlung zeigt, was an Vorurteilen abgebaut werden kann, so dass der Weg freier und die Verwirklichung der Persönlichkeit leichter wird. Schweres richtet häufig das religiöse Vorurteil an, der Herr wolle strafen und versuchen, die Krankheit sei eine Geißel Gottes. Man darf darauf hinweisen, dass in den Evangelien davon nirgends die Rede ist, im Gegenteil, alles Leiden und Sterben Christi hatte auch den Sinn, uns zu zeigen, daß körperliches Siechtum und Zerfall nicht gottgewollte Züchtigungen und Strafen sind und wollte uns von der Furcht davor erlösen. Ich erinnere an Johannes, Kap. 9: «Herr, warum ist der blind? Hat er gesündigt, oder haben seine Eltern gesündigt? Weder hat er gesündigt, noch haben seine Eltern gesündigt, sondern er ist blind, auf daß die Liebe des Herrn an ihm offenbar werde.» Hinderlich kann sich die leidenswillige Geduld auswirken, wie etwa auch der Besuchertrost, andere Leute hätten noch schwerer zu leiden und es gehe alles vorüber 1). Unbestritten bieten geduldiges Sich-Abfinden und Gleichstellung mit Leidensgenossen einen fruchtbaren Anfang von Beruhigung und Aufnahmefähigkeit, aber wenn es dabei bleibt, ist für die Aufrichtung, Bildung, beispielhafte Gesinnung und erzieherische Sendung des Kranken noch nichts getan. «Alles bloss leidende Verhalten ist das Gegenteil von Kultur; Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab.» (J. G. Fichte). Nicht das Hinnehmen, nur die

Ueberwindung des Leids, auch körperlichen Leids, welche zur Einkehr, zur Hingabe, zur Versöhnlichkeit und zur Erkenntnis führt 2), verinnerlicht, bereichert und erhebt. Notwendigerweise wird die Psychotherapie, wie schon Aristoteles bezeugt hat, eine priesterliche und eine philosophische Angelegenheit, und nach ihm sollte darum der Arzt in beiden Richtungen gebildet und von ihren Fragen und Erkenntnissen erfüllt sein. Verwandte der religiösen Zuwendung und, wenn man will, eine Art Vorstufe des Aufgehens im Geistigen sind alle Bekenntnisse zu einem Ausser- und Ueberpersönlichen und Gemeinsamen, ganz besonders auch das zur staatlichen Gemeinschaft, zu Heimat und Vaterland. Die opferbereite Wirksamkeit in der staatlichen Gemeinschaft gehört zu den eurythmischen Lösungen, und zwar um so mehr als sie nicht erzwungen ist, sondern einem inbrünstigen Verlangen, mitzutun und mitzuhelfen entsprungen. Sie entspricht dem tiefmenschlichen Drang, mit Gleichgesinnten an belebendem geistigem Besitz Teil zu haben, darin zu reifen und sich zu entwickeln und zu beheimaten. Staat ist nicht nur ein Zustand, sondern eine tägliche Erneuerung und Tätigkeit. Nicht verwunderlich, daß auch der Psychotherapeut immer wieder davon reden muß.

Der psychoanalytischen Schule ist im Laufe der Entwicklung klar geworden, daß Entzifferung der Symbolhandlungen, Katharsis usw. noch nicht Heilung und Aufrichtung bedeuten, daß vielmehr, wie Alfons Maeder schon vor 50 Jahren gezeigt hat, die Synthese dazukommen muß. Diese bewegt sich zu nicht unwesentlichen Teilen auf Bahnen der Uebertragung, Unterweisung und Erziehung, die um die letzte Jahrhundertwende Paul Dubois, damals Professor der Neuropathologie an der Universität Bern, gelehrt und in seinem grundlegenden Buch «Les Psychonévroses» als Persuasion und als Traitement moral ausgezeichnet dargestellt hat. Seine Lehre war aber noch stark persönlichkeitsgebunden und auf Intuition abgestellt, während die Psychoanalyse und die ihr folgende moderne

Psychotherapie sich als wissenschaftliche Forschungs- und Behandlungsmethoden gestaltet und ausgebaut haben. Die Wissenschaftlichkeit ist dadurch gewährleistet, daß allgemein nachprüfbare Erkenntnisse und Erfahrungen logisch formuliert und lehr- und lernbar vermittelt werden. Für die Psychotherapie, wie wir sie handhaben, sind es die Lehrsätze von der Charakterdiagnostik aus der Architektur der Symptome, der Kongruenz der Affektphänomene und der Kettenbildung der Symptome, und von der Eidodiathese als Wiederherstellung des Urbildes. Der praktische Arzt lernt davon im klinischen Unterricht soviel, als er für die Praxis braucht, um gerade auch da sein Arzttum heilend einzusetzen, wo die Diagnose «chronisches» oder «unheilbares Leiden» gestellt ist, und der Draufgänger von Heilkundigem die Eingriffe aufgibt, weil er keine Möglichkeit mehr sieht, den früheren gesunden Zustand wiederherzustellen oder auch nur teilweise an eine Besserungsmöglichkeit zu glauben.

Die therapeutische Absicht des Arztes geht zuerst einmal dahin, mit dem chronischen oder unheilbaren Kranken eine Gemeinschaft zu gründen. Er bringt und empfängt, belehrt und lernt, richtet auf und wird aufgerichtet, denn nichts erhebt so sehr wie keimendes Vertrauen und das Bewußtsein stützender Kraft. Des Gewinns seiner Anteilnahme inne geworden, wendet sich der Kranke bald auch suchend und mitfühlend den Geschöpfen seiner näheren und weiteren Umgebung zu und erweitert seine Gefühlswelt und seinen geistigen Gesichtskreis. Da er in der Regel nicht mehr tätig eingreifen und formen kann, findet er seine Befriedigung im gründlicheren Erkennen und Begreifen, im milderen Beurteilen und freundlicheren Bewerten, im Verzeihen und Versöhnen; er erlebt es, daß die Welt des Geistes und der Liebe nicht nur eine jenseitige, sondern auch eine gegenwärtige ist und seine neue diesseitige Stellungnahme schon ein Erleben von Ueberzeitlichem und Ewigem. Ich bin überzeugt, daß der Irrtum, Gott wolle uns mit Krankheit strafen, und wen er liebhabe, den züchtige er, von der Erfahrung herkommt, daß der

Weg zum innersten Selbst und zur Erkenntnis seiner Bestimmung ein Weg ist, der durch das Leid führt.

Aber die psychotherapeutische Schulung, soweit sie sich nur auf Lehrsätze aufbaut, ist der Vorbildung nicht genug. Was es noch mehr braucht, soll uns ein kurzer Abschnitt aus den Mythologien lehren, soweit sie vom Arzt und Heiler handeln. Ich zitiere aus K. Kérenyi, «Der göttliche Arzt»: Chiron 1), der gütigste der Kentauren, wird von Herakles versehentlich mit einem vergifteten Pfeil verwundet. Obwohl selber Gott, trägt er eine unheilbare Wunde und stirbt als ein verwundeter göttlicher Arzt. Er vereinigt mit dem Tierischen das Apollinische, indem er trotz seines Pferdeleibes Kennzeichen zeugender und zerstörender Naturwesen, als welche die Kentauren bekannt sind, Lehrer der Helden (des Machaon, des Asklepios, Achilles) in der Heilkunst und der Musik ist. Chiron lebt in einer Höhle in der dunkeln Hälfte der Welt, in einem Tal, das wegen seiner Heilkräuter berühmt war. Aber trotz der unerschöpflichen Heilungsmöglichkeiten muss seine Welt zugleich eine Welt des ewigen Hinsiechens bleiben. Seine Höhle, ein chthonischer, unterirdischer Kultort, war auch ohne dieses Leiden ein Eingang zur Unterwelt. Der nur halb menschengestaltige, halb theriomorphe Gott trägt seine Wunde ewig, er trägt sie nach der Unterwelt, als wäre die Urwissenschaft, die dieser mythologische Urarzt für die Nachzeit verkörpert, nichts anderes als das Wissen um eine Wunde, an der der Heilende ewig mitleidet 2). In der Dunkelheit des Siechtums heimisch sein und Keime des Lichts und des Lebens hervorzaubern, das ist widerspruchsvoll genug und gehört dennoch zum Genialen in der Medizin.

Auch Asklepios, ein Sohn des Apollon, wird mit der Unterwelt in Beziehung gebracht.

Achilles hat mit vergiftetem Speer den Telephos verwundet, und nur er kann ihn wieder heilen.

Machaon, Sohn des Asklepios, ist der erste Wundarzt. In seiner Gestalt und Geschichte geht es nicht wie sonst in der Mythologie und Symbolik der griechischen Aerztegötter nur um das Lebendige und Belebende, um das lichte und warme Lebensprinzip, das sich aus finstern Hintergründen gleichsam emporwindet, sondern auch um diese Hintergründe selbst, um Tötliches und Mörderisches. In der Ilias erscheint er als Heerführer. Als Krieger und Arzt in einer Person drückt er eine erfahrungsmäßig und logisch zusammenhängende Einheit aus: «Verwunden und Verwundetsein sind jenes Dunkel, das zum Aufleuchten als Heilwerden gehört, das den ärztlichen Beruf erst möglich, ja zu einer der logischen und organischen Notwendigkeiten der menschlichen Existenz macht.»

Die germanische Mythologie kennt keine Arztgötter und Arzthelden, die Heilkunst liegt bei Frigga, der Gattin Wotans und bei ihrer Tochter Eir, welche Aerztin der Assen ist. Man denkt an Hartmann von Aue, der seinen aussätzigen armen Heinrich von einer reinen Jungfrau heilen läßt. Es sei auch an Parcival erinnert, der als geplagter und mühseliger Fremdling von Ort zu Ort ziehen muß um zum Gralsretter zu werden und Amphortas mit dem Speer zu heilen, mit dem er vordem verwundet worden war. Hier ist das Werkzeug Zerstörer und Heiler zugleich.

Diese Beispiele belegen die Tatsachen, das der Helfer und Heiler auch verwunden, zerstören und töten kann. Das gilt nicht nur vom Namensbruder Chirons, dem Chirurgen — es gilt im übertragenen Sinne auch für den Arzt, der Spiegel vorhalten, Selbstillusionen, Scheinlösungen, entwicklungswidrige Bindungen zerstören und so wehtun muß, es gilt vom ernst waltenden Lebensgesetz, daß Werden, Kommen und Segnen ein Sterben und Nehmen ist. Nur von der unheiligen Gestalt, die alles und jedes leicht machen will und allen Schmerz verbannen, wo seine Bewältigung durch den Mut und die

Geisteskraft doch ein Gradmesser ist für die Hingabe und Liebe, gilt es nicht.

Der Arzt war selber verwundet, wanderte im Dunkel als ein Mühseliger und Leidender. Gleichnishaft stellt sich die Forderung, Nichts Menschliches sei ihm fremd. Ja, er muß, um mit Dostojewski zu reden, auch einem Verbrecher Bruder und einer Dirne Schwester sagen können, — nicht um sich mit ihnen zu vergesellschaften, sondern um: sich ihnen mit allem tröstlichen, aufrichtenden Mitgefühl zu nähern und sie fühlen zu lassen, daß sie nicht verloren sind, wenn sie zurückfinden wollen.

Der Arzt hat den Blick ins Schattenreich getan, wohnt in dessen Nähe und lebt sogar dort. Weil das gesagt ist in einer Zeit vor Pythagoras und den Orphikern, als der Hades noch keine Hölle war, sondern nur Schattenreich und für den meeregewohnten Griechen heimatlich 4 große Ströme hatte, jenseits und ewig, wollen der Blick und der Gang dort hinein wohl nichts anderes heissen, als daß der Arzt auch im Reich des übergeordneten Geistes beheimatet sein soll, in der Weisheit, die nicht mit dem Wissen identisch ist, sondern mit der Ehrfurcht vor dem, was wir nicht wissen.

Der Arzt ist ein Sohn des Lichts, und seine Gabe ist verwandt der Musik. Wir wissen in der Tat, wie wichtig schon der Wohlklang seiner Stimme sein kann, und noch mehr, wie schon sein Erscheinen zu entheben und in eine Welt hineinzuführen vermag, wo Schweben ist und Weite und klammernde Sorgen und Schmerzen vergessen. Der Arzt weiss übrigens von seiner Nähe zur Musik und von seiner gemeinschaftbildenden Kraft, die seine Berufung ist.

Das heilende Prinzip ist weiblich. Andern Orts war es die Obhut und Hege des heiligen Feuers. Bedeutet das nicht, der Arzt sei auch Erzieher, denn das ist zu alleroberst die Frau, Erzieherin aller, denen sie sich zuwendet. Ich denke an eine meiner Examensfragen: Was ist eine Dame? Eine weibliche Person, gleichgültig welchen Alters und Standes, die nur schon allein durch ihr Auftreten auf jeden

Mann von Intelligenz und Gediegenheit eine erzieherische Wirkung ausübt, so daß er sich anstrengt, intelligenter und gediegener zu erscheinen, als er schon ist.

Das alles ist der Arzt: Ein Wissenschafter, ein Krieger, ein Erbarmer, ein Erzieher, ein Priester und ein Künstler. Sein höchstes ärztliches Wirken und Können setzt da ein, wo die Heilbarkeit der Krankheit aufhört.