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Karl Culmann und die graphische Statik

Rektoratsrede, gehalten am 18. November 1950 von
Prof. Dr. FRITZ STÜSSI,

Rektor der ETH, Zürich

SCHWEIZERISCHE BAUZEITUNG
Sonderdruck aus 69. Jahrgang, Nr. 1, 6. Januar 1951
Druck Jean Frey A.-G., Zürich

Karl Culmann und die graphische Statik Rektoratsrede, gehalten am 18. Nov. 1950 von Prof. Dr. FRITZ STÜSSI, Rektor der ETH, Zürich 1.

In seiner «Geschichte der Gründung des Eidg. Polytechnikums» 1) schreibt Wilhelm Oechsli: «Von hervorragendem Glücke waren die Bemühungen des Schulrates in betreff der zweiten Abteilung, der Ingenieurschule, gekrönt. Vermutlich durch den berühmten Eisenbahntechniker Etzel, der damals den Bau der Schweizerischen Zentralbahn leitete, wurde Kern, der ihn um Vorschläge anging, auf Eisenbahndirektor Scheffler in Braunschweig und auf den bayrischen Ingenieur Culmann hingewiesen. Scheffler lehnte eine Berufung ab; dagegen gelang es Kern, durch rasches Handeln Culmann zu einer Zusage zu bewegen und diesen genialen Kopf Karlsruhe vorweg zu nehmen, das ihn ebenfalls zu gewinnen trachtete.

Karl Culmann wurde am 10. Juli 1821 zu Bergzabern in der Rheinpfalz, wo sein Vater Pfarrer war, geboren. Nachdem er den ersten Unterricht im Elternhause genossen, dann ein Jahr lang das Collège in Weissenburg besucht, wurde er wegen seiner besonderen Anlagen für Mathematik 1837 nach Metz, wo sein Onkel als Professor an der Artillerieschule wirkte, geschickt, um sich zum Eintritt in die Pariser Ecole Polytechnique vorzubereiten. Der in Metz grassierende Typhus warf ihn jedoch alsbald aufs Krankenlager, und er brauchte mehr als ein Jahr, um sich zu erholen. «Meine Eltern», sagt Culmann in seinen für den Schulrat bestimmten biographischen Notizen, «sahen hierin einen Fingerzeig Gottes, dass ich nicht für Frankreich, sondern für Deutschland bestimmt sei, und es

wurde beschlossen, mich nun auf die polytechnische Schule zu Karlsruhe zu schicken.» Nach Vollendung seiner Studien in Karlsruhe trat er im August 1841 in den bayrischen Staatsdienst und machte bis 1847 bei der an Kunstbauten reichen Strecke durch das Fichtelgebirge alle beim Eisenbahnbau vorkommenden Arbeiten durch, während er zugleich jede freie Stunde zu seiner mathematischen Weiterbildung benutzte. 1848 erwirkte er seine Versetzung in die Bureaux der königlichen Eisenbahnkommission in München, um sich für den längst gehegten Plan einer Studienreise nach England und Amerika vorbereiten zu können. Im Sommer 1849 trat er seine zweijährige Fahrt an, die ihn im britischen Inselreich bis Newcastle und Dublin, in den Vereinigten Staaten bis New Orleans und an den Fuss des Felsengebirges führte. Sein in «Försters Bauzeitung» veröffentlichter Reisebericht «Darstellung der neuesten Fortschritte im Brücken-, Eisenbahn- und Flussdampfschiffbau in England und den Vereinigten Staaten Nordamerikas» lenkte durch den aussergewöhnlichen Scharfsinn und die Neuheit seiner Ausführungen, die schon den künftigen Schöpfer der graphischen Statik ahnen liessen, die Aufmerksamkeit der Fachleute auf den jungen Ingenieur. «Ich bilde mir ein», schrieb Culmann an den Schulrat, «in demselben zuerst klar nachgewiesen zu haben, wie die verschiedenen Kräfte in den zusammengesetzten Brücken wirken und wie dementsprechend deren Dimensionen berechnet werden müssen.» Nach seiner Rückkehr nach Bayern wurde er 1851 Sektionsingenieur in Burgau und 1852 in Vilshofen an der Donau. Hier traf ihn der Ruf nach Zürich, dem er Folge leistete, weil er von jeher gesucht habe, die Theorie der Praxis anzupassen: «Dieses Streben kann ich gewiss nicht besser als zu Zürich lehrend befriedigen.»

Dieser biographischen Notiz Wilhelm Oechslis ist als abschliessende Ergänzung der Schlussatz aus Ludwig von Tetmajers Würdigungsrede 2) in der Naturforschenden Gesellschaft Zürich gegenüber zu stellen:

«Am 9. Dezember 1881, abends 5 Uhr, erlag der geniale Schöpfer der graphischen Statik einer, auf dem Wege nach Konstantinopel, wahrscheinlich zu Varna aufgegriffenen Lungeninfektion. Unter allgemeiner Teilnahme, geleitet von Tausenden seiner von nah und fern herbeigeeilten Freunde und Schüler, sind die sterblichen Ueberreste am 12. Dezember der Mutter-Erde zurückgegeben worden. Ehre seinem Andenken.»

Der Reisebericht Culmanns 3), der die Ursache seiner Berufung an das zu gründende Eidgenössische Polytechnikum werden sollte, ist das Ergebnis einer Studienreise durch England, Irland und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die er in den Jahren 1849 und 1850 im Auftrage der bayrischen Regierung durchführen konnte. Die Zeit seiner Reise fällt zusammen mit der Vollendung der ersten schweisseisernen Brücke, der von Robert Stephenson in England erbauten Britanniabrücke für die Eisenbahn von Bangor nach Holyhead und aber auch mit dem Abschluss einer bestimmten Entwicklungsetappe des Holzbrückenbaues in Amerika, der die Brückensysteme von Long, Town und Howe zu verdanken sind.

Etwa 25 Jahre vorher hatte der Franzose Louis Navier eine eigentliche Baustatik geschaffen, in der er die Gesetze der theoretischen Mechanik und die Ergebnisse der Materialprüfung auf die Berechnung und Bemessung von Bauwerken anzuwenden lehrte. Der Umfang seiner Berechnungsmethoden genügte dem Bauwesen seiner Zeit. Mit der Einführung neuer Bauformen, vor allem der im amerikanischen Holzbrückenbau entwickelten Fachwerkträger und durch die gesteigerten Anforderungen, die das kräftig aufkommende Eisenbahnwesen an den Brückenbau stellte, wurde die Erweiterung der Methoden Naviers zur zwingenden Notwendigkeit. Dies hat der junge Culmann offenbar klar erkannt und diese Erkenntnis war wohl die Triebfeder seiner Studienreise.

Culmanns Reisebericht enthält in seinem ersten Teil eine Beschreibung der bemerkenswertesten Brückenbauten, die er auf seiner Reise besichtigt hat; das Hauptgewicht liegt jedoch unzweifelhaft auf dem zweiten Teil, in dem er die rechnerischen Regeln aufstellt, mit denen die Kräfte in den neuen Brückensystemen berechnet werden können und die damit erst eine Beurteilung der Sicherheit solcher Tragwerke erlauben. In einem weiteren Teil wendet er seine neuen Regeln zur kritischen Untersuchung und Bewertung der besichtigten und beschriebenen Bauwerke an. Die Culmann'sche Fachwerktheorie, die hier noch eindeutig und im Gegensatz zu einer späteren graphischen Statik eine rechnerisch anzuwendende Theorie ist, bildet in ihren Grundzügen und grundlegenden Voraussetzungen die Grundlage unserer heutigen Fachwerkberechnung. Vor allem aber hat diese Leistung Culmanns die

Grundlage für die bedeutende bauliche Entwicklung des Fachwerkträgers mit einfacher Gliederung im Dreiecknetz geschaffen.

Culmann war allerdings nicht der einzige, der jenes aktuelle Bedürfnis nach einer zutreffenden Fachwerktheorie spürte und die vorhandene Lücke der baustatischen Lehre seiner Zeit auszufüllen suchte: im gleichen Jahre 1851, in dem sein Reisebericht erschien, veröffentlichte F. W. Schwedler 4) eine analoge Untersuchung mit grundsätzlich gleichen Ergebnissen. Wenn später die Culmann'sche Arbeit als die bedeutendere angesehen wurde, so ist dies wohl eher auf das grosse Ansehen zurückzuführen, das er sich mit seinen späteren Leistungen erwarb, als auf eine Ueberlegenheit seines Reiseberichtes gegenüber der Schwedler'schen Theorie. Nun hat kürzlich S. Timoshenko 5) nachgewiesen, dass Fachwerke schon vor Schwedler und Culmann zutreffend berechnet wurden, nämlich in Russland von D. J. Jourawski und, noch vor diesem, in Amerika von S. Whipple, der schon 1847 ein Buch «An Essay on Bridge Building» mit solchen Fachwerkberechnungen veröffentlicht hatte. Es ist immerhin erstaunlich, dass Culmann, nach seinem Reisebericht zu schliessen, dieses Buch nicht gekannt hat. Vermutlich hat er sich, wie wir auch aus andern Nichterwähnungen früherer Arbeiten bei Culmann schliessen können, nicht stark um solche frühere Berechnungen gekümmert, weil er sich stark genug fühlte, diese Untersuchungen allein und unabhängig durchzuführen.

Die annähernd gleichzeitige Aufstellung einer Fachwerktheorie durch vier verschiedene Ingenieure, deren gegenseitige Unabhängigkeit kaum anzuzweifeln ist, hat ihren Grund wohl nicht nur in einem starken Bedürfnis des Bauwesens jener Zeit nach einer solchen Berechnungsmethode, sondern wohl eher darin, dass die Elemente einer solchen Untersuchung schon vorhanden und somit nur noch in geeigneter Form anzuwenden und auszubauen waren.

3.

Im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit am jungen Eidg. Polytechnikum, zu der ihm sein Reisebericht den Weg geöffnet hatte, hat nun Karl Culmann sein eigentliches grosses und unvergängliches Werk geschaffen, das unbestreitbar seine

eigene und persönliche Leistung ist: seine «Graphische Statik».

Culmann selber hat seine Graphische Statik als einen Versuch aufgefasst 6) — einen voll und ganz gelungenen Versuch, wie wir rückblickend behaupten dürfen — «die einer geometrischen Behandlung zugänglichen Aufgaben aus dem Gebiete des Ingenieurfachs mit Hülfe der neueren Geometrie zu lösen.»

Sie entstand, nach seinen eigenen Worten, daraus, dass bei der graphischen Behandlung einiger Aufgaben aus dem Baufach gewisse allgemeine geometrische Begriffe und Konstruktionen regelmässig wiederkehrten und untereinander in gewissen Zusammenhängen standen, so dass sie als allgemeine Grundlage des graphischen Rechnens aufgefasst werden durften.

Wohl hatten sich schon vor Culmann namentlich französische Ingenieure wie Poncelet und Cousinery mit dem graphischen Rechnen beschäftigt, aber bei diesen handelte es sich nur darum, bestimmte Rechenoperationen durch zeichnerische Konstruktionen zu ersetzen oder vorher abgeleitete rechnerische Formeln in die Sprache der Zeichnung zu übersetzen.

Das Ziel Culmanns war ein umfassenderes: er wollte direkt die in der Statik vorkommenden Zusammenhänge zwischen den an den verschiedenen Tragwerken wirkenden Kräften geometrisch erfassen und damit direkt auch die sich hier stellenden Berechnungsaufgaben durch Zeichnung lösen. Die Anwendung der neueren Geometrie, der Geometrie der Lage, lieferte ihm aus geometrischen Sätzen wichtige statische Zusammenhänge und führte ihn auf übersichtliche und anschauliche Methoden in der zeichnerischen Sprache des Ingenieurs. Damit hat Culmann den Ingenieurwissenschaften ein neues und leistungsfähiges Werkzeug geschenkt, das auch in Zukunft zum grundlegenden Rüstzeug der Bautechnik gehören wird.

Eines der Kernstücke dieser neuen graphischen Statik ist unzweifelhaft das Kräfte- und Seilpolygon. Vor Culmann hatte man diese Konstruktion verwendet, um die Resultierende einer ebenen Kräftegruppe zu finden oder um die Form eines belasteten Seiles darzustellen. Culmann hat aus der projektivischen Verwandtschaft dieser beiden zusammengehörigen Figuren, aus ihren collinearen und reziproken Beziehungen neue Möglichkeiten zur Lösung statischer Aufgaben abgeleitet. Den entscheidenden Schritt, den Culmann hier geleistet hat, sehe ich darin, dass er dem Kräfte- und Seilpolygon die «Culmann'sche

Schlusslinie» beigefügt hat. Dadurch konnte damit nicht nur die Resultierende der äusseren Belastung eines Balkens bestimmt werden, sondern aus der gleichen Konstruktion, lediglich durch die Schlusslinie ergänzt, ergaben sich zwanglos auch die Auflagerkräfte und die inneren Schnittkräfte, wie Längs- und Querkräfte aus dem Kräftepolygon, die statischen Momente aber aus dem Seilpolygon. Sobald wir aber wissen, dass die statischen Momente zur Belastung in einer Differentialbeziehung zweiter Ordnung stehen, wird nun das Seilpolygon zu einer Art «Integrationsmaschine», die uns auf einfachste Weise und in aller Strenge die zweimalige Integration der Belastungsfunktion erlaubt.

Culmann selbst hat seine neuen graphischen Konstruktionen zur Lösung der verschiedensten Aufgaben der Baustatik ausgebaut; er hat nicht nur vollwandige und fachwerkförmige Balken, sondern auch Gewölbe und Stützmauern untersucht. Dabei ist er allerdings gelegentlich auch an Grenzen der Anwendungsmöglichkeiten der graphischen Methoden gelangt, wie etwa beim kontinuierlichen Balken; er hat aber nicht gezögert, hier rechnerische Methoden einzusetzen.

Was ihm aber als Ziel vorschwebte, hat er im Schlussatz der Vorrede zur 1. Auflage der «Graphischen Statik» ausgedrückt: «Und nun fahre hin, gern hätte ich dich zum Fundament einer auf wissenschaftlicherer Basis gegründeten Ingenieurkunde gemacht, allein kaum darf ich die Hoffnung hegen, so viel Kraft in mir zu finden, um das Ganze dieses umfangreichen Faches umzuarbeiten; das ist ein Werk, das mir vor Augen schwebt, wie einer jener alten mittelalterlichen Dome sich vor dem Künstler erhob, der ihn entwarf und der der Hoffnung sich nicht hingeben konnte, um je in seiner Vollendung zu schauen. Doch es mögen dich Andere benutzen und weiter bauen, und was ich nicht kann, werden meine Schüler vollbringen.»

4.

Der befruchtende Einfluss der «Graphischen Statik» auf die Entwicklung des Ingenieurbauwesens in praktischer und in theoretischer Richtung kann nicht leicht überschätzt werden.

So entnehmen wir der schon erwähnten Würdigungsansprache Tetmajers 2) die Feststellung: «Die grossartigen Brückenbögen, welche seit 1876 in der Schweiz ausgeführt wurden, sind sämtlich nach Culmanns Theorie berechnet und haben Brückenbau-Etablissements wie Holzmann und Benkieser in Frankfurt, Eiffel in Paris u. A. eigene Kräfte zugezogen,

um die Resultate der Culmann'schen Forschungen in ihren Constructionsbureaux nutzbar zu machen.»

Eines der bemerkenswertesten Bauwerke der unmittelbaren Culmann'schen Schule dürfte der Eiffelturm in Paris sein, der auf die Weltausstellung 1889 hin erstellt wurde und für den die Entwurfs- und Berechnungsarbeiten vom Culmann-Schüler Maurice Koechlin geleitet wurden 7). Die Berechnungen zu diesem für seine Zeit unerhört kühnen Bauwerk, das übrigens in einem von der Erstellerfirma vor 50 Jahren herausgegebenen monumentalen Prachtswerk bis in alle Einzelheiten beschrieben ist 8), sind klassische Anwendungen der Culmann'schen Graphischen Statik. Maurice Koechlin hat auch durch ein Lehrbuch 9) der Verbreitung der Culmann'schen Lehre wertvolle Dienste geleistet.

Noch bedeutungsvoller als diese direkten praktischen Auswirkungen der graphischen Statik erscheinen jedoch ihre Einflüsse auf die Entwicklung der Baustatik. Culmann selber hat 1875 die allgemeinen Grundlagen seiner Lehre noch in einer zweiten Auflage 10) in stark erweiterter Form herausgegeben; den beabsichtigten zweiten Band, der die Anwendungen enthalten sollte, zu vollenden, war ihm nicht mehr vergönnt. Sein direktes Erbe hat sein Schüler und Nachfolger Wilhelm Ritter, der zweite Brückenbauprofessor unserer Hochschule, übernommen. In seinem vierbändigen Werk «Anwendungen der graphischen Statik» 11) hat er die Culmann'sche Lehre ausgebaut und weiter entwickelt und so mitgeholfen, dass unsere Hochschule am Ende ihres ersten Halbjahrhunderts eine vorbildliche und festgefügte Tradition in baustatischer Lehre und Forschung besass.

Noch vor dem Erscheinen der zweiten Auflage des Culmann'schen Werkes erschien in Italien eine Schrift des italienischen Mathematikers Luigi Cremona, von dem übrigens auch ein Lehrbuch der projektiven Geometrie bekannt ist, über die sogenannten «reziproken Kräftepläne» 12). Diese Kräftepläne

oder Cremonapläne zur Bestimmung der Stabkräfte in Fachwerken waren so recht nach dem Vorbild und im Geist des Schöpfers der graphischen Statik konzipiert. Culmann selber äussert sich im Vorwort der zweiten Auflage darüber direkt begeistert, wenn er über die Fortschritte der graphischen Statik seit dem Erscheinen der ersten Auflage schreibt:

«Unstreitig fand sie in Italien den günstigsten Boden. Dort hat sie Cremona am Mailänder Polytechnikum eingeführt, und zwar in einer hohen Auffassung; er betrachtete sie nicht bloss als praktisches Hülfsmittel, um in gewissen Fällen einige Rechnungen zu ersparen, sondern als den Abschluss der geometrisch-statischen Bildung der jungen Ingenieure.»

In einem kurzen Vergleich zwischen den reziproken Figuren Maxwells 13) und denjenigen Cremonas schreibt er ferner: «Und diese Einführung des Nullsystems ist das Werk Cremonas, nicht Maxwells, ebenso rühren alle Anwendungen von Cremona her, der es wohl am besten wissen wird, welches Stück verdienstvoller Arbeit zwischen jenem Aufsatz Maxwells und seinen reziproken Figuren steckt. Weiter als wie irgendwo anders klafft noch die Kluft zwischen dem englischen Gelehrten und Praktiker.»

Mit der Verbreitung seiner Methoden in Frankreich scheint Culmann ebenfalls zufrieden zu sein, denn er erwähnt das Lehrbuch von M. Lévy 14) durchaus anerkennend. Dagegen äussert er sich über die entsprechenden Bemühungen in Deutschland ablehnend, ja polemisch-unfreundlich. Die Sätze, die er hierüber schreibt, scheinen mir für Culmanns Denkweise und für seine temperamentvolle Art des Auftretens recht charakteristisch zu sein; ich zitiere sie deshalb als Beispiel:

«Mit Begierde hat man sich auf die einzelnen Konstruktionen geworfen, welche mit Linien leichter als mit Zahlen einzelne Bauaufgaben lösen, allein gegen das Wesen derselben: die Körper, an welchen Kräfte im Gleichgewicht sind, und die Liniengebilde, welche die Richtungen und Grössen dieser Kräfte darstellen, als geometrische zusammengehörige Gebilde aufzufassen und auf diese die Geometrie der Lage anzuwenden, in der ja die Beziehungen so verwandter Gebilde auf das vollkommenste ausgearbeitet, fix und fertig vorliegen, gegen diese Auffassung hat man sich durchaus ablehnend verhalten.»

Unter den Fehlbaren, gegen die der Zorn Culmanns sich hier richtet, weil sie sich gegen seine Gesamtkonzeption der graphischen Statik vergangen hatten, befindet sich, ohne dass Culmann übrigens seinen Namen nennt, auch Professor Bauschinger in München. Dieser hatte 1871 ein Lehrbuch über Elemente der graphischen Statik 15) veröffentlicht, das sich, nach seiner eigenen Aussage, fast ausschliesslich auf das «Epoche machende Culmann'sche Werk» stützte. Bauschinger schreibt im Vorwort zu seinem Buche die seiner Ansicht nach zu geringe Verbreitung der graphischen Statik dem Umstande zu, «dass es an einem eigentlichen, systematisch durchgearbeiteten Lehrbuch für diese neue Wissenschaft» fehle, um dann fortzufahren: «Vielleicht kann zu dieser weiteren Verbreitung auch die Eigenschaft meines Buches mit beitragen, dass zu seinem Verständnis die Kenntnis der sog. neueren Geometrie nicht erforderlich ist. Ich hatte es bei der Bearbeitung nicht darauf abgesehen, es hat sich von selbst so gemacht.»

Trotz dem sich hier zeigenden Unterschied in der grundsätzlichen Konzeption der graphischen Statik hat gerade Deutschland eine der schönsten Anwendungen dieser Lehre hervorgebracht, nämlich die elegante und fruchtbare Deutung, die Otto Mohr der elastischen Linie gegeben hat, die dann ihrerseits mit dem Verfahren von Engesser-Viganello zu einer leistungsfähigen numerischen Untersuchung des Knickproblems führte.

Zusammenfassend dürfen wir feststellen, dass wohl selten im Gebiete der Bauingenieurwissenschaften ein einziges Werk so grosse direkte Auswirkungen auf die Entwicklung eines theoretischen Wissenszweiges verursacht hat wie gerade die graphische Statik von Culmann. So zählt eine französische Uebersetzung der schon erwähnten Abhandlung von Cremona 12) allein für den Zeitraum von 1872 bis 1885, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, über 30 Bücher und Abhandlungen auf, die alle mehr oder weniger direkt auf Culmanns Leistung zurückgehen.

Noch zu meiner Studienzeit trug das damals führende baustatische Lehrbuch, dasjenige von Heinrich Müller-Breslau, trotzdem es analytische Verfahren ebenso pflegte wie die graphischen, den für den dominierenden Einfluss Culmanns charakteristischen Titel: «Graphische Statik der Baukonstruktionen.»

Es ist verständlich, dass die kraftvolle Persönlichkeit Culmanns auch seine Schüler stark beeindruckte. Recht hübsch ist in dieser Beziehung die Charakteristik, die ein «Ehemaliger» in der G. E. P.-Festschrift 1894 16) gibt:

«Von Culmann sprachen selbst diejenigen seiner Schüler, die ihn nicht verstanden, mit Begeisterung. Der unerschöpfliche Ideenreichtum, die originelle Ausdrucksweise, das überstürzende Temperament erhielten den Zuhörer in beständiger Aufregung. Dabei fehlte es nicht an komischen Momenten; so, wenn er die Belastung einer Brücke durch den Rauch einer Lokomotive andeutete oder wenn er, um den unendlich fernen Punkt einer Geraden zu bezeichnen, die Kreide an die Decke des Hörsaales warf.»

Auch die Einflüsse Culmanns auf die Studienplangestaltung unserer Hochschule sind heute noch unverkennbar. Culmann hatte es durchgesetzt, mit «unsäglicher Mühe», wie er sich ausdrückt, dass 1864 die Geometrie der Lage als obligatorisches Fach erklärt wurde. Der grosse Wert, den wir auch heute noch einer gründlichen geometrischen Ausbildung unserer Studierenden beimessen, geht sicher, mindestens teilweise, auf diesen Einfluss zurück.

Merkwürdigerweise bekennt sich Culmann zu dieser Zeit noch zum Grundsatz der akademischen Studienfreiheit, die «allein dem Unterricht an einer höheren Lehranstalt würdig» sei, immerhin mit der Einschränkung, dass in den unteren Kursen systematisch geschult werden müsse.

Knapp ein Jahrzehnt später tritt er, offenbar auf Grund seiner eigenen Lehrerfahrungen, mit kräftigen Worten gegen diese Studienfreiheit auf, wenn er im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Statik unter Anspielung auf Studienverhältnisse in Deutschland schreibt: «In zahlreichen grösseren und kleineren Abhandlungen wird jetzt die Statik ihres Geistes entkleidet, und so verdaulicher gemacht für junge Techniker, die ungenügend vorbereitet für das Studium der Ingenieurwissenschaften, dank der Studienfreiheit, die jetzt Mode ist, frisch in den obersten Kurs eintreten; und mit ungeheurem Selbstbewusstsein, das die Herren Professoren noch begünstigen, welche möglichst populär vortragen wollen, hoffen: sie werden sich schon durcharbeiten.»

Wir stehen heute auf dem Standpunkt, dass der rationellste Weg zum erfolgreichen Studium der technischen Wissenschaften auf einem Normalstudienplan beruht, der eine möglichst sorgfältige und gründliche Vermittlung der wissenschaftlichen Grundlagen in möglichst breitem Rahmen zu verwirklichen sucht.

Karl Culmann hat durch seine Lehre und seine Forschung nicht nur dazu wesentlich beigetragen, dass das Ansehen der jungen Eidgenössischen Polytechnischen Schule rasch sich mehren konnte, er hat nicht nur durch seine Erfahrungen und sein Ansehen wertvolle Grundsätze zu unserer Studienplangestaltung beigesteuert, sondern er hat auch vor allem in seinem eigentlichen Fachgebiet die Entwicklung der praktischen Anwendungen im Brückenbau in hervorragender Weise befruchtet und eine unzerstörbare baustatische Tradition in der Ausbildung unserer Bauingenieure begründet.

Diese Tradition ist durch seine Nachfolger Wilhelm Ritter, Emil Mörsch, Arthur Rohn, Leopold Karner und Max Ritter gefestigt, weiterentwickelt und ausgebaut worden.

Das Erbe Karl Culmanns zu pflegen und zu mehren, ist für uns Jüngere eine im Geist unserer Hochschule verankerte und unabdingbare Verpflichtung. Die Lehre Karl Culmanns ist nicht nur auch heute noch lebensfähig, sie ist auch entwicklungsfähig. Wohl haben wir heute erkannt, dass nicht die ganze Baustatik durch graphische Methoden beherrscht werden kann; diese sind durch analytische oder rechnerische Verfahren zu ergänzen und zu erweitern. Aber in diesem ganzen Rahmen gesehen sind auch die graphischen Methoden Culmanns nichts Starres und Unabänderliches. Sie können, sinngemäss angewandt, lebendig und auf neue Aufgaben anwendbar bleiben. Die Kraft ihrer Anschaulichkeit kann in vielen Fällen noch gesteigert werden, wenn wir die ursprüngliche, rein geometrische Konzeption Culmanns durch eine direkte statische Auffassung und Begründung erweitern, und ihr Anwendungsbereich kann wesentlich erweitert werden, wenn wir seine zeichnerischen Konstruktionen für besondere Anwendungsformen in die Sprache der Rechnung übersetzen.

Die Methoden der Baustatik so auszubauen, dass sie immer vollkommenere Bauwerke zu gestalten erlauben, ist Dienst am Erbe Karl Culmanns.