Freiheit und Sicherheit
im Recht
von
Professor Dr. W. F. Bürgi
Rektor der Handels-Hochschule St. Gallen
Festrede
gehalten an der
akademischen Feier der Handels-Hochschule St. Gallen
anläßlich der Rektoratsübernahme
am Hochschultag,
19. Mai 1951
Überreicht vom St. Galler Hochschul-Verein
FREIHEIT UND SICHERHEIT IM RECHT
Hochverehrte Festversammlung,Nur selten im Laufe der Geschichte ist die Freiheit mit Worten so
gefeiert worden wie heute, aber ebenso selten war sie von der Wirklichkeit
so bedroht wie in unserer Epoche, wo Gesinnungsdelikte und Konzentrationslager
an der Tagesordnung sind.
Niemals früher war das Sicherheitsstreben so übermächtig wie in der
Gegenwart, aber niemals war auch die Unsicherheit des menschlichen
Daseins eine so große wie im sogenannten Atomzeitalter.
Sicherheit und Freiheit sind in gewissem Sinne entgegengesetzte Kräfte;
daß sie beide gleichzeitig so bedroht erscheinen, deutet darauf hin, daß
offenbar wesentlichste Strukturelemente des Gesellschaftsaufbaues ins
Wanken geraten sind. Da ist es sicher nicht nur zweckmäßig, sondern
nötig, den Ursachen für diese Erschütterung auch innerhalb der Rechtsordnung
nachzuforschen.
Die Rechtsordnung ist nun allerdings nicht Ausdruck überall gleicher,
objektiver Normen, sondern ihr Inhalt ist wandelbar, bedingt durch die
jeweils geltenden Überzeugungen. Diese werden im Gesetz fixiert und
erhalten erst dadurch den Charakter der verbindlichen Regel. So gestalten
außerrechtliche, insbesondere ethische, teilweise auch utilitaristische
Auffassungen das einer Epoche konforme Recht.
Nun wäre es aber falsch, dem Recht deswegen eine selbständige Bedeutung
für die Gestaltung oder Erhaltung der Rechtsnormen abzusprechen,
denn jede einmal zum positiven Gesetz gewordene Norm wird
damit auch verselbständigt und zu einem Eigenleben berufen. Jedes
Gesetz aber zeichnet sich durch ein starkes Beharrungsvermögen aus, es
folgt plötzlichen, oft vorübergehenden Veränderungen der bisher geltenden
Überzeugung nur langsam. Als traditionsgebundenes Kulturelement
par excellence trägt es deshalb immer auch die Vergangenheit
in die Gegenwart weiter — so erben sich Gesetz und Rechte nicht nur als
Plage, sondern viel häufiger als weiterwirkende Geschichte fort und
bewahren die Kontinuität von Kultur und ethischen Idealen. Die neueste
Zeit hat uns dies besonders deutlich vor Augen geführt, da das «tausendjährige
Reich» in den zwölf Jahren seines Bestehens nicht Zeit fand, um
das verhaßte bürgerliche Gesetzbuch außer Kraft zu setzen.
Das Wissen um den engen Zusammenhang, ja die grundsätzliche Abhängigkeit
der im positiven Gesetz verankerten Grundsätze von der
herrschenden Überzeugung über Rechtlichkeit, ist es, welche auch dem
Juristen gestattet, ja von ihm verlangt, daß er sich bei Ausgestaltung
und Würdigung des positiven Gesetzes immer wieder Rechenschaft über
die Ideen und Bestrebungen gibt, welche das bisherige Recht bestimmt
haben und seine ständige Um- und Ausgestaltung in der Gegenwart
mitbedingen und so den besonderen Charakter einer Epoche zum Ausdruck
bringen.
Vom frühen Mittelalter bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts
wurde das Recht von Überzeugungen bestimmt, welche in der Transzendenz
der christlichen Lehre wurzelten und gerade deshalb als Gebote
oder Verbote ein absolutes Richtmaß für die Ausgestaltung von Gesetzen
darstellten. Die weltliche sollte der göttlichen Ordnung, die
civitas terrena der civitas dei entsprechen. Damit hängt es zusammen,
daß der Maßstab von Gut und Böse in jener Zeit fest verankert, fast
unwandelbar und gesichert erschien.
Mit der Französischen Revolution begann auch im Recht ein neues Zeitalter,
das zwar vieles —mehr als ihm damals bewußt war — aus der Vergangenheit
übernahm, aber trotzdem neue finale und nicht mehr
transzendentale Richtlinien aufstellte, Ideale, welche die mündiger
gewordenen Massen erfüllten und ihnen neue, befreitere Lebensformen
versprachen. Stärker als die damals verwirklichte Gleichheit aller vor
dem Gesetz, viel wirksamer als die nicht durch Dekret zu schaffende
soziale Gesinnungsmaxime der Brüderlichkeit, wirkte das Freiheitsideal.
Die rechtlich-politische Gleichheit nämlich wurde rasch erreicht
und ihre Ausdehnung auf wirtschaftliche Gebiete damals noch kaum
erwogen; die Brüderlichkeit aber wurde schon in der Zeit der Schreckensherrschaft
ebenso schnell in den Hintergrund gedrängt, wie das ausgerechnet
von Robespierre wenige Jahre vorher verkündete Postulat
auf Abschaffung der Todesstrafe! Viel stärker und nachhaltiger als
diese beiden Prinzipien wirkte der Ruf nach Freiheit; er löste eine fast
magisch anmutende allgemeine Begeisterung aus und liegt beinahe
jeder rechtlichen und wirtschaftlichen Neugestaltung des folgenden
Jahrhunderts zu Grunde. Das Freiheitsideal war es, welches die fast
unvorstellbare Entwicklung des 19. Jahrhunderts verwirklichte und das
Ideal der politischen Demokratie ermöglichte. Gleichzeitig vernichtete
es die alten Gesellschaftsformen, den Stände- und Zunftstaat und die
absolute Monarchie. Seine Verwirklichung bedingte auch die ungeheure
Vermehrung der Produktion und der Bevölkerung, in Verbindung damit
aber auch die Entstehung des modernen Proletariates. Der Grundsatz
«Dem Tüchtigen freie Bahn» führte zu einer neuen wirtschaftlich bedingten
Klassenspaltung und einer zeitweise fast zur Anarchie strebenden
Atomisierung der Gesellschaft. Heute wissen wir, daß die freie Konkurrenz
zu so zwiespältigen Ergebnissen führen mußte, aber am Anfang
des letzten Jahrhunderts sah man nur ihre positive Seite, ihre Übereinstimmung
mit dem individualistischen Freiheitsdrang.
Jede menschliche Gesellschaft besteht nun aber aus Individuen, die in
Gemeinschaften leben und sich durch den Verkehr mit der Umwelt selbst
entfalten; denn individuelle und kollektive Kräfte sind die beiden
Strukturelemente jeder menschlichen Gesellschaft. Deshalb können wir
mit Jellinek sagen, daß es sich bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung
immer nur darum handeln könne, «die richtigen Grenzen zwischen dem
Ich und der Gesamtheit zu erkennen».
Seitdem das Recht nicht mehr durch das unabänderliche Gesetz der
Transzendenz bestimmt ist, wird es immer mehr von Maximen beherrscht,
deren diesseitige Wurzeln entweder unmittelbar im individualistischen
oder im kollektiven Streben ruhen; das erste entspricht dem
Ideal der Freiheit, das andere dem Wunsche nach Sicherung; beide
Prinzipien sind offenbar Grundanlagen der menschlichen Natur. Die Geschichte
aber lehrt uns, daß die Überbetonung des einen Prinzipes
immer eine spätere Reaktion, einen Ausschlag des Pendels nach dem
Gegenpol bewirkt, denn beide Prinzipien sind gleichermaßen angeborene
Urtriebe, die keine Unterdrückung vertragen.
Das Freiheitsprinzip bringt die aktive Komponente der menschlichen
Natur innerhalb der Gesellschaft zum Ausdruck; es ist Voraussetzung
für jede schöpferische Gestaltung und deshalb in seiner vollendetsten
Form als Persönlichkeit wirklich «höchstes Gut der Menschenkinder».
Das Sicherungsstreben charakterisiert dagegen die passive Haltung der
Mehrheit, derjenigen, welche dem freien Kampf abgeneigt oder ihm
nicht gewachsen sind, deshalb aber auch leicht zur «Masse» werden.
Es ist nun äußerst interessant, zu verfolgen, wie das Freiheitsideal des
vergangenen Jahrhunderts sich allmählich, fast unbemerkt in das
Sicherheitsstreben umwandelte, das heute im Zeitalter des kleinen Mannes
herrscht und im modernen Wohlfahrtsstaat seinen unmittelbarsten Ausdruck
gefunden hat. Daß seine immer extremere Einseitigkeit schließlich
nicht wieder einen Rückschlag des Pendels zum Freiheitsideal bewirken
könnte, erscheint keineswegs ausgeschlossen.
Seit der Erklärung der Menschenrechte ist die Freiheit zum Leitstern
jeder Neugestaltung geworden; sie forderte sowohl die Befreiung
des Bürgers von staatlicher Willkür als die Aufhebung der beruflichen
Schranken von Zünften und Gilden, somit politische und wirtschaftliche
Unabhängigkeit.
Nur ganz kurz kann hier erwähnt werden, daß ihre Vorläufer teilweise
weit zurückreichen, daß insbesondere die englischen Grundrechte
des Mittelalters, aber ebenso die später, im achtzehnten Jahrhundert,
entstandenen Verfassungen der jungen amerikanischen Einzelstaaten —
insbesondere diejenige Virginias — Vorbilder für die kontinentale Freiheitsforderung
gewesen sind. Die ebenfalls schon weit zurückliegenden
schweizerischen Freiheitskämpfe waren dagegen in erster Linie auf die
staatliche Unabhängigkeit eines Bauernvolkes ausgerichtet. Ihr Erfolg
stellte einen ersten Einbruch in die feste ständische Ordnung des Mittelalters
dar und rief deshalb den geradezu panischen Schrecken vor dem
Worte Schweizer hervor, von dem uns so viele Dokumente berichten.
Das Streben nach politischer und wirtschaftlicher Freiheit fand seine
Verwirklichung in den sogenannten politischen Grundrechten, dem Anspruch
auf Nichteinmischung des Staates in bestimmte mit der Persönlichkeit
besonders eng verbundene Rechte des Bürgers, u. a. im
Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit und der ihm in der privatrechtlichen
Sphäre entsprechenden Vertragsfreiheit. Der liberalen
Rechtsauffassung war eigen, daß der Staat nur den äußern Schutz des
Bürgers sicherstellte, sonst aber möglichst wenig in seine weitgespannte
persönliche Freiheit eingreifen sollte. Folgerichtig schien es ihr deshalb,
auch alle andern Machtfaktoren, die Kirche, die alten Berufsverbände
und die vielerorts vorhandenen Gliedstaaten aller Rechte zu entkleiden,
ein Beginnen, das später in veränderter Zeit der kollektiven Gegenbewegung
zugute kam, weil die allein übriggebliebene Autorität des Einheitsstaates
ihren Machtanspruch nun mit keiner andern Instanz mehr
zu teilen hatte.
Eugen Huber hat die neuerwachten Gefahren für die Freiheit des Individuums
sehr frühzeitig, schon am Ende des letzten Jahrhunderts erkannt
und darauf hingewiesen, daß «das moderne Privatrecht ein
evolutioniertes, mit großen Fähigkeiten und Ansprüchen ausgerüstetes
Individuum geschaffen habe, befreit von allen früheren Fesseln, sich
freuend einer unbeschränkten Ausnutzung der Vorteile des Privatrechtes
für seine Person». Aber schon «steigen am Horizont Anzeichen
dafür auf, daß dieses selbe Individuum schwereren Fesseln unterworfen
werden könnte, als es sie früher getragen, weniger wegen der zunehmenden
Haftung des Einzelnen als wegen des Eingreifens des Staates
in das Verfügungsrecht eines jeden über sein Eigentum und der Auflagen,
die ihm um des öffentlichen Wohles willen gemacht werden
könnten».
Eugen Huber schloß seine prophetischen Äußerungen mit den Worten:
«Hat das Zeitalter mit der freien Entfaltung des Individuums genügsam
schlimme Erfahrungen gemacht, so wird es nach einer andern
Gebundenheit rufen, und diese kann nicht mehr die Gebundenheit der
Familie oder der eng begrenzten Genossenschaft sein, sondern diejenige
in der privatrechtlichen Organisation des Volkes selbst.»
Was der Schöpfer des modernen schweizerischen Privatrechtes damals
vorausgesehen hat, ist seither eingetroffen. Das Freiheitsstreben
mußte vor dem Streben nach Sicherheit in und durch die Gemeinschaft,
das individualistische Interesse vor dem kollektiven Wunsch
nach gesicherter Existenz immer stärker zurückweichen. Besonders auffallend
ist jedoch, daß die neuen Schranken der freien Betätigung aber
nicht nur auf Eingriffe des Staates, sondern auch durch eine wachsende
Selbstorganisation der Wirtschaft, also gewissermaßen von innen heraus
bedingt werden. Die Entwicklung der Kartelle, die gerade in unserem
Lande eine so große Bedeutung erlangt haben, zeigt dies mit aller Deutlichkeit.
Jede Zeitepoche strebt nach dem, was ihr abgeht. So hat die Gegenwart
den Wunsch nach Sicherung um so stärker ausgebildet, je unsicherer
die Existenz geworden ist. Heute, wo diese Unsicherheit einem Maximum
zustrebt, ist auch das Sicherheitsverlangen fast unbegrenzt. Gerade deshalb
nimmt auch die Gegenwart kaum mehr Anstand daran, daß Sicherungen
immer nur auf Kosten der Freiheit möglich sind. Im Mittelpunkt
des modernen Rechtsausbaues steht denn auch der Versicherungsgedanke.
Gegen alle Gefahren des Daseins werden private Versicherungsschranken
aufgerichtet, obligatorische Sozialversicherungen beherrschen
den Sektor der Industrie und des Verkehrs, ergänzt durch noch
allgemeinere Alters-, Invaliden- und Arbeitsiosenversicherungen. Es ist
nur folgerichtig, daß dieselbe Tendenz auch große Gebiete des öffentlichen
Rechtes beherrscht und z. B. als Postulat nach kollektiver
Sicherung den Völkerbund und neuerdings die UNO bestimmt —leider
ohne daß dadurch eine wirklich größere Sicherheit in der internationalen
Welt erreicht werden konnte.
Das Sicherungsstreben entspricht dem jedem Lebewesen angeborenen
Selbsterhaltungstrieb, dem primum vivere. Im modernen Kollektivismus
sucht es seine Verwirklichung durch den Zusammenschluß der gefährdeten
Einzelnen im Staate, dem immer größere Teile der individuellen
Freiheit geopfert werden, damit er auf Grund vermehrter Macht
besser für die Sicherheit sorgen kann.
Wirklich tragisch ist es nun aber, erkennen zu müssen, daß es gerade
die ständige Zunahme der Staatsmacht war, welche die Gefahr der gegenwärtigen
Epoche ins Ungeheure hat ansteigen lassen, und überdies, daß
die Preisgabe der persönlichen Freiheit meistens auch mit einer Flucht
vor individueller Verantwortung verbunden ist, welche gesunde gesellschaftliche
Verhältnisse jedoch endgültig ausschließt.
Auch in demokratischen Ländern hat die Macht des Staates auf
Kosten des freien Individuums gewaltig zugenommen. In der wirtschaftlichen
und rechtlichen Sphäre zeigt sich das Sicherungsstreben am
deutlichsten in der wachsenden Beschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit,
welcher kürzlich, durch den Einbau der neuen Wirtschaftsartikel,
auch formell umgestaltet und in den Dienst des modernen
Wohlfahrtsstaates gestellt worden ist, der durch die Sicherung gefährdeter
Berufe und wirtschaftlich bedrohter Landesteile und die sichernde
Fürsorge für die Arbeitnehmer gekennzeichnet ist. Daß diese Sicherungen
die individuelle Betätigungsfreiheit entsprechend beschränken, ist
selbstverständlich.
Aber auch die freien Unternehmer haben sich fast überall freiwillig
zu Berufsverbänden zusammengeschlossen, um durch Ausschalten der
Konkurrenz die Sicherung der von ihnen eroberten wirtschaftlichen
Positionen zu erreichen. Um dieses Ziel zu ermöglichen, werden stärkste
wirtschaftliche Bindungen eingegangen, welche von der Innehaltung
der vom Kartell vorgeschriebenen Richtpreise bis zu Produktionsbeschränkungen
und schwersten Kontrollmaßnahmen reichen können
und dann die Selbständigkeit der Kartellmitglieder entscheidend gefährden.
Dafür, daß die kartellgesicherte, konkurrenzfreie Existenz nun trotzdem
nicht einfach zu einem otium cum dignitate führt, sorgt heute nicht
nur die politische Unsicherheit, sondern gewöhnlich auch —der Fiskus!
Wenn Präsident Roosevelt der Umwelt neue, aus den Menschenrechten
abgeleitete Freiheiten verkündete, wie die Freiheit von Furcht und Not,
so hat er damit zwar dem noch immer vorhandenen magischen Klang
des Wortes Freiheit seinen Tribut geleistet. In Wirklichkeit hat er jedoch
etwas ganz anderes verkündet, etwas, was dem klassischen Freiheitsbegriff
entgegengesetzt ist, aber dafür dem zeitgemäßen Drang nach
Sicherung entspricht, eine Sicherung der gesamten äußeren Existenz,
die, wenn überhaupt, nur mit Hilfe neuer, tief einschneidender Gesetze
verwirklicht werden könnte und die Bewegungsfreiheit des Individuums
auf jeden Fall erheblich, vielleicht entscheidend, vermindern würde.
Begrenzungen der Freiheit werden aber, wie wir schon gesehen haben,
von der Gegenwart leicht in Kauf genommen, oft werden sie allerdings
nicht einmal bemerkt, weil das kollektive Sicherungsstreben so stark
in psychischen Sphären verhaftet und deshalb der objektiven Erkenntnis
entgegengerichtet ist.
Auch andere Elemente als der unmittelbare Wunsch nach gesicherter
Existenz begrenzen übrigens heute die individuelle Freiheit, in erster
Linie die immer intensivere Organisation aller Lebensgebiete, welche in
indirekterer Weise auch bestimmten Sicherungsaufgaben dient; sie selbst
ist die natürliche Folge der fortschreitenden Technisierung der modernen
Welt; denn jede Technik fordert eine Organisation, und die letztere
kann nur auf Kosten der individuellen Freiheit vorgenommen werden.
Eine bewußte Verteidigung des Freiheitsideales ist heute, in Anbetracht
seiner Bedrohung durch den totalitären Kollektivismus, zur
Notwendigkeit geworden. So hat die neue nazistische Bewegung in
Deutschland erst in den letzten Tagen wieder offiziell erklärt, daß sie
den Einzelnen nicht als Individuum, sondern nur als Teil der Gesellschaft
betrachte. Der Freiheitsbegriff ist nun allerdings nicht überall
eindeutig. Im Recht, mit dem wir uns hier allein abgeben können, ist er
dagegen einigermaßen festgelegt, und zwar, jedenfalls in der Schweiz,
noch ganz im Sinne des Liberalismus. So hat die Persönlichkeit einen
absoluten Anspruch auf Anerkennung der zu ihrer Entfaltung nötigen
freien Sphäre, auf welche sie nicht einmal selbst verzichten kann; im
Obligationenrecht herrscht das völlig eindeutige Prinzip der Vertragsfreiheit,
und im öffentlichen Recht werden die klassischen Freiheitsrechte
des Einzelnen dem Staate gegenüber anerkannt. Das von fast
allen schweizerischen Juristen bedauerte und beanstandete Fehlen einer
voll ausgebauten Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit verhindert
allerdings die erwünschte klare Trennung der Gewalten. Während
Jahrzehnten erschien dieser Umstand zwar als ein Schönheitsfehler unserer
Demokratie —ähnlich etwa wie das fehlende Frauenstimmrecht —
aber zu einer unmittelbaren Gefahr für die individuelle Freiheit ist er
erst geworden, seitdem eine übermächtige Verwaltung, die neuerdings
als vierte Gewalt bezeichnet wird, immer nachhaltiger in alle Lebensbezirke
eingreift. Wenn die Verwaltung heute sogar direkte Polizeiaktionen
durchführen kann und dies in einem Einzelfalle auch rechtlich
zu begründen vermag, so sollte doch die grundsätzliche Gefahr nicht
übersehen werden, welche dies für das freie Individuum bedeutet:
Sonderpolizei und Sondergerichte waren und sind es, welche in gefährdeter
Zeit leicht einen Sonderstaat im Staate zu begründen suchen, der
sich dann über alle zugunsten des Einzelnen bestehenden Schutzbestimmungen
hinwegsetzt. Eine Zweckmäßigkeitsbegründung derartiger Eingriffe
mit dem Interesse des Staates, bzw. des Fiskus, ist auch in den
totalitären Staaten versucht worden, denn —Recht ist, was dem Staate
nützt —mit dieser Maxime läßt sich aber letzten Endes jeder Übergriff
begründen.
«Si l'état est fort, il nous écrase, s'il est faible, nous sommes voués à
l'anéantissement», sagte Paul Valéry einmal. In diesem Spruche äußert
sich das alte wohl nie ganz lösbare Problem, daß wir ein geordnetes, der
allgemeinen Sicherheit dienendes Staatswesen aufbauen und trotzdem
auch die individuelle Freiheit erhalten müssen. Individuelle und kollektive
Kräfte geraten hier immer aufs neue miteinander in Konflikt, aber
sie sind letzten Endes nur scheinbar absolute Gegensätze; in Wirklichkeit
stellen sie ein polares Spannungsverhältnis dar, in welchem die Eigenart
der menschlichen Natur selbst zum Ausdruck gelangt. Das Streben nach
Sicherung entspricht dem Selbsterhaltungstrieb, dasjenige nach Freiheit
dem aktiven, auf Ausweitung der Existenz gerichteten Lebensprinzip.
Das letztere ist mit größeren Gefahren verbunden, aber keine Gesellschaft
kann für ihre Ausgestaltung und ihre Erhaltung darauf verzichten.
Die Gegenwart beginnt die Berechtigung und Natürlichkeit beider
Prinzipien zu erkennen; sie wird sich deshalb auch darum bemühen
müssen, immer bewußter in ihnen die höhere Einheit zu sehen und sie
beide innerhalb der gesetzlichen Ordnung möglichst harmonisch zur
Geltung zu bringen. Akzentverlagerungen bei der Bewertung dieser
beiden Urtriebe werden allerdings ständig vorkommen; auf kollektivistische
folgen individualistische Perioden und umgekehrt; dies entspricht
dem Lebensrhythmus.
Da jede Epoche vor neue Probleme gestellt wird, weil sich die äußeren
Lebensbedingungen und die menschlichen Erkenntnisse beständig verändern,
unterliegt auch das Recht einem stetigen Aus- und Umbau.
Sogar die wenigen in der menschlichen Natur begründeten und deshalb
ewigen Prinzipien —. Eugen Huber nannte sie die Naturalien des Rechtes —
zeigen sich uns immer wieder in anderem Licht.
Gerade das vertiefte Wissen unserer Zeit um die Relativität jeder Erscheinung
ist wohl auch die Ursache für den seit einigen Jahrzehnten
immer stärker ertönenden Ruf nach dynamischem oder funktionellem
Recht, nach einem Recht, das die ständige Veränderung aller Lebensprozesse
berücksichtigt und damit das Element der Zeit oder das Gesetz der
Metamorphose in die Ordnung zu integrieren versucht. Da es gleichzeitig
individualisierend wirkt, hat es auch betont qualitativen Charakter.
Moderne Gesetze, wie das unsere, haben diesen Forderungen denn auch
durch Einbau von Generalklauseln und Rahmenbestimmungen schon
lange weitgehend Rechnung getragen, selbstverständlich ohne damit das
statische Prinzip der geltenden Ordnung selbst in Frage zu stellen.
Bei der Umwälzung vor 150 Jahren standen politische, bei derjenigen
der Gegenwart stehen soziale und wirtschaftliche Probleme im Vordergrund.
Damals wurde eine völlige Emanzipation der Wirtschaft von
allen Bindungen, heute eine immer stärkere Eingliederung derselben in
den Staat angestrebt; das eine entsprach dem Freiheitsstreben, das
letztere soll dem Wunsche nach Sicherheit dienen. Beide Bestrebungen
sind natürlich und deshalb an sich berechtigt; aber wenn sie von einer
Zeit extrem einseitig verwirklicht werden, führt dies unfehlbar zu einer
späteren Reaktion ins andere Extrem. Ein Hinundherschwanken
zwischen individualistischen und kollektiven Idealen ist aber gerade in
unserer weltanschaulich so schwach untermauerten Zeit besonders gefährlich;
denn jeder scharfe Tendenzumschwung äußert sich in stark
gefühlsbetonter Weise, er ist grenzenlos in seinen Forderungen und unberechenbar
in seinen Folgen.
Die wache Bewußtheit und die vertiefte Psychologie der Gegenwart
haben uns gelehrt, daß die psychischen Kräfte blind und gefährlich, aber
auch wirklich sind und deshalb ernst genommen werden müssen, und
ebenso, daß ein reiner Rationalismus wegen seiner einseitigen Abstraktheit
zum Aufbau einer Gesellschaft nicht genügt. Deshalb strebt die
moderne Wissenschaft nach einer ganzheitlichen Betrachtung der Phänomene.
Der Mensch wird von ihr nicht mehr als isoliertes Atom, wie im
Zeitalter des Liberalismus, aber ebenso wenig nur als Teil eines Ganzen
wie im Kollektivismus erkannt, sondern als geistig freies und einmaliges,
aber seiner Umwelt zutiefst verpflichtetes Ich.
Auch das moderne Rechtsdenken folgt diesen neuen Erkenntnissen;
ihre Verwirklichung war übrigens in der Schweiz verhältnismäßig leicht,
weil der angeborene Wirklichkeitssinn des Volkes allzu gefühlsbetonten
Bewegungen widerstrebt und auch die Gesetzgebung lebensnah geblieben
ist. Die so oft beanstandete schweizerische Nüchternheit, welche
im Hinblick auf die höheren Kulturinteressen gelegentlich so bedenkliche
Folgen zeitigt, hat wenigstens das Gute, daß sie gegen Massenpsychosen
verhältnismäßig immun ist.
Heute bemüht sich unser Recht immer bewußter um ein Gleichgewicht
zwischen individuellen und kollektiven Kräften innerhalb der menschlichen
Gesellschaft. Das Gesetz hat den individualistischen Charakter
auch in der neuesten Zeit wie beispielsweise im Gesellschaftsrecht behalten,
und das liberale Prinzip der Handels- und Gewerbefreiheit wurde
trotz allen Einschränkungen grundsätzlich gewahrt, gleichzeitig aber
mit recht großem Erfolg versucht, die verkehrten Kollektivbedürfnisse
der Gegenwart mit diesen freiheitlichen Grundsätzen harmonisch in Einklang
zu bringen.
Der schon von Eugen Huber ausgesprochene Grundsatz der Einheit
von Rechten und Pflichten, die generelle Beschränkung der subjektiven
Rechtsausübung im Interesse der Allgemeinheit entstammen demselben
lebensnahen Geist wie die sozialen Wirtschaftsartikel der Gegenwart.
Sie stellen den zweifellos richtigen Versuch dar, Freiheits- und Sicherheitstendenzen
organisch miteinander zu verbinden.
Auch unser Recht lebt noch immer stark aus der weiterwirkenden
Tradition der alten ethischen Wertungen. Ob dieselben, trotz ihrer allmählichen
Loslösung von den ursprünglich religiösen Wurzeln auf die
Dauer stark genug sein werden, um eine wahre Rechtlichkeit der Gesellschaftsordnung
vor dem Einbruch des reinen Utilitarismus zu garantieren,
ist keineswegs sicher und wohl eines der schwerwiegendsten
Probleme der Gegenwart. Gerade deshalb sollte heute dafür wenigstens
die innerste Übereinstimmung zwischen den zur Freiheit strebenden und
den nach Sicherheit verlangenden Kräften mit den menschlichen Naturanlagen
selbst stärker in unser Bewußtsein gehoben werden, um dem
Rechte dadurch neben den etwas verblassenden absoluten Werten der
christlichen Ethik wenigstens ein festes Strukturelement und eine klare
Richtlinie zu erhalten, das stetige Streben nach einer Entsprechung
zwischen seinen Richtlinien und den tiefsten natürlichen Anlagen des
Menschen.
Ein einseitiges extremes Sicherheitsstreben dagegen, das vor der
Preisgabe der schöpferischen Persönlichkeitswerte nicht zurückschrecken
würde, kann auf dem Weg über die doch immer nur scheinbare kollektive
Verantwortungslosigkeit nur rasch zum Untergang führen. So hat
der Verzicht auf das individuelle Urteil, der der Furcht vor dem nirgends
mehr verankerten Denken des modernen Nihilismus entsprungen ist,
Deutschland in wenigen Jahren zwar zunächst zur Scheinsekurität im
neuen Großraum, aber nachher überraschend schnell in den Abgrund
geführt. Ein reiner Kollektivismus läßt sich, wie die bisherigen Versuche
gezeigt haben, offenbar überhaupt nicht verwirklichen, weil er die realen
und starken individuellen Kräfte übersieht. In einer kollektiven Welt,
wo sich diese in der Gesellschaft nicht organisch ausleben können, werden
sie deshalb in unnatürlicher Weise auf ganz wenige Individuen konzentriert
oder projiziert, die dann als unbeschränkte und angeblich
unfehlbare Führer einer ganzen Welt fast göttliche Verehrung genießen
und deshalb immer stärker der Versuchung eines ungehemmten politischen
Machtrausches erliegen.
Das alte gesicherte Weltbild ist unserer Zeit verlorengegangen und
eine neue Lebensform erst im Entstehen begriffen. Diese zu gestalten ist
die außerordentlich schwierige, aber auch ungeheuer dankbare Aufgabe
der Gegenwart. Für uns alle wird es sich in dieser Übergangszeit darum
handeln, am Wiederaufbau einer Weltsicht mitzuwirken und zunächst
dem eigenen Leben eine möglichst klare Gestalt zu geben. Jeder Einzelne
muß versuchen, über das instinktmäßige und gefühlsbetonte
Wünschen nach dem sagenhaften Glück hinaus zur objektiven Erkenntnis
durchzudringen und aus eigensten Kräften die Verantwortung
für die Gesamtheit mitzutragen, also seine Freiheit freiwillig in den Dienst
der Umwelt stellen.
Das Recht kann das neue Weltbild nicht selbst schaffen, aber
auch in seiner Sphäre ist ein unabhängiges und fruchtbares Streben
nach wirklichkeitsnäher Erkenntnis möglich, wenigstens so lange, als
es seinem ureigensten Wesen, dem objektiven und denkenden Abwägen
der Gegebenheiten nach dem Maßstab der Gerechtigkeit treu bleibt.
Daß ein neues, lebendiges und allgemein gültiges Weltbild entstehen
wird, können wir heute erst hoffen, aber erste Ansatzpunkte dafür werden
schon vielerorts sichtbar. Davon, daß sie sich bald einmal intensivieren
und durchsetzen werden, hängt vielleicht das Gesamtschicksal
unserer unteilbar gewordenen Welt ab.
Etwas anderes wissen wir heute aber bestimmt: Freiheit und Sicherung,
individuelle und kollektive Elemente werden in der menschlichen
Gesellschaft immer vorhanden sein, weil sie sich gegenseitig bedingen
und naturgewollt sind. Deshalb wird keine Lösung jemals befriedigen,
welche die natürliche Polarität mißachtet und eine einseitige und deshalb
unwirkliche Gesellschaft aufzubauen sucht.
Damit aber ist noch eine weitere Erkenntnis verbunden: wir müssen
einsehen, daß die so heiß begehrte Sicherheit nicht draußen, in einem
absoluten Staate, gefunden werden kann, sondern eine innere persönliche
Freiheit zur Voraussetzung hat. Die staatliche Allmacht nämlich
führt immer zur Willkür und damit letzten Endes zur absoluten Unsicherheit.