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Berufung und Beruf

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 24. November 1961
von
Edgar Salin
Verlag Helbing & Lichtenhahn Basel 1961

© Copyright 1961 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck: Friedrich Reinhardt AG., Basel

Hochansehnliche Festversammlung!

Die Philosophie arbeitet wie jede Wissenschaft seit Aristoteles und dem Peripatos mit Begriffen. Diese Begriffe scheinen oft fest, scheinen unwandelbar zu sein, und gerade die Oekonomen und Soziologen haben manchen fruchtlosen Streit um Begriffe geführt, weil verkannt wurde, daß der Inhalt der Begriffe nicht nur mit den Autoren, sondern auch mit den Zeiten wechselt. Wie interessant es sein kann, gerade dem Wandel des Begriffsinhalts nachzugehen, wie aufschlußreich dies für die Geschichte, besonders die Wirtschaftsgeschichte, aber auch für die Philosophie und sogar für die Theologie sein kann, habe ich früher an dem Begriff des Kapitals gezeigt 1. Heute, in einer Zeit, da die universitas, welche den Universitäten ihren Namen gab, sich in handwerkliches Spezialistentum aufzulösen droht, möchte ich bitten, mit mir in einem kurzen Überblick den Wandel zweier Begriffe zu betrachten, die jeden Dozenten und jeden Studenten gleichviel welchen Faches und, wie ich hoffe, noch jeden Menschen deutscher Sprache angehen:

Berufung und Beruf

Es genügt nicht, die einfache Wortgeschichte zu betrachten, obwohl, wie wir noch sehen werden, zumindest das Wort «Beruf» nicht zufällig in einem bestimmten Geschichtsaugenblick geprägt ist. Alle Sprache schöpft aus einem tiefen geistigen Born, und ungewußt weben oft Mythen und Sagen der Vorzeit mit an der gegenwärtigen Schöpfung und gehen geistige oder religiöse Elemente ein in das zum Begriff erstarrende Gebilde. Bis heute hat alle abendländische Kultur zwei geistige Wurzeln, die griechisch-römische und die jüdisch-christliche, und so stellt sich die Frage, ob beide oder nur eine von beiden in «Berufung» und «Beruf» beteiligt und wirksam sind, wobei die Wirksamkeit bald sich in der Bestimmung des Inhalts, bald in der Schaffung einer Aura, einer Atmosphäre äußern kann.

In diesem sehr besonderen Fall fehlt jede Verbindung zur klassischen Antike. Begreiflicherweise besteht eine Scheu vor einer solch eindeutigen Aussage. Aber man versuche eine Übertragung in klassisches Griechisch oder Lateinisch —sie wird nicht gelingen. Oder man gehe den umgekehrten Weg und frage sich: fühlt sich etwa der Dichter oder schlechthin der schöpferische Mensch der Antike oder fühlt sich der Priester eines antiken Gottes von Gott berufen? Es läßt sich kein Anzeichen dafür finden 2. Der griechische Dichter ruft die Musen an, oder die Muse spricht aus ihm 3 — ein andermal, bei Hesiod, lehrt die Muse den Gesang. Der Schöpfer leitet vielleicht

seinen Ursprung von den Göttern her, und es ist die Kraft des Gottes, die nach Platons Wissen den Dichter spornt und niederzwingt, die ihn anhaucht und ihn in heiligen Wahn versetzt, bis er selbst des Gottes voll ist. Es ist die dritte Form der Besessenheit und des Wahnes, so kündet der Phaidros 4, die von den Musen kommt; «wenn sie eine zarte, schlummernde Seele ergreift, weckt sie sie auf und begeistert sie zu Liedern und zu anderer Dichtung und so, durch Verherrlichung zahlloser Taten der Vordem, erzieht und bildet sie die späteren Geschlechter».

Es ist gut, diese Worte im Gedächtnis zu behalten; denn sie sind nicht nur schönstes Zeugnis für die antike Auffassung von Begnadung und Bildung, sondern es wird sich am Ende unsrer Betrachtung zeigen, daß sich in manchen Gebieten der Kreis schließt und modernes Empfinden dem antiken näher gerückt ist als dem Glauben und der Lehre der dazwischenliegenden christlichen Zeit. Dem christlichen Aion aber gehören Berufung und Beruf von Anbeginn an.

Bei Lukas wird erzählt 5, wie Jesus in der Synagoge von Nazareth das Buch Jesaja aufschlägt und die Worte des Propheten liest: «Der Geist des Herrn ist bei mir, Darum daß er mich gesalbt hat; Er hat mich gesandt, Zu verkündigen das Evangelium den Armen...» Und Jesus sagt zu den Andächtigen: «Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren.» In dieser Erzählung und in diesen Worten ist zugleich der jüdische Ursprung der Berufung und der Keim der Tragödie des Christus zu fassen. Denn zweierlei steht in diesen wenigen Worten: Der Herr hat

mich gesandt, das heißt: ich bin durch den Herrn berufen. Und: Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbet hat, das heißt: ich bin der Gesalbte, ich bin der Christus. Gewiß, es braucht die Erkenntnis und das Bekenntnis des Petrus, damit Jesus den Jüngern offenbart: ich bin es. Aber die Stelle aus Jesaja zeigt die besondere Heiligkeit der Luft, in der sich unter den Juden schon durch Jahrhunderte Überlieferung und Erwartung begegnen. Gesalbt wird der König, berufen wird der Prophet 6. In dem erwarteten Messias sollen sich Königtum und Prophetie vereinigen, und nach dem Bewußtsein von Jesus, den Aposteln und den Gläubigen tun sie es in seiner Person.

Aus der altchristlichen Terminologie stammt der Begriff des «Charisma», der in der Soziologie von Max Weber zur Kennzeichnung eines Typs legitimer Herrschaft verwandt wird und den nach dem Mißbrauch durch Demagogen und Verführte heute zu gebrauchen man sich fast scheuen muß 7. Indessen kann der Berufene nicht besser gekennzeichnet werden als durch die Charakterisierung: er ist «Träger eines Charisma». Das gilt nicht nur für Jesus. Schon unter den Peripatetikern war eines der vielumstrittenen Probleme die Frage nach

dem Unterschied zwischen Alexander dem Großen und dem Seeräuber-Häuptling. Wir können sie dahin beantworten, daß Alexander der Träger eines Charisma, der Seeräuber Erschleicher oder Täuscher oder Usurpator gewesen ist 8.

Aber bei Jesus ist das Folgenschwere, daß er nicht nur gesandt, nicht nur berufen, sondern daß er auch «gesalbt» ist — daher nicht nur Träger des Charisma, sondern auch Träger des Königsamtes ist. Daß hierin der Keim seines Untergangs liegt, war ihm selbst bewußt. Immer wieder muß er auch den nächsten Jüngern wehren, daß sie in ihm eine Art von weltlichem Herrscher sehen. «Weiche von mir, Satan», muß er dem Petrus als ihrem Stellvertreter zurufen; denn Menschen, die sie sind, und Zeloten, Guerillakämpfer, die zumindest Petrus und die Donnersöhne vermutlich waren 9, vielleicht auch

Judas Ischariot, verstehen sie nur langsam und mit Mühe, daß er, der Messiaskönig, nicht durch Macht und Gewalt, sondern kraft seiner Berufung, also einzig durch die Macht des Gottesgeistes, herrscht und daß er den neuen Aion nicht mit Waffen, sondern durch innere Umkehr, durch Dulden und Leiden heraufführt.

Aber was er ihnen vorlebt und was er ihnen einpflanzt — wie sollen die hauptstädtischen Massen den entscheidenden Unterschied erfassen! Als der Messias in Jerusalem einzieht, grüßen sie den Davidsprossen als König — und durch diese Acclamatio wird er nach römischem Recht, unabhängig von seinem gegenteiligen Willen, zum König 10. In Judaea aber herrscht ein Herodaeer von Roms Gnaden, und also ist durch den Zuruf des Volkes der Messias ein Usurpator.

Als «König der Juden», Rex Judaeorum, wird Jesus gekreuzigt. Aber in und nach seinem Tod erweist sich die Echtheit seiner Berufung in ihrer vollen Kraft. Die Jünger, die er erwählt hat, geben seinen Ruf weiter, und hierdurch wird sein Charisma zur Grundlage der charismatischen Herrschaft der Apostel und des Lebens der Gemeinde der Heiligen in Jerusalem, dem Ur- und Vorbild alles christlichen Kommunismus.

Von den berufenen Aposteln sind die beiden, welche schon um die Wende des ersten Jahrhunderts als die «Säulen» gepriesen wurden, Petrus und Paulus, nicht nur die kirchen- wie weltpolitisch wichtigsten Figuren, sondern

auch die ersten faßbaren Träger und Künder von «Berufung» und «Beruf». Der Ruf an Simon Barjona, die Benennung Kepha, der Fels, die Verheißung, daß auf diesem Fels der Herr seine Gemeinde errichten, das Gottesvolk bauen wird, haben dem Zeloten die Kraft gegeben, in Jerusalem die Gemeinde der Heiligen in der Kommunion des Gebets und der Liebe aufzubauen und anfänglich zu regieren. Und sie haben auch das Wort vom Menschenfischer wahr werden lassen und haben es vermocht, daß der Apostel, ungebildet, des Lateinischen nicht kundig, den Markus als Dolmetscher mit sich führend, die Mission bis in die Hauptstadt des Tieres, nach Rom, trägt. Und Paulus, der den lebenden Jesus nicht gekannt hat und durch die Vision Christi berufen wird — das Gemälde des Michelangelo in der Cappella Paolina, das die Bekehrung Sauli genannt ist, zeigt die Bekehrung des Saulus und die Berufung des Paulus in eins —, Paulus prägt in griechischer Sprache die Worte, die Luther später sprach- und sinngemäß ins Deutsche übertragen hat. In einem vielzitierten Satz des ersten Korintherbriefes 11 heißt es: In Luthers Deutsch: «Ein Jeder bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist.» Was hat das zu bedeuten?

Die Briefe des Paulus sind wie theologische, so auch eminent politische Dokumente, die nur verstanden werden, wenn man sich bewußt bleibt, daß Paulus nicht nur an einem bestimmten Punkt der Heilsgeschichte, sondern auch in einem bestimmten Augenblick der Weltgeschichte schreibt. Das ist zu beachten bei dem viel mißbrauchten Satz des Römerbriefs über den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit — sie ist nach Pauli jüdischem Glauben stets von Gott, aber sie ist nach Pauli christlichem Glauben

bald am Ende ihrer Teufelsmacht angelangt, «sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden» 12. Und das ist genau so zu beachten gegenüber dem Satz, der im Kernpunkt unsrer Betrachtung steht. Es bleibe ein Jeder, ist gesagt; aber im Hintergrund steht auch hier: was zählt ihr die Tage, die Jahre — das Heil ist nahe, das Gottesreich steht vor der Tür.

Doch dies ist nicht alles. Paulus hat das Wort «Klesis», das Luther mit Beruf übersetzt, selbst geprägt oder es aus einer uns nicht bekannten Umgangssprache entnommen 13. Das erste halte ich für wahrscheinlicher. Paulus, der im gleichen Brief die Gemeinde der Christen von Korinth eine Klesis nennt, einen Stand der Berufenen, wendet das Wort in unserem Satz ins Weltliche. So erhält es die Bedeutung Beruf oder richtiger «Stand». Also: es bleibe jeder in dem Berufsstand, in dem ihn Christi Ruf getroffen hat.

Aber — müssen wir fragen — warum wird dies gesagt und warum wird es so gesagt? Der Satz wäre völlig sinnlos in einer Zeit festgefügter ständischer Ordnung, in der niemand daran denken kann, außer in Ausnahmefällen den Stand zu wechseln. Er hat Sinn, er ist nötig in einer Zeit sozialer Unrast, wie sie kennzeichnend ist für Wirtschaft und Gesellschaft der römischen Kaiserzeit, als nicht mehr durch erfolgreiche Kriege neue Sklavenmassen geliefert werden und als darum das instrumentum

vocale, das «sprechende Werkzeug» der republikanischen Zeit, nicht nur pfleglich behandelt werden muß, sondern häufig, freigelassen, das Gewerbe des Gebieters führt und seinen Namen annimmt. Vermutlich hat in diese Gärung hinein dann die neue Verkündigung weiter aufputschend gewirkt, vermutlich gab es in den jungen Christengemeinden genau so wie in Jerusalem Zeloten, die das Evangelium als Aufruf oder Rechtfertigung einer gewaltsamen, diesseitigen Sozialrevolution mißverstanden. Darum fährt Paulus fort 14: «Als Sklave würdest du berufen? Laß dich's nicht kümmern! Wenn du frei werden kannst, bleibe vielmehr dabei.» Der Grund ist klar: das Sein in Christo macht frei — am Stand im alten Aion ist nichts mehr zu ändern, da der neue Aion nahe ist, in dem es weder Herren noch Sklaven gibt.

Es ist aber nicht nur soziologisch, sondern auch ökonomisch von Bedeutung, daß die Klesis Stand und nicht Beruf im modernen Sinn bedeutet; denn der Beruf meint der Regel nach die Tätigkeit, mit der man sich den Lebensunterhalt verdient. Aber nicht die Klesis, sondern die Arbeit ist ihres Lohnes wert, und man muß daher ganz streng scheiden zwischen Berufung, (Berufs-)Stand und Erwerb. Gerade wer berufen ist, hat sich dadurch auszuweisen, daß er sich durch seiner Hände Arbeit ernährt. Der gleiche Paulus, der durch seine Kollekten die Aufrechterhaltung des Liebeskommunismus der Urgemeinde in Jerusalem ermöglicht, verdient in Korinth sein

Geld als Teppichwirker und wird nicht müde, einzuschärfen, so wie es später die Didache, die Lehre der zwölf Apostel, bis ins Einzelne tut 15: daß man den echten Apostel, den echten Propheten, den echten Gläubigen dadurch erkennen kann, daß er nicht auf Kosten Anderer lebt, sondern sein Handwerk beherrscht und verwendet.

Es ist Paulus vorgeworfen worden, daß er sich nicht in Christi Geist gegen die Sklaverei aufgelehnt habe 16. Dieser Vorwurf verkennt völlig die Mentalität von Menschen, die in der Erwartung der nahen Endzeit leben, und erst recht die Haltung des Paulus, der als Jude ein Eiferer vor dem Herrn war und als Christ ein Eiferer vor dem Herrn ist. Aber er hat die unermeßliche Tiefe von Jesu Revolution in Herz und Geist aufgenommen, und aus ihr heraus verkündet er den zum Christus Berufenen, was ihre christliche Aufgabe und wie unwichtig ihr Stand für Jeden ist, der da weiß, daß die Nacht des alten Aion vorgerückt und der Tag des neuen nahe herbeigekommen ist 17. Die Richtigkeit dieser Deutung wird, wie mir scheint, durch das Verhalten beider Seiten, der Christen wie der Heiden, geschichtlich bezeugt. Vor der Einschließung Jerusalems durch die Römer entweicht die Urgemeinde nach Pella im Ostjordanland — sie weiß nun, daß der nationale Kampf der Zeloten nicht christliche Sache ist. Und auf der anderen Seite haben die Römer die Christen nur als Götterleugner, als Verweigerer des Opfers im Kaiserkult verfolgt, dagegen nach Jesu Tod

niemals mehr als politische oder als soziale Revolutionäre 18.

Nachdem aber die Wiederkunft des Herrn ausblieb und nachdem die Kirchen mit den Ämtern der Bischöfe und der Priester an die Stelle der berufenen Apostel und der mit Gnadengaben bedachten Frühgemeinden traten, dann allerdings konnte, ja mußte der Satz des Paulus verhängnisvoll wirken. Denn nachdem nicht mehr der revolutionäre Hintergrund, sondern nur noch die vordergründliche quietistische Aussage verstanden wurde, hat er durch zwei Jahrtausende dazu geholfen, die Autorität der Teufelsmächte und aller reaktionären Gewalten zu stützen, die Gewissen einzuschläfern und allen Lauen die Rechtfertigung für ihren Schwachmut zu geben. Beispiele dafür finden sich vom 3. Jahrhundert an bis in die allerjüngste Zeit in nur allzu großer Zahl. Was aber ist in dieser Zeit aus Berufung und Beruf geworden?

Es würde hier zu weit führen, wollten wir bei den einzelnen Kirchenvätern betrachten, wie ihre Gedanken je nach Person und Ort und Zeit verschieden sind, anders bei Tertullian als bei Origenes, anders bei Cyprian als bei den großen Kappadokiern. Drei große Linien aber kann man doch, mit aller Vorsicht, als Signum der Folgezeit feststellen.

Erstens zwingt die Tatsache, daß die Christen genötigt sind, sich nun für länger in dieser Welt einzurichten, fast allerorts zur Frage: welcher Beruf im modernen Sinn — der Einfachheit halber und zum besseren Verständnis

möchte ich zu dessen Bezeichnung von jetzt an das schon von Tertullian gebrauchte Wort wählen: welche Profession, welche Tätigkeit sich überhaupt mit dem christlichen Glauben verträgt. Meist wird die Frage in der Form gestellt, welche Profession dem Christen verboten ist 19. Keine Arbeit, keine Tätigkeit, kein Handel und kein Handwerk, die in irgendeiner Verbindung zum Götzendienst stehen, ist erlaubt — aller Handel als solcher ist fragwürdig.

Zweitens wird die Berufung aus einem dauernd sich erneuernden gegenwärtigen Geschehen allmählich zu einem historischen Vorgang. Dies wiederum von zwei Seiten aus, von unten und von oben, von den Gliedern und vom Haupte her. In der Urchristenheit stehen neben den berufenen Aposteln alle, die den Ruf vernahmen — alle, welche die Klesis in der Ek-Klesia zusammenführt. Wenn aber die Glieder der Gemeinde sich nicht mehr daran erkannten, daß sie den Ruf vernommen hatten und ihm gefolgt waren, sondern wenn man in die Gemeinde geboren wurde, dann fiel die persönliche Berufung und die persönliche Entscheidung dahin. Die Kindertaufe bezeichnet das Ende der evangelischen Berufung.

Ungefähr gleichzeitig vollzieht sich die Wandlung an der Spitze. Wieder ist es Tertullian, der mit der prägnanten Schärfe des großen Juristen das Wesentliche sagt. In einer seiner montanistischen Streitschriften 20. ruft er dem römischen Bischof zu, daß nur die Geistkirche durch einen pneumatischen Menschen Sünden vergeben konnte, nicht die Kirche «als eine Zahl von Bischöfen». Gleichviel

wie man die Notwendigkeit der Entwicklung zur Papstkirche beurteilt, —soziologisch war sie gewiß der einzige Weg, um das Charisma der Urgemeinde in einen Amtsverband zu wandeln und so in veränderter Form zu tradieren —, die Erkenntnis Tertullians ist unumstößlich richtig: mit der Kirche nimmt die apostolische Berufung ihr Ende.

Drittens aber entsteht hierdurch eine Lücke, in welcher grade wieder der Beruf zu seinem Recht kommt, und zwar ein neuer Beruf. Wenn mit der Kindertaufe und mit dem Kirchenchristentum das Gefühl einer besonderen Berufung aller Christen sich abschwächte und schließlich, außer in seltenen Zeiten besonderen Hochschwungs, sich ganz verlor, so mußte es doch wenigstens einen Stand geben, der sich berufen weiß und als berufen lebt, der nicht nur nach Jesu hartem Wort 21 «Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben» hasset, sondern der in Armut und Keuschheit, in Gebet und Arbeit sein Leben verbringt. Parallel der Rationalisierung des Charisma in der Kirche geht daher die Entstehung der Mönchsorden, geht die Geburt dieser neuen, dieser jetzt einzigen Klesis, dieses jetzt einzigen Berufs der Mönche 22. »

Nur der Mönch hat also jetzt noch eine «vocatio», was Klesis im doppelten Sinn von Berufung und Beruf bedeutet. Sogar eine «Profession» wird das Mönchtum genannt, wobei allerdings dies Wort dann nicht Gewerbe, nicht Erwerbsberuf bedeutet, sondern den Beruf, in

dem man ein Gelübde ablegt —ich erinnere an das Wort Professor, das ja auch einstmals einen «Bekenner» bezeichnet hat.

Wenn man sich diese Bedeutung des Mönchstandes als des Berufs vor Augen hält, so ist es von vornherein unwahrscheinlich, daß das Mönchtum einen Sprung von der «außerweltlichen» zur «innerweltlichen» Askese gemacht und derart den religiös-asketischen Begriff der «industria» auch auf die wirtschaftliche Tätigkeit übertragen und so eine neue Schätzung des weltlichen Berufs inauguriert hätte 23. Ich finde keinen einzigen Beleg, der diese These stützen könnte. Ganz im Gegenteil. Sobald ein Orden die wirtschaftliche Tätigkeit in den Vordergrund rückt, ist dies ein Zeichen des Verfalls, und es entstehen neue Orden, so die Franziskaner, welche wieder das heilige Leben in Armut der sündigen Welt entgegenhalten. Nein —hier ist eine «materialistische» Interpretation der Entwicklung die einzig mögliche. Daß die weltliche Arbeit gegen Ausgang des Mittelalters höher gewertet wird und daß die weltlichen Stände sich allmählich dem mönchischen Stand als ebenbürtig empfinden, das kommt nicht vom Geist und nicht von der Kirche her, sondern das wird im katholischen Europa durch die offenbare Macht und den gewaltigen Reichtum des neuen, städtischen

Patriziats gegen die Kirche und in der Kirche erzwungen. Und wenn die Scholastik sich mit den neuen Problemen der neuen kapitalistischen Wirtschaft auseinandersetzt, so tut sie es nicht in immanenter Weiterbildung der überkommenen Problematik, sondern in Auseinandersetzung mit der neuen Wirklichkeit.

Das ist noch nicht bei Thomas der Fall, in den heute ganz zu Unrecht moderne ökonomische und soziologische Auffassungen hineininterpretiert werden 24. Die 183. Frage der Summa ist überschrieben: De officiis et statibus hominum in generali; zu deutsch: Über die Ämter und Stände der Menschen im allgemeinen; und die Gesamtheit der Fragen 183-189 behandelt «Stände und Standespflichten» 25. Mit der bei ihm üblichen Exaktheit definiert der Aquinate gleich eingangs seine Begriffe: Von «Amt» spricht man in Beziehung auf die Tätigkeit, von «Rang» auf Grund der höheren oder niederen Stellung; doch zum «Stand» gehört die Beständigkeit in dem, was die Gesamtlage der Person ausmacht (conditio).

Vom Beruf oder Berufung ist hier also nicht die Rede. Verschiedene Stände bestehen, religiosi et saeculares, geistliche und weltliche. Das ist eine Folge der Arbeitsteilung, welche darum unausweichlich ist, weil niemand alle Arbeiten verrichten kann. Aber die Religiosi, die mit geistlichem Werk befaßt sind, haben als Sorgwalter nicht nur für das Seelenheil, sondern für Bestand und Wohl der Gesellschaft den Vorrang, und es kommt den weltlichen Ständen zu, durch die Arbeit ihrer Hände für sie zu sorgen und ihnen zu dienen 26.

Ich glaube mich nicht zu täuschen, daß noch die großen Prediger der Frührenaissance, S. Bernardin von Siena und S. Antonin von Florenz 27, in diesem Punkt die gleiche Auffassung vertraten. Sie haben zwar die Tatsachen des Frühkapitalismus ganz genau analysiert und haben in subtiler Kasuistik auseinandergesetzt, daß das Verbot des Leihzinses die Möglichkeit der Rechtfertigung des Profits offenläßt; sie haben ferner die «industria», den Eifer, den Fleiß, die schöpferische Arbeit der neuen Unternehmer positiv bewertet und als Preisbestandteil der Ware anerkannt 28. Aber ich finde kein Zeugnis, daß sie darum nun den geistlichen die weltlichen Stände

gleichgeordnet hätten, wenn auch Antonin ihnen offenbar eine eigene vocatio, eine eigene Berufung zuerkennt 29. Man möchte wohl gerne wissen, was im Kloster von San Marco besprochen wurde, wenn sich dort der Gründer der Mediceer-Dynastie und der Erzbischof von Florenz und der Maler-Mönch von Fiesole, wenn sich Cosimo und S. Antonin und Fra Angelico trafen; aber schon daß es im Kloster geschah, zwingt zu dem Schluß, daß auch der Herrscher von Florenz die Religiosi noch als den höheren Stand empfunden und anerkannt hat.

Wenn dies so ist, —ich spreche mit aller Vorsicht, da bei dem Überreichtum der Quellenschriften mir manches entgangen sein mag —, dann liegt die Deutung nahe, daß die Scholastik als Summe der mittelalterlichen Philosophie stark genug gewesen ist, um noch alle neuen Elemente in sich aufzunehmen, daß aber Dante's Rangordnung auch noch die ihre gewesen ist und daß daher trotz aller Condottieri und Capitani auch die hierarchische Ständeordnung noch unangetastest in Geltung stand. Katholisch-christlich wie Europa gewesen ist, konnten nur Revolutionäre, die durch den Panzer der Scholastik hindurch auf das Evangelium selbst zurückgriffen, einen geistigen Umsturz der Werte und der Ordnungen herbeiführen. Das tat die Mystik, taten die Reformationen und tat politische Reaktion auf politische Revolution.

Es ist nahezu unmöglich, einzelne Elemente dieser Bewegungen und Gegenbewegungen zu isolieren. Aber mir scheint doch die generelle Aussage möglich, daß sie samt und sonders sich zwar noch im europäischen Raum bewegen, indessen von zentrifugalen Kräften getrieben sind. Innerhalb der Christenheit regen sich die «nationes», so wie sie es einstmals schon zur Sprengung des römischen Imperiums getan hatten — die nationes, repräsentiert bald durch machthungrige Fürsten, bald durch aufständische Bauern oder Werker, bald durch gottselige Mystiker, bald durch kirchenfeindliche Gläubige, bald durch reformatorische Individualisten. Dies ist der Grund, aus dem sich nun auch unsre Betrachtung einengen muß auf den Raum der deutschen Sprache. Die Klesis war universal, die vocatio war europäisch gerichtet. Nachdem das Evangelium in die verschiedenen Sprachen und ihren «dolce stil nuovo» übertragen wird, kann die innere Spannung, welche in dem grundlegenden Satz des Korintherbriefes liegt, nur dort weiterwirken, wo in der nationalen Sprache der gleiche Gehalt zum Ausdruck kommt. Das ist weder in der englischen 30, noch in der französischen, noch in der italienischen Sprache der Fall, sondern

nur in der deutschen —eben: Berufung und Beruf.

Zunächst ein Wort über die deutsche Mystik. Ich vermag nicht zu beurteilen, welche Breitenwirkung die Predigten und Schriften von Eckart, Tauler, Seuse hatten; aber daß zumindest Tauler viel gelesen wurde und auf mehrere Generationen seines Ordens, der Dominikaner, einen starken Einfluß hatte, scheint gewiß, und also dürfte es bedeutungsvoll gewesen sein, daß er lehrte: Jegliche «Kunst oder Werk», worin einer wirkt, jedes Amt ist eine Gnade, und wer es recht ausübt, der folgt der «Ladung», folgt dem «Ruf». Die Schätzung der weltlichen Arbeit, die hierin zum Ausdruck kommt, geht so weit, daß Tauler von sich selbst sagt: wäre er nicht Priester, so hielte er es für eine große Sache, Schuhe zu machen und sich mit eigenen Händen sein Brot zu verdienen. So eisern an dem Vorzug der vita contemplativa vor der vita activa festgehalten wird, so selbstverständlich noch innerhalb der «Rufe» der Vorzug des Mönchtums ist — es dürfte doch so sein, daß die wachsende Schätzung der weltlichen Berufe die hieratische Gesellschaftslehre der Hochscholastik langsam auflockerte 31. Wenn zur Zeit des Reichstags von Worms in der Umgangssprache allgemein bereits das Wort «Ruf», im Sinn von

«Stand» gebraucht wurde 32, dann lag hierin unbewußt doch wohl schon ein Ersatz eines harten statischen Wortes durch ein andres, das grade kraft seines religiösen Ursprungs dynamische Möglichkeiten in sich trug.

Es ist eine erschütternde Tragödie, wie das katholische Europa, das in der italienischen Wiederbelebung der Antike sich menschlich, geistig, künstlerisch zur schönsten Vollendung rüstet, nun im Namen Christi zerstört, wie es durch Staaten- und Klassen-Kämpfe, durch Eiferer und durch Fanatiker so durcheinandergewirbelt wird, daß heute nur noch Trümmer von Europa übrig sind und der Glanz des Abendlandes am Horizont versunken ist. Zwei revolutionäre Formen des Rückgriffs auf das Evangelium sind in diesem Zusammenhang von schicksalsschwerer Bedeutung für ganze Jahrhunderte. Zunächst der Rückgriff auf die Apostelgeschichte. Überall dort, wo der neue Reichtum des Frühkapitalismus aufreizend auf Handwerker, Taglöhner, Bauern wirkte, fand man eine Stütze im Leben der Urgemeinde: die Jacquerie in Frankreich, John Ball in England, die Wiedertäufer in Münster und die aufständischen deutschen Bauern des 16. Jahrhunderts, sie alle haben von dorther das Eigentum zu befehden und Gemeineigentum aller in allem zu fordern gelernt. Und im deutschen Raum, wo nach Nietzsches Wort oftmals ein großes «Umsonst» Werk und Wirkung ist 33, geschah das Verhängnisvolle, daß diesen Bauern ein anderer Revolutionär entgegentrat, der die Ordnung von

Papsttum, Bischofskirche, Scholastik zerbrach, aber zur Begründung seiner weltlichen Ordnung auf den Römerbrief zurückgriff und dadurch die Reaktion der «Stände» gegen die revolutionären Klassen christlich rechtfertigte 34.

Luther hat offenbar nur allmählich sich zu seiner Erkenntnis durchgerungen, daß die Mönche, daß die Religiosi nach keiner Richtung hin einen höheren Stand besitzen. Aber schon in der Vorlesung über den Römerbrief betont er, daß die Pflichten jedes Amts ein «Ruf» sind und daß sie zu erfüllen ein Gottesdienst ist, der nicht um des Gebetes willen vernachlässigt werden darf. Und in dem berühmten Sendschreiben von 1520 «An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung» wird schon, in scharfer Wendung gegen die «Romanisten», mit allem Nachdruck erklärt: es sei eine römische Erfindung, zwischen einem geistlichen Stand, der Papst, Bischof, Priester, Klostervolk umfasse, und einem weltlichen Stand der Fürsten, Herren, Handwerker und Ackerleute zu unterscheiden. «Dan alle Christen sein wahrhafftig geystlichs stands und ist unter yhn kein unterscheyd denn des ampts halben allein» 35. Und an anderer Stelle heißt es, es gebe keinen anderen Unterschied als «den des ampts odder wercks halben» 36. Dieser

neuen anti-hierarchischen Ordnung entspricht es, wenn Luther 1522 das Wort «Beruf» in seiner neuen Bedeutung von Amt oder Stand prägt und wenn von hier an zwischen Berufung und Beruf geschieden werden kann. Während Luther in der Bibelübersetzung noch die Klesis in «Befehl und Ruf» übertragen hatte, erhält daher jetzt, erst jetzt, der Korintherbrief seine bleibende deutsche Prägung: ein Jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist.

Es dauert nur drei Jahre, da begibt sich das Grauenerregende, daß dieser Satz des Paulus, der in der Erwartung der baldigen Wiederkehr des Herrn geschrieben ist, dazu dienen muß, um die zeitlichen Mißstände und die ständischen Mißbräuche zwar nicht zu rechtfertigen, doch gegen die menschliche Gegenwehr zu verteidigen. Es ist in den bald 4 1/2 Jahrhunderten, die seitdem verflossen sind, so viel über den Bauernkrieg und über Luthers Stellung zu Adel und Bauern geschrieben worden, daß hier nur das in unserm Zusammenhang Wesentliche hervorgehoben sei. Schon in der «Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben» steht als Erwiderung auf den dritten Artikel der Bauern der Satz 27: «Es soll keyne leybeygene seyn, weyl uns Christus hat alle befreyet? Was ist das? das heyßt Christliche

Freyheyt ganz fleyschlich machen... leset S. Paulen, was er von den knechten, wilche zu der zeyt alle leybeygen waren, leret.» Und schon vorher 38: «... wie Paulus sagt. Eyn ijgliche Seele solle der oberkeyt untertan seyn mit furcht und ehren.» Und weiter 39: «Denn weltlich reich kan nicht stehen, wo nicht ungleicheyt ist ynn Personen, das etliche frey seyn, etliche gefangen, etliche herren, etliche unterthan etc. Wie S. Paulus sagt, Gala. u. das ynn Christo herr und knecht eyn ding sey.»

Etwas Rätselhaftes wird immer in Luthers Verhalten bleiben. Am wahrscheinlichsten ist doch wohl, daß er wirklich die Empfindung hatte 40: der Teufel, der ihn bisher nicht durch den Papst habe umbringen können, versuche nun, ihn durch «die blutdürstigen mordpropheten und rotten geyster» zu vertilgen und aufzufressen. Aber es bleibt, was schon die Zeitgenossen empfanden, zumindest befremdend, in welche teutonische Berserkerwut er sich dann in seiner Schrift «Wider die Rotten der Bauern» hineinsteigert. Alle uns nun bekannten Schriftstellen müssen die Verdammung der Bauern begründen. Ihre Sünde ist, daß sie der Obrigkeit den Gehorsam verweigern 41: damit haben sie «verwirckt leyb und seel». Ihre Sünde ist ferner, daß sie sich aufs Evangelium für ihre Forderung berufen, daß «alle ding frey und gemeyne geschaffen» sind und darum wieder werden müssen; denn das Evangelium mache ausschließlich die Güter derer gemein, welche «solchs williglich von Yhn selbst tun wollen» 42. Der Fürst und Herr muß hierbei bedenken, daß er «Gottes amptman und seyns zorns

diener ist»; daher ist ihm «das schwerd yber solche buben befohlen» 43. «Sölch wunderliche zeytten sind itzt, das eyn Fürst den hymel mit blutvergissen verdienen kann, bas denn andere mit beten» 44. «Menschenopfer unerhört» 45 hatte die Verbreitung des christlichen Glaubens schon gekostet. Aber seit der Apokalypse ist wohl kein solch blutrünstiger Aufruf in die Welt gegangen wie hier, wo dem Fürsten als sein Amt, als sein Beruf gewiesen wird: Steche, schlage, würge... 45.

Angesichts solcher Worte scheut man sich fast vor der Behauptung, daß die Entwicklung einer Berufsethik eine der großen Leistungen aller Protestantismen gewesen ist. Dennoch besteht zu Recht, was vor allem Max Weber, aber auch Sombart und Troeltsch über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Sekten, über die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese und über die Bedeutung der asketischen Rationalisierung des gesamten Berufslebens für den «Geist» des Kapitalismus als Soziologen, als Wirtschafts- und als Religionshistoriker gelehrt haben. Und die erwähnte Haltung von Luther beleuchtet nur den tiefen Grund, aus dem von Calvin und dem Puritanismus her der stärkere Antrieb kam als vom Luthertum. Luthers gleichzeitige Absage an das Täufertum, an die Bauern und an den Humanismus war wie seine Ehe wohl ein Zeichen, daß nicht nur seine revolutionäre Epoche abgeschlossen war, sondern daß er bewußt nun im Religiösen eine tunlichst 47 traditionalistische, im Politischen

eine tunlichst konservativ-reaktionäre Stellung bezog. Mit Begriffen einer späteren Zeit läßt sich sagen: der ordre positif, die geltende Ordnung, erschien ihm nicht nur als ordre naturel, als natürliche, sondern als gottgewollte Ordnung, und infolgedessen war es die religiöse Pflicht jedes Menschen, seinen weltlichen Beruf so gut als möglich auszufüllen und in dem Stand, in den er hineingeboren war, ergeben auszuharren. Es kam hinzu die nicht bezweifelte Auslegung des Römerbriefs als Gebot, sich in jede weltliche Obrigkeit, weil von Gott, gehorsam zu fügen. So legte der kirchliche Revolutionär die Grundlage für die wirtschaftliche und politische Ethik des getreuen Bürgertums der deutschen Duodezstaaten.

Die Impulse der frühkapitalistischen Unternehmer-Wirtschaft waren, gepaart mit der Wirkung der aus den neuentdeckten Kontinenten einströmenden Edelmetalle und sonstigen Reichtümer, so außerordentlich stark, daß begreiflicherweise immer wieder die Frage gestellt wird, ob es wirklich der protestantischen Berufsethik zum Aufschwung des Kapitalismus bedurfte 48. Ein Blick auf Spanien, scheint mir, nötigt zu einem uneingeschränkten Ja. Die Menschen von damals brauchten noch das jetzt weitgehend verlorene «gute Gewissen» — nicht als spätbürgerliches sanftes Ruhekissen, sondern um gewiß zu sein, daß sie nicht dem Teufel verfallen waren. Und also war es nicht gleichgültig, daß Jesu Verdammung des Mammons in den fernen Rang einer erbaulichen Parabel rückte, daß der Reichtum nur für Zwecke der Fleischeslust

noch als Sünde galt, daß es aber erlaubt und geboten ist, für Gott zu arbeiten, um reich zu sein 49.

Daß Luthers neues Wort «Beruf» eine sehr glückliche Prägung gewesen ist, haben offenbar seine theologischen Freunde sofort erkannt. Melanchthon hat das Wort an drei wichtigen Stellen der Confessio Augustana gebraucht 50, und ihre weite Verbreitung hat gewiß dazu beigetragen, daß sich das Wort im deutschen Sprachgebrauch einbürgerte. Aber wenn festgestellt wird 51, daß durch Luther der hohe Klang des Wortes auch in der heutigen Schriftsprache unverbraucht fortwirkt, so möchte der Soziologe gern wissen: wie haben denn abseits des kapitalistischen Bürgertums die Menschen, deren Gewerbe nun als Beruf anerkannt war, empfunden und reagiert?

Kein Zeugnis ist darüber zu finden. Es mag manches Mal so gewesen sein, daß Menschen, die aus dem bergenden Kosmos des Mittelalters herausgestürzt waren, sich nur schwer auf einer Erde zurechtfänden, auf der sie nun als Person, als individuelle Person sich behaupten sollten. Vielleicht hatten die frommen Handwerker, welche die kleinen und großen Figuren der gotischen Dome schufen, ein beseligendes Gefühl der Gottgefälligkeit ihres Werks, das nun in protestantischen Landen verlorenging. Vielleicht hatten die arti in Italien und die «Corporations des arts et métiers» in Frankreich eine stärkere Verbindung zu Kunst und Kultur als die Zünfte der puritanischen Länder. (Schon das Wort «Zunft» bedeutet ja

nur das «Ziemliche», die für eine Genossenschaft sich «ziemende» Ordnung.) Aber das sind nur Vermutungen. Auf der andern Seite ist gewiß, daß Luther und Calvin dem Handwerker ein ganz neues Selbstbewußtsein vermittelten, das sie zumindest der Geistlichkeit gegenüber nun mit dem Anspruch der Gleichberechtigung auftreten ließ.

Von Hans Sachs gibt es schon aus dem Jahre 1524 eine «Disputation zwischen einem Chorherren und Schuhmacher» 52, bei der der Schuster mit erstaunlicher Sicherheit «das Wort Gottes und ein recht christlich Wesen» gegen den Geistlichen verficht. Das Wort «Beruf» kennt Sachs noch nicht. Aber im Eingang der «eigentlichen Beschreibung aller Stände auf Erden» von 1565 wird das Wort «Stand» durchaus im Sinn von «Beruf» verwendet 53:

darbei man ihn erkennen kann,
ob er seim Stand hab recht getan.

Und vielleicht hat doch der «kapitalistische Geist» schon Einzug gehalten, wenn der Buchbinder also charakterisiert wird:

Ich bind mancherlei Bücher ein,
geistlich und weltlich, groß und klein,
Etlich verguld ich auf dem Schnitt,
da verdien ich viel Geldes mit.

Die «Stände auf Erden» des Hans Sachs sind nun auch

darum interessant, weil ihre Aufzählung einen dem Wirtschaftshistoriker bekannten Tatbestand beleuchtet, der den Theologen beider Konfessionen entgehen mußte. Gleichviel ob man in der Verschiedenheit der Ämter und Stände wie die Thomistik einen Ausfluß der «natürlichen» Ordnung und Arbeitsteilung sah oder wie die Protestantismen das Naturrecht strich, —immer bestand die Neigung, das jeweils Bestehende für das dauernd Bleibende zu halten, es fehlt der Sinn für den Wandel der Berufe. So kennt Hans Sachs einen besonderen Stand der «Reißer» und der «Furmenschneider», ferner einen Stand der Papierer, welche «Hadern zu der Mühl» sammeln — alles Berufe, von denen heute wie von unzähligen anderen zu sagen ist, daß sie ausgestorben sind. Allgemein gesprochen: die Zünfte, welche als Gewerbsverbände weit ins Mittelalter zurückreichen, nehmen die verschiedensten Berufe in sich auf; aber sie können den Beruf nicht perennieren, sondern keine, wo auch immer hergeleitete und wie auch immer gestaltete Ordnung kann ihn am Leben erhalten, wenn er durch die technische Entwicklung, die oft noch durch eine Änderung des Geschmacks in ihrer Wirkung verstärkt wird, seinen Arbeitsansatz verliert. Die verschiedenen industriellen Revolutionen haben mit den alten Berufen mörderisch aufgeräumt 54 und im Vergleich dazu wenig neue geschaffen.

Was ist nun das Wesen dieser Berufe, die nicht mehr von einer göttlichen Ordnung her, sondern im Rahmen der menschlichen Aufteilung der Arbeit bestehen und vergehen? Vermutlich ist die Zahl nicht groß, in denen ein Gefühl der Berufung nachhaltig wirkt — der Beruf des Königs, des Fürsten, des Geistlichen, des Mönchs ist noch häufig, doch durchaus nicht immer aus der Masse der anderen Berufe hierdurch herausgehoben. Für die anderen Berufe besteht die Notwendigkeit, sich in einer bestimmten Fertigkeit auszuweisen, die durch Lehr- und Gesellenzeit erworben wird, wobei es leicht vorkommen kann, daß man einen Beruf lernt, ohne in die Zunft aufgenommen zu werden, die einer immer enger umgrenzten Zahl von Meistern vorbehalten bleibt. Anders gesagt: je mehr der Beruf seinen Charakter als Berufung verliert, um so mehr wird er zur «Profession» — um so mehr wird er zum bloßen Erwerbs- oder sogar zum Profitberuf.

Beruf — daran sei erinnert — ist keineswegs gleichbedeutend mit Erwerb 55. Die Klesis, die Paulus, und der Beruf, den Luther im Auge hatte, war dazu da, den Menschen ihre Nahrung, ihren Unterhalt zu verschaffen. Erst der Kapitalismus hat die Sucht nach Mehr, nach mehr «Verdienst», nach mehr Profit von den Unternehmern ausgehend allmählich auf alle Stände und Klassen verbreitet.

Aber es gab und gibt noch immer «brotlose Berufe», und der Beamte früherer Zeit, der sein Gehalt, oder der Offizier, der seinen Sold bezog, hat zumeist mehr in der Ehre als im Einkommen seine Vergütung erhalten —sein Beruf war und ist manchmal auch heute noch kein eigentlicher Erwerbsberuf. Daneben gibt es dann umgekehrt reine Profitberufe wie den des Agioteurs oder den des Spekulanten, um nur einige besonders sinnfällige zu nennen.

Grade bei den Berufen, die nicht Erwerbsberufe sind, wird man bis in dieses Jahrhundert hinein eine eigene Berufsethik feststellen können. Gewiß keine lutherische und keine calvinistische Berufsethik mehr; denn daß der Berufserfolg Zeichen der Heilsgnade ist — dieses dogmatische Bewußtsein ist längst verblaßt. Aber was man früher den «Kodex» des Beamtentums oder den «Kodex» des Offiziersstandes nannte — dieser Ehrenkodex war, solch äußerliche, bis ans Lächerliche grenzende Formen er manchmal angenommen hat, doch der letzte Nachglanz der hohen Berufsethik des Beginnes.

Ein verwandter Nachglanz zeigte und zeigt sich im Gewerbe. Auch dort gab und gibt es Berufsehre; sie äußert sich vor allem darin, daß kein Angehöriger des Berufs gegen den überkommenen Maßstab der Qualität verstoßen darf. Darüber hinaus kann, zumal dort, wo eine Sektenbindung vorliegt, die Aufrechterhaltung der Kreditwürdigkeit zur Berufsehre gehören.

Überall verbindet sich mit der Berufsehre ein spezifischer Berufsstolz, der aus den verschiedensten Elementen sich zusammensetzen kann. Er kann sich auf die individuelle Leistung gründen, er kann aus der besonderen Bedeutung eines Berufs im augenblicklichen Wirtschafts- oder Gesellschaftsgefüge herrühren, er kann

völlig irrationale, historische 56 oder sogar magische Ursprünge haben. Aber er besitzt bis in die Gegenwart eine solche Kraft, daß er innerhalb von einheitlichen Klassen oder Gewerkschaften plötzliche Rangkämpfe hervorrufen kann.

Je mehr aber der Beruf im Zeitalter des Kapitalismus der Berufung fernrückt, um so mehr wird er Kennzeichen einer Vielzahl von Menschen. Die Berufung kann einem Einzelnen zuteil werden —ja in vor- und außerchristlicher Welt trifft sie immer nur einen Einzelnen. Wo dagegen heute nur Einzelne oder nur Wenige einen Beruf bekleiden — etwa den Beruf des Monarchen oder des Präsidenten —, liegt es entweder so, daß es sich um einen letzten Beruf handelt, in den man hineingeboren wird, oder um ein einzelnes Amt, dessen Bekleidung zum Beruf wird. Der Regel nach aber ist «Beruf» Kennzeichen und Bezeichnung einer Menschen-Gruppe, welche die gleiche Tätigkeit ausübt und hierdurch eine bestimmte Funktion innerhalb von Wirtschaftsordnung und Wirtschaftstechnik ausübt. Mit dieser Funktion kann ihre Stellung innerhalb der Sozialordnung zusammenfallen. Daß sie es nicht notwendig tut, ist eine der Unterlagen für jenen Vorgang, den Hegel, und mit größerem Gewicht Marx, als die Entfremdung des Menschen bezeichnet hat.

Selbst wenn man nicht mit Marx die Auffassung teilt, daß das verlorene Eigentum an den Produktionsmitteln

die Schuld daran trägt, daß dem Arbeiter die Freude an der Produktion und dem Genuß des Produktes geraubt wird 57, so bleibt doch Schillers Aussage unantastbar, daß die getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte, welche für das Ganze der Welt notwendig sein mag, die Individuen, die sie trifft, unter dem Fluch dieses Weltzwecks leiden macht 58. Für unseren Zusammenhang enthält dies die Erkenntnis Indem der Beruf seine ethische Bedeutung verliert und das Wort im Gefolge der industriellen Revolution nur noch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gleicher Tätigkeit bedeutet, wird der Mensch, der aus dem Kosmos des Mittelalters herausgeschleudert war, nun auch noch aus dem ethischen Gehäuse vertrieben, das ihm zwei bis drei Jahrhunderte lang Stand und Schutz geboten hatte. Wenn die Philosophie des Idealismus dem Beruf dadurch neuen, tragenden Inhalt zu geben sucht, daß sie in ihm den Raum sieht, in dem der Mensch seine Persönlichkeit und seine Menschlichkeit entfalten kann, so hat sich dies als Rettungsversuch mit sehr untauglichen Mitteln erwiesen; denn der so gefaßte Beruf hat sich als eine der Formen gezeigt, in denen Grillparzers düstere Voraussicht sich erfüllte: Von der Humanität zur Bestialität... 59

Aber auch wenn die Völker innerlich verarmen und

wenn der Glaube der Vordem schwach wird, so hat die Gottheit noch immer einen Menschen gefunden, der ihr Gefäß und Stimme war — wie in Israel die Propheten, so im deutschen Sprachraum die Dichter. In der gleichen Zeit, in der im weltlichen Bereich der Beruf seinen geistigen Charakter verliert, schreibt Schiller in dem als Gedicht so schwachen, aber als Bilderbuch seiner Welt so aufschlußreichen «Lied von der Glocke» die Verse:

Und dies sei fortan ihr Beruf,
Wozu der Meister sie erschuf!

Nicht mehr der Mensch, sondern die Glocke hat nun den Beruf, «selbst herzlos, ohne Mitgefühl», dem Schicksal die Zunge zu leihen 60.

Im gleichen Jahr 1799, in dem die «Glocke» entstand, veröffentlicht Schiller in seinem Musenalmanach das hymnische Gedicht eines jungen schwäbischen Landsmanns «An unsre großen Dichter» 61 — einen Aufruf an die Dichter, vom Schlummer die Völker zu wecken, die jetzt noch schlafen. Als Hölderlin aus dem Keim dieser zweistrophigen die weitausladende Blüte einer sechzehnstrophigen Ode entwickelt, trägt diese den Titel: Dichterberuf 62. In Worten, in denen das Alte wie das Neue Testament durchschimmert, wird der Dichterberuf umschrieben. Zu Sorg und Dienst ist den Dichtenden anvertraut, daß sie, die dem Höchsten zu eigen sind, ihn immer neu besingen und in befreundeter Brust vernehmen. Der Gott ergreift die Locken und der schöpferische, göttliche Genius nimmt Besitz von dem Berufenen. Aber

Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon,
Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht...

Wo immer Hölderlin von den Dichtern spricht oder von sich selbst — das Wort «Dichterberuf» könnte stets darüber stehen. Ich muß es mir versagen, die schöne Hymne «Wie wenn am Feiertage.. .» 63 ganz vorzulesen; doch mögen einige Verse der letzten Strophe von jener hohen Auffassung zeugen, die den Dichter der Zukunft mit den Propheten der Vorzeit verbindet:

Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen und dem Volk ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.

Hier ist wieder Berufung und ist Beruf, und in diesem seltsamen 19. Jahrhundert, in dem allerorts zugunsten des Fortschrittglaubens so viel vom positiven Glauben und vom geistigen Erbe der Vergangenheit verschleudert und vertan wurde, ist das Bewußtsein der besonderen Berufung der hohen Dichter, bisweilen eines Berufenseins bis zur Verdammnis, in ganz Europa wach und mächtig 64. Es wäre eine sehr lohnende Aufgabe, dies im einzelnen zu verfolgen — bei Heine wie bei Nietzsche, bei Baudelaire wie bei Gotthelf, dem Mann der dreifachen

Berufung zum Dichter, zum Prediger und zum Politiker, bei Albert Verwey 65 in Holland und bei Waclaw Lieder in Polen, und schließlich am stärksten bei dem größten deutschen Dichter des neuen Jahrhunderts, bei Stefan George.

Doch um den Rahmen unserer Betrachtung nicht zu sprengen, sei nur eine Tatsache hervorgehoben: gleichviel worin der deutsche Dichter ein Neubeginn ist, für die hier geschilderte Entwicklung bedeutet er ein Ende. Denn von Luther an war das Wort «Beruf» ein Wort der protestantischen Sphäre, und dies ist es geblieben, auch wenn es von katholischen Schriftstellern und Gelehrten übernommen wurde. Rätselhafterweise ist während drei Jahrhunderten der katholische Volksteil ohne schöpferische Sprache —zwischen Balde und George gibt es keinen katholischen Dichter deutscher Sprache von Rang. Aber indem nun in George das Katholische wieder Sprache, Ausdruck, Form gewinnt, tut es dies in seinen urchristlichen und in seinen vorchristlichen Elementen. Das ließe sich durch Nebeneinanderreihung aller Stellen zeigen, in denen Berufene (oder Unberufene) genannt werden — manchmal der von der Gottheit Erwählte, manchmal der vom Gründer Erkorene —, das ist der neue Sinn von «Kür und Sende».

Während derart die Berufung und der Beruf in der Dichtung wieder in einem zwar nicht geistlichen, doch geistigen, nicht religiös-konfessionellen, doch religiös-meta-physischen

Kreis zu den Ursprüngen zurückkehren, verliert der weltliche Beruf die letzten Reste der ethischen Färbung, die ihn auch in der Spätzeit der Protestantismen noch ausgezeichnet hatten. Schon Nietzsche hat ein fast regelmäßiges «Mißverhältnis zwischen dem sogenannten Lebensberufe und der Disposition dazu» festgestellt, «dem ersichtlichen Nichtberufensein» 66. Und noch kurz vor der Umnachtung schreibt er in der «Götzendämmerung» im gleichen Abschnitt, in dem er Jakob Burckhardts gedenkt — «ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität» 67 —, daß eine höhere Art von Menschen nicht «Berufe» liebt, «genau deshalb, weil sie sich berufen weiß...».

Das ist geschrieben in einer Zeit, in der der Aufschwung des Hochkapitalismus mit fortschreitender Arbeitsteilung und verstärkter Maschinisierung bereits eine Spezialisierung der alten Professionen im Gefolge hatte. Ein Vierteljahrhundert später, als diese Tendenzen sich überstürzen und überdies durch die Verbreitung der Elektrizität und aller mechanischen Fortbewegungsmittel fast Jahr für Jahr neue Professionen entstehen, gibt Max Weber für den «Beruf» die neue, «wertfreie» Definition des Soziologen 68: «Beruf soll jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person heißen, welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance ist.» Es kümmert uns hier nicht, ob diese Definition richtig, das heißt

in Max Webers Sinn: brauchbar ist. Sondern sie ist uns als solche wichtig, weil sie mit schonungsloser Nüchternheit zeigt, wie wenig in diesem 20. Jahrhundert noch von der alten Berufsauffassung übriggeblieben ist — nichts von Berufung, nichts von Stand, nichts von Qualifikation —, keine vocatio, nur occupatio, nur Tätigkeit und Erwerb.

Es ist daher erstaunlich, daß 1908 noch ein solch scharfsichtiger Beobachter der Gesellschaft wie Georg Simmel meinen konnte 69: damit es überhaupt einen Beruf gebe, müsse eine, «wie auch immer entstandene, Harmonie zwischen dem Bau und dem Lebensprozeß der Gesellschaft auf der einen» und «den individuellen Beschaffenheiten und Impulsen auf der anderen» Seite vorhanden sein. Nein — eine «harmonische» Lebensordnung, das war vielleicht eine Wirklichkeit des Mittelalters und war ein Traum des klassischen Liberalismus und der klassischen Nationalökonomie. Aber je mehr sich die industrielle Gesellschaft entwickelte, um so mehr blieb nur das sehr brüchige Gerippe eines Zweckzusammenhangs übrig, von und für tausend und aber tausend «Berufe», das heißt Professionen. Darum fing jetzt eine herrliche Zeit für die Statistik an. Schon die deutsche Berufszählung von 1907 unterschied über 14000 Berufsbezeichnungen; 1925 wurde ein Schema entwickelt, nach dem die Berufe in 7 Wirtschaftsabteilungen, diese in 27 Wirtschaftsgruppen und diese in 166 Wirtschaftszweige aufgegliedert wurden, innerhalb deren dann die verschiedenen Stellungen der Arbeitenden zu unterscheiden waren

Man sieht leicht, wie viel lohnende Arbeit hier nicht nur für den Statistiker sich anbietet, sondern ebenso für den Soziologen und den Oekonomen, der Freude an sauberen Scheidungen hat und der diese Voraussetzung jeder Wissenschaft schon für ihr Wesen oder mindestens für seinen «Beruf» hält 70a. Jetzt gibt es außerdem im Sprachgebrauch den Berufsanwärter wie den Berufsverbrecher 71, nun gibt es Berufsberater und Berufsschulen, Berufsgruppen und Berufsverbände, wobei die statistische Gruppe durchaus nicht immer mit der soziologischen oder der gewerkschaftlichen zusammenfällt. Je weiter die

Spezialisierung fortschreitet, um so mehr findet eine Aufteilung alter Berufe statt. An die Stelle des einzigen Schlosser-Berufes treten z. B. die Berufe des Kunstschlossers, des Autoschlossers, des Bauschlossers, des Maschinenschlossers uw. — Berufes die in manchen Ländern noch eine einheitliche Grundausbildung haben, in anderen von der Lehre an voneinander getrennt sind.

Indessen ist die Entwicklung auch über diesen Punkt schon hinausgeschritten. Wenn man vor 30 Jahren von einem Bauschlosser sprach, so war das ein Mann, der seine Lehre als Bauschlosser durchgemacht und die Gesellenprüfung bestanden hatte und der nun «in seinem Beruf» tätig war — aber heute arbeitet er vielleicht als Hilfsarbeiter in der Chemie. Wenn man von einem Friseur oder einem Bäcker sprach, so galt in der Vergangen. heit Entsprechendes — aber heute arbeitet der eine wie der andere vielleicht als Handlanger im Baugewerbe. Was haben diese Leute nun für einen «Beruf»? Das ist sehr schwer zu sagen; denn sie selbst wissen oft keine Antwort. Auch wenn die Berufszählung sie als Hilfsarbeiter oder Handlanger qualifiziert, so nennen sie auf die Frage nach ihrem Beruf meist denjenigen, den sie gelernt haben. Ein Arbeiter, dem in einer durchautomatisierten Fabrik die wichtige Beobachtung der Schaltlampen übertragen ist und der diese Funktion schon jahrelang ausübt, antwortete auf die Frage nach seinem Beruf: Bäcker — ein anderer: Eisenbahner. Was hat das zu bedeuten?

In solchen Tatsachen und Antworten zeigt sich ein neuer Gefahrenpunkt der Gesellschaft der alten Industriestaaten Europas. Vermutlich existiert er dort nicht, wo keine mittelalterliche Berufstradition vorhanden ist; in den Vereinigten Staaten, wo ein Arbeiter beliebig oft

seinen «job» wechselt, dürfte es anders sein und wohl auch in Sowjetrußland. In unseren Zonen aber tritt das Auseinanderklaffen von Berufslehre, Berufsbewußtsein und Erwerbstätigkeit, die sich nun kaum mehr als Berufstätigkeit charakterisieren läßt, uns als sehr bedenklich entgegen. Zwar läßt sich sagen, daß schon bei den unendlich vielen Teilverrichtungen in einer Fabrik die Herausbildung eines Berufsbewußtseins ausgeschlossen war. Aber ein Mädchen, das in einer modernen Strumpffabrik arbeitet, ist endgültig nicht mehr Strumpfmacherin, sondern Fabrikarbeiterin. Und wer am Fließband z. B. einer Automobilfabrik tätig ist, ist ebenso Fabrikarbeiter und nicht Nieter oder Dreher oder Schweißer, selbst wenn er in seiner Arbeitsgruppe zufällig oder dauernd diese Tätigkeit ausübt. Indessen ist der Bruch in diesem letzten Beispiel dann besonders beachtlich und gefährlich, wenn —gleichviel ob am Fließband oder an der automatischen Steuerung oder wo auch immer —ein gelernter Arbeiter, das heißt: ein Arbeiter, der einen handwerklichen oder sonstigen «Beruf» gelernt hat, eine Tätigkeit übernimmt, für die seine frühere Lehre gleichgültig ist und die meistens überhaupt keine Lehre, sondern nur einige Gelehrigkeit voraussetzt. Dann wird, wenn ein altes Berufsbewußtsein vorhanden war, dieses kaltgelegt, und jedenfalls: es wird kein neues Berufsbewußtsein geschaffen. Ohne dieses aber kann es auch keinen Berufsstolz geben. Ein Berufsstolz des Fließbandarbeiters ist eine contradictio in adiecto. Stolz ist für ihn allenfalls noch möglich auf die Geschwindigkeit oder das Quantum der Leistung seines Arbeitskollektivs 72.

Seien wir uns ganz klar, daß hier nicht eine technische Neuerung vorliegt, die sich an frühere bruchlos anschließt, sondern daß hier eine menschliche und gesellschaftliche Wandlung von noch nicht absehbarer Bedeutung und von noch nicht absehbaren Folgen anhebt. Was ist noch vom Korintherbrief geblieben? Er ist weit in die Vergangenheit gerückt, versunken wie der christliche Aion, den er heraufzuführen half. Wer ist nun noch berufen? in einen Beruf berufen? wer bleibt in seinem Beruf? Im alten jüdisch-christlichen Sinn niemand von uns, und gewiß auch sonst nicht mehr viele Menschen der Alten Welt. Aber soziologisch vielleicht noch bedeutsamer ist die Tatsache, daß auch im bürgerlichen Sinn der Protestantismen eine positive Antwort schwer und selten sein dürfte. Die übergroße Mehrzahl der Menschen hat eine Tätigkeit, hat eine Profession, hat eine bestimmte Stellung im Büro oder in der Fabrik, in der Werkstatt oder in der Verwaltung, der angestellte Generaldirektor wie der angestellte Kassierer, der Handlanger auf dem Bau sowie die Sekretärin an der Maschine, der Pedell in der Universität wie der Beamte in einem Ministerium. Aber keiner hat hierdurch einen Stand oder gar ein Standesbewußtsein, keiner einen sicheren Rang in einer fest gegliederten Gesellschaft. Selbst wir Professoren, die wir noch dankbar und oft allzu stolz darauf sind, einen echten Beruf auszufüllen —wir müssen nur einen Blick nach USA richten, um zu sehen, wie wenig soziales Ansehen dort unsre Profession besitzt. Und es genügt ein kurzer Blick auf die kurze Zeit des Tausendjährigen Reichs, um zu bescheidener Stille zu mahnen; denn außerhalb von Holland und Skandinavien — wie klein ist die Zahl der Charaktere gewesen, die sich mannhaft als professores erwiesen haben! 73 Nein — es ist schlicht und

ehrlich zuzugeben: die bürgerlich-kapitalistische Zeit hat ganz generell die Begabung, das Charisma jeder Form zurückgedrängt und hat mit ihrer «Entzauberung der Welt», mit ihrer Entwicklung zur rationalen «Sachlichkeit» das «Berufsmenschentum», das «Fachmenschentum» herangebildet, das Max Weber 74 als unentziehbares Endziel erschien, das die Bürokratisierung aller Herrschaft und schließlich auch der Wirtschaft selbst erleichterte und förderte und das jedenfalls der bürgerlichen Erwerbsarbeit mit Reichtumshäufung auf der einen und Armenpflege auf der anderen Seite aufs beste entsprach. Aber so wie diese bürgerlich-kapitalistische Zeit die letzten Reste des Feudalismus aus den letzten Schlupfwinkeln vertrieben hat, so kündet sich nun gerade in der Wandlung von Beruf und Berufsarbeit (und von Arbeit und Freizeit überhaupt) ein neues Zeitalter an, das nicht schonsamer umgehen wird mit den Zielen und Werten der jüngsten Vergangenheit als vordem diese nach rückwärts.

Liegt hierin eine Begründung für jenen Kulturpessimismus 75, wie er in Resteuropa aus den verschiedensten Quellen gespeist wird? Eine Begründung wohl. Aber an ihrer Stichhaltigkeit ist zu zweifeln. Auch wenn wir ganz gewiß zum «Abschied von der bisherigen Geschichte» 76

genötigt sind, so bedeutet das, wenn nicht Atombomben die Menschheit vernichten oder gar die Erde zerstören, in keiner Weise das Ende aller Geschichte. Und es ist durchaus nicht einzusehen, warum nicht der Berufsmensch mit seiner Arbeitsverbissenheit bis zum Herzinfarkt abgelöst werden sollte durch ein menschliches Wesen, das wieder seine Freude hat an der Schönheit der Welt und — am Müßiggang. Noch ist nicht zu wissen, wie es sich eines Tages auswirken wird, daß im Gefolge der Automation und der Verkürzung der Arbeitszeit die Menschen nicht mehr unter dem jüdisch-christlichen Gebote stehen, im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot zu verdienen 77. Noch hat die sogenannte Freizeit — die Zeit, die frei von Arbeit ist —keinen positiven Inhalt und besteht die Gefahr, daß sie reglementiert, bürokratisiert, terrorisiert wird. Noch hat «müßig sein» den Hintersinn, daß man eigentlich beschäftigt sein sollte. Noch wirkt in uns allen die puritanische Berufsethik insoweit nach, daß wir unbesehen an die Wahrheit des Sprichworts glauben: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Aber hat nicht Nietzsche Recht gehabt, wenn er der Gesellschaft seiner Zeit die «Unfähigkeit zum otium» 78, zur Muße, vorwarf und wenn er in der Fähigkeit zur Muße eines der auszeichnenden Merkmale wahrhafter Vornehmheit erblickte?"

Die Zukunft zu wissen ist heute niemandem gegeben. Aber noch niemals hat die Losurne nur schwarze Lose enthalten. Und selbst wer ein schwarzes zieht, hat nach Platons religiösem Wissen die Möglichkeit und die Aufgabe, sich im Leben auf dieser Erde zu bewähren. Ob er sich «berufen» fühlt, das vermag ihm nicht mehr der Glauben des alten Aions zu sichern. Indessen auch in dem ungeheuren Weltkreis mit der Milliardenzahl seiner Bewohner wird das Volk der Christen, selbst zum kleinen Häuflein geworden, das Wissen um seine besondere Klesis weitertragen. Und gleichviel in welcher Stärke und in welcher Form in den übrigen Teilen der Welt die «Berufenen» vor den «Gleichen» zusammenschmelzen, immer wird es Unterschiede der Anlage geben, immer wird die göttliche Mania sich ihre Träger erküren, und immer wird in wechselnder Gestalt die ewige Wahrheit 80 sich neu verleiben:

Thyrsosträger sind viele, doch wenige Bakchen.

So war es, so ist es und so wird es bleiben. Und also mag der Begriff des Berufs seinen Inhalt weiter ändern und seinen alten Gehalt gänzlich verlieren; doch immer wird es, von wechselnder Herkunft und zu wechselnder Aufgabe, einen Ruf und Gerufene, die Auserlesenen neuer Berufung geben.