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Die ökumenische Aufgabe heute im Lichte der Kirchengeschichte Das Ineinander von Universalismus und Konzentration als ökumenisches Problem

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 29. November 1968
Verlag Helbing & Lichtenhahn Basel 1968

© 1968 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG, Basel

I

Wenn ich hier zu Ihnen über die ökumenische Aufgabe heute im Lichte der Kirchengeschichte spreche, so meine ich mit «heute» die Zeit nach dem 2. Vatikanischen Konzil. Ich muß mich dabei aus Zeitgründen auf die protestantische und die katholische Konfession beschränken. Um nicht einem billigen und oberflächlichen Modeökumenismus zuzusteuern, dürfen die Kirchen sich gerade heute nicht damit begnügen, irgendeine äußere Einheit zu verwirklichen, sondern sie müssen sich über das Ziel des Ökumenismus genau Rechenschaft ablegen und müssen die Gefahren kennen, von denen dieser heute, wie ich meine, bedroht ist.

Das Ziel muß darin bestehen, daß die Harmonie des Evangeliums in der Einheit und durch sie zum Ausdruck komme. Wir werden daher zunächst fragen: worin besteht diese Harmonie nach Aussage des Neuen Testaments? Um aber auch die Gefahren zu kennen, die den Ökumenismus von diesem Ziel heute abzulenken und darüber hinaus das Christentum in Frage zu stellen drohen, scheint mir nichts aufschlußreicher zu sein als die Geschichte der entstehenden Kirche im 2. Jahrhundert. Wenn irgendwo, so läßt sich hier die Aktualität der Geschichte aufzeigen. Denn damals, wo es noch keine konsolidierte Kirche gab und noch alles ungeschützt im Flusse war, stürmten sozusagen sämtliche Gefahren, die je und je bis heute den Fortbestand des Evangeliums in der Welt von innen her bedrohen, auf die sich konstituierende Christengemeinschaft ein. In

deren damaliger Abwehr ist sozusagen die Thematik der Kirchengeschichte vorweggenommen. Die Kräfte der Auflösung sind nicht verschwunden. Sie liegen heute aber nicht so offen zutage wie damals. Eben darum kommt der Kenntnis jener Geschichte für das heutige ökumenische Handeln der Kirche eine so große Bedeutung zu.

Wir definieren jene Gefahren im Hinblick auf das ihnen Gemeinsame vorläufig als verschiedenartige Tendenzen, durch die die Harmonie des Evangeliums und infolgedessen früher oder später dieses selbst zerstört wird. Es handelt sich um die Harmonie zweier scheinbar gegensätzlicher Kräfte, der Konzentration und des Universalismus, wobei der einen eine ebenso große Bedeutung zukommt wie der anderen. Harmonie ist ein Wort, dem wir zunächst mit Argwohn begegnen. Bedeutet es nicht Kompromiß? Vor diesem Mißverständnis möchte ich von vornherein warnen, wenn von der Harmonie zwischen Konzentration und Universalismus des Evangeliums die Rede ist. Der Radikalismus der vom Evangelium geforderten Konzentration auf die entscheidende Glaubensmitte wird in der hier gemeinten Harmonie gerade nicht im Sinne eines Kompromisses abgeschwächt, sowenig wie der Universalismus. Das Zentrum der neutestamentlichen Botschaft ist eine an Christi Person und Werk gebundene Aussage, die in ihrer kompromißlosen Radikalität dem menschlichen Denken zunächst als ein «Skandalon», als eine Ärgernis erregende Zumutung erscheint. Auf diese Mitte muß sich der christliche Glaube immer von neuem konzentrieren. Es gehört nun aber zum Wesen dieser Mitte, daß von ihr wie von einem winzigen und doch unsagbar intensiv leuchtenden Punkt Strahlen zu allen Punkten des universalen Geschehens in der Geschichte und sogar im Kosmos ausgehen. Wo deshalb die Konzentration auf die Mitte nicht zugleich zum Blick auf diesen Universalismus

führt, kann auch nicht wirklich von Konzentration auf die tragende Mitte eines Ganzen die Rede sein, worin allein der Sinn solcher Konzentration liegt.

Das Ineinander dieser Konzentration und dieses Universalismus durchzieht das ganze Neue Testament. Es ist das Thema der Heilsgeschichte. Es geht auf das Alte Testament zurück und ist dem Judentum und Christentum gemeinsam, die beide gerade deshalb als einzige Religionsgemeinschaften von der allgemeinen Religionsmengerei der Antike nicht aufgesogen worden sind.

Wie in den beiden Testamenten der innere Zusammenhang von Konzentration und Universalismus zum Ausdruck kommt, soll im folgenden wenigstens kurz umrissen werden. Im Alten Testament hat Gott in allem, was er tut, fast ausschließlich das von ihm erwählte Volk im Auge. Nach und nach aber wird diese Konzentration auf das auserwählte Volk als göttliches Mittel zur Einbeziehung der Gesamtheit der Völker und darüber hinaus der ganzen Schöpfung verstanden: Konzentration also als göttliches Mittel zur Erreichung des universalistischen göttlichen Zieles. — Im Neuen Testament wird diese alttestamentliche, vor allem in der prophetischen Geschichtsschau begegnende Verbindung von Konzentration und Universalismus aufgenommen und mit äußerster Konsequenz zu Ende geführt. Die Konzentration bezieht sich nun nicht mehr nur auf ein Volk, sondern auf den Einen, Jesus Christus. Dieser radikalen Reduktion entspricht die Absolutheit des Universalismus: Christus der Heiland der Welt! Jesus verachtet nicht die von den Juden verworfenen Samariter, und er spricht davon, daß es in dem von ihm verkündeten kommenden Gottesreich den Heiden besser ergehen werde als den «Söhnen des Reiches». Und doch erkennt er den Weg des göttlichen Plans an, der über Israel geht: zu seinen Lebzeiten soll sich seine Verkündigung

zuerst an die «verlorenen Schafe des Hauses Israel» wenden. —Jesus bekämpft die gesetzliche Tradition der Pharisäer und Schriftgelehrten, und doch gehorcht er dem Gesetz. Er bekämpft den engen Legalismus, und doch «erfüllt» er jedes Gebot durch die radikale Konzentration auf die eine Mitte, das Liebesgebot. —Jesus ist in gewissem Sinne ein Revolutionär, und doch distanziert er sich ganz entschieden von den Revolutionären seines Landes, den antirömischen Widerstandskämpfern, den Zeloten. Jede vereinfachte, heute so beliebte Etikettierung widerspricht der historischen Wahrheit, weil sie nicht beachtet, daß gerade die Radikalität des Evangeliums die Verbindung zum Gesamtplan Gottes nicht aus-, sondern einschließt 1. Dies wird auch in der neutestamentlichen Forschung der Gegenwart nicht immer konsequent genug beherzigt, so daß hier und da allzu schnell nur die eine Aussagenreihe der Evangelien als echt bezeichnet, die andere aber späterer Gemeindebildung zugeschrieben wird.

Das Ineinander von Konzentration und Universalismus läßt sich wie aus den Evangelien, so auch aus den übrigen Schriften des Neuen Testaments ohne Mühe erkennen. Paulus hat während seiner ganzen Aposteltätigkeit gegen die Zerstörung dieses Ineinander von seiten der judaistischen Christen seiner Zeit gekämpft. Er hat zwar wie kein anderer die Konzentration auf Jesus Christus gepredigt und hat im Blick auf Person und Werk Jesu das Kreuz als das eigentliche, eine Zentrum herausgestellt. Aber gerade die radikale Konzentration auf diesen «Stein des Anstoßes», wie er sagt, der für die Weisheit der Welt «Torheit» sei, führt ihn zum weltweiten Universalismus: das Evangelium ist

nicht gebunden an gesetzliche Einschränkungen, sondern es steht in der Freiheit des Geistes allen Menschen offen. Und doch genügt es anderseits, Röm. 9-11 zu lesen, um sich davon zu überzeugen, daß Paulus die permanente Rolle Israels im Heilsplan Gottes anerkennt.

Der Verfasser des Johannesevangeliums stellt das einmalige, in Christus verwirklichte Heilsereignis in den weitesten, universalsten Rahmen, indem er die Selbstmitteilung, das Sprechen Gottes im Wirken und Leben Jesu Christi mit seinem uranfänglichen Sprechen in seiner Schöpfung identifiziert: «im Anfang war das Wort». Zugleich aber reagiert gerade dieses Evangelium gegen alle geschichtslose, eines Zentrums entbehrende Spekulation, indem es die weltumspannende Weite an das Wirken des historischen Jesus bindet. Das Schöpfungswort ist identisch mit der in einem Augenblick der Geschichte in Jesus fleischgewordenen Selbstoffenbarung Gottes.

Den stärksten Ausdruck findet das Ineinander von Konzentration und Universalismus in dem für Paulus wie für das Johannesevangelium so wichtigen Glauben an den Heiligen Geist. Auch hier Konzentration auf eine zentrale, in der Gemeinde erlebte Glaubenserfahrung, aber dieser gleiche Geist überwindet alle Schranken starrer Gesetzlichkeit, alle Grenzen der Sprache und des Herkommens, und er weht, wo er will.

Die hier kurz beschriebene Harmonie der neutestamentlichen Botschaft war von Anfang an in Gefahr, zerstört zu werden, indem bald die Konzentration, statt auszustrahlen, sich verhärtete und damit aufhörte, das dynamische Zentrum zu sein, bald der Universalismus den Kontakt mit dem lebenspendenden Zentrum verlor und in haltlosem Aufgehen in weltlichen Formen sich in allgemeinen blutleeren Spekulationen äußerte. Das Christentum hatte, wie wir im Neuen Testament sehen, von Anfang an gegen diese Gefahren zu kämpfen. Paulus

gegen die judaistische Verengung, die Johannesschriften gegen die gnostisch überspannte Weite.

In der Folgezeit hat zwar keine Kirche die ursprüngliche Harmonie ganz verloren, aber keine stellt das Ineinander von radikaler Konzentration und Universalismus in ihrer Reinheit dar. Die eine betont auf Grund der ihr verliehenen charismatischen Eigenart stärker die Konzentration, die andere stärker den Universalismus. Darum bedarf die eine der Ergänzung durch die andere, und schon jetzt können wir sagen, daß von hier aus die unmittelbare ökumenische Lösung nicht in einer vorzeitigen Fusion zu suchen ist, sondern in dem gegenseitigen Bewußtsein, daß die eine Kirche der andern neben sich bedarf, und zwar in engem Kontakt mit ihr.

Lebensgefährlich für den christlichen Grundcharakter einer Kirche und für ihre ökumenische Ergänzungsfähigkeit wird die Trübung der ursprünglichen Harmonie des Evangeliums erst dann, wenn sie so weit fortschreitet, daß der Universalismus zum Synkretismus wird, die Konzentration zur Verengung. Synkretismus ist die Karikatur des christlichen Universalismus, Verengung die Karikatur der christlichen Konzentration. Zum Synkretismus kommt es dann, wenn überhaupt kein Zentrum mehr da ist, wenn das Evangelium nicht als Mitte, sondern aus falschem universalistischem Bestreben heraus, sich der ganzen Welt anzugleichen, nur als ein Element neben vielen anderen Religionen und Philosophien erscheint. Dabei wird gerade das Zentrum des christlichen Glaubens, das ja in seiner Radikalität ein Skandalon ist, so weit beschnitten, bis es in diese Allerweltsreligion, in der es unvermeidlicherweise untergehen muß, hineinpaßt.

Zur entgegengesetzten tödlichen Gefahr, der Verengung, kommt es dann, wenn die Konzentration aufhört, ein Mittel der Ausstrahlung zu sein, wenn etwa ethnische Gebundenheit oder äußere Organisation so

verabsolutiert werden, daß Riten und Gesetzlichkeit zu einer Abkapselung von der Welt führen; wenn eine Dogmatik und eine Ethik entstehen, die den Weg zur Welt nicht finden können. Ein derartiges Christentum kann sich nicht als Kirche in der Welt entfalten. Es wird zur Sekte.

II

In dreifacher Ausprägung treten uns die genannten beiden Gefahren, die wir im Hinblick auf die heutige ökumenische Aufgabe kennen müssen, im 2. Jahrhundert entgegen: 1. in der Verengung, die das Judenchristentum darstellte durch den Rückfall in eine Gesetzlichkeit, wie sie schon im spätjüdischen Pharisäertum als Entstellung des legitimen Gedankens der Erwählung Israels erscheint; 2. im Gnostizismus, der im Gegenteil die Einbeziehung eines seiner Substanz entleerten Christentums in die allgemeine Religionsmengerei erstrebte; 3. in der besonderen Art von Verengung, wie sie Marcion und auf andere Weise Montanus bewirkten, wo zwar ein spezifisch christliches Element betont wird, aber verabsolutiert und von der Ganzheit des Evangeliums isoliert.

Es kann hier keine Rede davon sein, daß wir diese drei so wichtigen Versuche einer extrem einseitigen Orientierung des entstehenden Christentums sowie den Abwehrkampf gegen sie im einzelnen darstellen. Wir müssen uns darauf beschränken, die für unsere Fragestellung in Betracht kommenden Punkte hervorzuheben.

Die Verengung des Evangeliums durch das sich abkapselnde Judenchristentum hat die frühe Christenheit von der ersten Stunde an bedroht. Schon die Paulusbriefe sind beredte Dokumente der aus dieser Bedrohung sich ergebenden Auseinandersetzung. Wir haben es beim Judenchristentum mit falsch verstandener

Konzentration auf ein falsch bestimmtes Zentrum zu tun. Die Judaisten unter den ersten Christen haben nicht begriffen, daß in der christlichen Verkündigung die Reduktion auf das eine Zentrum Jesus Christus jede ethnische Einschränkung gerade ausschließt, daß sie alle rituell gesetzlichen exklusiven Bestimmungen gerade aufhebt, weil diese in Christus erfüllt und damit abgetan sind, und daß der radikalen Reduktion ein radikaler Universalismus entspricht. Die Freiheit von der Bindung an den Tempel, wie sie die Gruppe der sogenannten Hellenisten in Jerusalem unter Anführung des Stephanus predigte, haben sie unterdrückt, die Freiheit von aller Gesetzlichkeit, wie sie Paulus unter Hinweis auf die Tat Christi und den Heiligen Geist so entschieden vertrat, haben sie mit allen Mitteln bekämpft. Nach dem Fall Jerusalems im Jahre 70 trieben sie die judaistische Verengung so weit, daß sie im Rahmen ihrer monarchischen Struktur an ihrer Spitze nur noch leibliche Verwandte Jesu duldeten und daß sie die gesetzlich-rituellen Bestimmungen verschärften und vermehrten. Gerade dadurch, daß sie sich als die allein legitime Kirche und Nachfolgerin der Urgemeinde ausgaben, verloren sie den Kontakt mit der übrigen um diese Zeit sich in der Heidenwelt rasch ausbreitenden Christenheit, entwickelten sie sich statt zur Weltreligion zur jüdischen Sekte, und gingen sie schließlich unter. Dennoch lebt auch nach diesem Untergang der judenchristlichen Gemeinschaft im 2. Jahrhundert die Gefahr einer judaistischen Verengung des Evangeliums, wenn auch in milderen Formen, innerhalb der Kirche fort. Wir werden uns daran erinnern müssen.

Die zweite Gefahr, die gnostische, die das Christentum auch von der ersten Stunde an bedrohte, zeigte die genau entgegengesetzte Tendenz: nicht Verengung, sondern überspannte Weite. In vollem Bewußtsein, der ganzen Komplexität dieser Bewegung damit nicht gerecht

zu werden, definiere ich sie im Hinblick auf unser Problem grosso modo als einen bewußten, durch eine philosophische Spekulation zusammengehaltenen Synkretismus, als dessen Offenbarer Jesus ausgegeben wird. Derartige Synthesen üben immer eine große Anziehungskraft auf das menschliche Denken aus, und es mochte im 2. Jahrhundert schwer sein, den Weg des Gnostizismus als einen Irrweg zu erkennen, zumal er von großen christlichen Denkern begangen wurde und es noch keine Instanz gab, die über Rechtgläubigkeit entschied. Hier erst schien das Evangelium zu seiner rechten Weite durchzudringen. Die Kirche soll ja zur Welt sprechen. Wurde das Christentum der Welt nicht dann erst glaubhaft gemacht, wenn Anhänger der anderen Religionen und der verschiedenen Philosophien ihre eigenen Überzeugungen in diesem Gebilde wiederfanden? Und doch war dies, sofern der Anspruch auf Christlichkeit erhoben wurde, ein Pseudo-Universalismus. Denn es fehlte ihm gerade das spezifisch christliche Zentrum. Das Skandalon, das im Neuen Testament die Mitte ausmacht, die überallhin ausstrahlt und so einen christlichen Universalismus begründet, konnte in jener Synthese keinen Platz finden. So entstand zwar ein System, das von der damaligen Welt begriffen werden konnte, das aber nicht die Botschaft war, deren Zentrum Paulus als Torheit, bezeichnet und über die die Athener auf dem Areopag lachen. Alle Historiker sind darin einig, daß das Christentum wie die anderen Religionen der Antike vom Synkretismus aufgesogen worden wäre, wenn der Gnostizismus gesiegt hätte. Mit sicherem Instinkt haben die großen Kirchenväter des 2. Jahrhunderts, Justin, Irenäus, Tertullian und andere, diese Gefahr erkannt. Der Gnostizismus, die Gefahr des Synkretismus ist damals behoben worden. Aber wiederum müssen wir sagen: sie ist bis heute nicht verschwunden.

Die dritte Gefahr, die im 2. Jahrhundert die Harmonie des Evangeliums bedrohte, bedeutete wiederum eine Verengung, allerdings ganz anderer Art als die des Judenchristentums. Denn nun stehen legitime und tatsächlich zentrale Elemente der neutestamentlichen Verkündigung in der Mitte. Aber diese spezifisch christlichen Glaubensüberzeugungen werden statt zum Zentrum, das mit der ganzen Fülle des Evangeliums verbunden ist, zu Elementen der Ketzerei, weil sie verabsolutiert und isoliert werden. So ist Marcion, dieser große kleinasiatische Christ aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, der wie kaum einer die Neuheit der christlichen Botschaft verstanden hat, zum Ketzer geworden. Er war so erfüllt von der Größe des Evangeliums von der Gnade Gottes, daß er die Identität des gnädigen Gottes Jesu Christi mit dem gerechten Gott des Alten Testaments energisch bestritt und das Alte Testament sowie alle von judenchristlichen Aposteln verfaßten neutestamentlichen Schriften ablehnte. Seiner Überzeugung nach ist das Evangelium nicht gemäß einem Plane Gottes in der Geschichte Israels vorbereitet, sondern in Christus ganz neu erschienen. Als einzig wahren Interpreten des Evangeliums von der Gnade läßt Marcion unter den Aposteln nur Paulus, unter den Evangelisten nur dessen Schüler Lukas gelten. Die Harmonie zwischen Konzentration und Universalismus ist mit dieser gewaltsamen Reduktion zerstört. Obwohl Marcion insofern ein echter Reformator war, als er eine radikale Konzentration auf ein echtes Zentrum in einer Zeit durchführte, als dieses aus dem Auge verloren zu gehen drohte, mußte er doch zum Ketzer werden. Diese Form der Häresie ist daher die verführerischste, aber auch die tragischste von allen.

Die gleiche Art von Verengung wie bei Marcion —freilich in ganz anderer Ausprägung — begegnet uns bei Montanus und der von ihm hervorgerufenen gewaltigen

Bewegung, die die ganze damalige Christenheit mitzureißen schien. Wenn Reformation in erster Linie Konzentration auf eine legitime christliche Mitte ist, so war auch Montanus ein echter Reformator. Dennoch hat auch er durch Isolierung dieser Mitte das Evangelium entstellt. Er hat die entstehende Kirche, die sich allzu behäbig in der Welt einrichtete, daran erinnert, daß das Evangelium das Vergehen dieser Welt verkündet, und im Zusammenhang damit hat er die gleiche Kirche, die bereits allzu starre Institutionen — vor allem im kirchlichen Amt — zu schaffen begann, an die Freiheit des Heiligen Geistes erinnert. Mit dieser Konzentration auf echtestes Evangelium hat Montanus einerseits die falsche Weite, wie sie sich in der allzu großen Verweltlichung der Kirche kundtat, anderseits die kirchliche Verengung in allzu starren Institutionen bekämpft. Und doch sind bei ihm weder die Enderwartung noch die Betonung der Geisteswirkungen zu Brennpunkten der Universalität des Evangeliums geworden. Denn er hat sie schwärmerisch isoliert und überspannt. Das Kommen des Gottesreiches hat er datiert und sogar geographisch in Kleinasien lokalisiert 2 und hat dabei vergessen, daß das Neue Testament bei aller Ausrichtung auf das kommende Gottesreich doch ethische Weisungen für den noch gottgewollten Rahmen dieser Welt der Gegenwart gibt. Den Heiligen Geist hat er nur in enthusiastischen Ausbrüchen wirken gesehen, während Paulus bei aller Betonung der für den Dienst in der Kirche notwendigen Geistesgaben darauf doch auch eine äußere Ordnung aufgebaut hat. So ist der Montanismus im Lichte des Evangeliums mit Recht als gefährliche Verengung erkannt und ausgeschieden worden. Aber die Gefahr auch dieser Art von Verengung besteht weiter fort, und zwar keineswegs nur für die Sekten mit

ihrer häretischen Isolierung durchaus echter Teile der christlichen Botschaft, sondern auch für die Kirchen, die doch im allgemeinen den Blick für das Ganze bewahrt haben.

Der Abwehrkampf gegen die dreifache Zerstörung der Harmonie, von der wir gesprochen haben, ist im 2. Jahrhundert mit außerordentlicher Heftigkeit geführt worden. Die Kirchenväter, die ihn ausfochten, haben mit der schon erwähnten bewundernswerten Sicherheit erkannt, daß diese Gefahren von innen für die christliche Gemeinschaft ebenso tödlich waren wie die staatlichen Verfolgungen von außen. Es mußte zum Kampf um das richtige Verständnis der biblischen Botschaft kommen, wie das Neue Testament selbst ja bereits erfüllt ist vom Kampf gegen die judaistische Verengung einerseits, gegen die Vorstufen des Gnostizismus andererseits. Innerkirchliche Kämpfe dürfen keineswegs als Zeichen der Dekadenz betrachtet werden. Die großen Zeiten der Kirchengeschichte sind weithin Zeiten des Kampfes gewesen. Das sollte man, wenn man von der berüchtigten «rabies theologorum» spricht, nicht vergessen.

Die Kirche hat mit ihrem Sieg über die auflösenden Tendenzen das Evangelium gerettet. Mit Recht ist von den Kirchenhistorikern hervorgehoben worden, daß sie im 2. Jahrhundert zugleich einen dreifachen Wall gegen sie aufgerichtet hat: den neutestamentlichen Kanon, das Credo, das kirchliche Amt. Hier möchte ich diese drei Schutzwälle nur im Zusammenhang mit unserem speziellen Problem «Konzentration — Universalismus» wenigstens kurz charakterisieren.

Zunächst zum neutestamentlichen Kanon: Gegenüber der unübersehbaren Flut von apokryphen christlichen Schriften legendärer und vor allem gnostischer Natur war eine strenge Konzentration auf das Echte nötig. Von daher kann die Entstehung des neutestamentlichen Kanons als das Ergebnis einer Reduktion

gegenüber aller falschen Weite bezeichnet werden. Zugleich aber reagierte die frühe Christenheit durch Ausbildung des Kanons gegen die Verengung, die bei Marcion vorliegt, der nur noch Paulus und Lukas gelten ließ. Der Bibelkanon ist so die Charta aller wahren Konzentration christlicher Verkündigung, die den Universalismus impliziert. Er ist daher für alle Zeiten das Instrument wahrer Reform, und die Tatsache, daß die Kirche vom 2. Jahrhundert an sich diese Norm inkorporiert hat, kann in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden.

Die zweite Norm ist das Credo: Die Bibel enthält außerordentlich verschiedenartige Elemente, zentrale und periphere, und es ist nötig, in ihnen selbst ein Zentrum aufzuzeigen: das ist die Funktion des im 2. Jahrhundert aufgestellten Bekenntnisses, und wir werden sehen, daß wir auch aus diesem Prozeß der Konzentration Wichtiges für die heutige ökumenische Situation lernen können.

Die dritte Norm ist das kirchliche Amt. Mit seiner Ausbildung reagierte die Kirche gegen eine Anarchie des Geistes, wie sie etwa im Montanismus, aber hier und da auch späterhin gelehrt und praktiziert wurde.

III

Die Kirche besitzt also seit dem 2. Jahrhundert die Mittel, die sie davor zu bewahren vermögen, der Auflösung der Harmonie des Evangeliums jemals ganz anheimzufallen. Dennoch ist es immer wieder an entscheidenden Stellen zu Verengung oder Synkretismus gekommen, und beide Gefahren begleiten die Kirche weiterhin. Der Kampf gegen die Verengung hat oftmals zur Überspannung des Universalismus geführt, so daß synkretistische Elemente auftauchten, während es im

Kampf gegen den Synkretismus immer wieder zur Überspannung der Konzentration, also zur Verengung gekommen ist.

Trotz der Eliminierung des Gnostizismus in Lehre und Leben hat die Kirche, deren weltweite Bestimmung in der Bezeichnung «katholisch», also «universal», zum Ausdruck kommt, die Anpassung an die Welt oft zu weit getrieben. So konnte schon im Altertum heidnischer Aberglaube ins Christentum eindringen, und mancher Theologe respektierte in seiner Lehre nicht das, was Paulus das notwendige «Skandalon», die «Torheit» nannte. Im Mittelalter schreitet diese synkretistische Entwicklung gewaltig fort im Heiligen- und Reliquienkult sowie in der Anpassung der Theologie an die damaligen philosophischen Denkformen. Indem manche an sich nicht illegitime Traditionen sich vielfach ungeschützt und autonom entfalteten, drohte der Bibelkanon seine richterliche Funktion der Ausscheidung synkretistischer Elemente zu verlieren. — Neben den synkretistischen Elementen haben sich aber auch verengende eingeschlichen, wie sie beispielsweise im Judenchristentum vorhanden und von Paulus bekämpft worden waren. Sie leben im Zusammenhang mit der an sich berechtigten Abwehr anarchischer Geistesauffassungen wieder auf in Form einer Überbetonung des juridischen Elements in der Kirche mit ihren Folgen auf ethischem Gebiet und der vergöttlichten Institution.

Dennoch ist die Kirche immer wieder reformfähig, weil sie in Kanon und Credo die Normen der harmonischen Verbindung von Konzentration und Universalismus besitzt. Aus der Zahl der im Laufe der Jahrhunderte erfolgten Reaktionen gegen eine allzu weit getriebene Weltförmigkeit einerseits und gegen eine institutionelle Verengung der Kirche anderseits greife ich die Mönchsbewegung heraus. Mit ähnlichem Bestreben wie zu seiner Zeit der Montanismus geht sie letzten Endes

aus radikaler Kritik am Wesen der überorganisierten und in der Welt allzu heimisch gewordenen Kirche hervor. Aber nun geschah das Bedeutsame, daß die Kirche echt universalistisch die in dieser Kritik an ihr selber zum Ausdruck kommende Konzentration nicht bekämpfte, sondern sich einverleibte und ihr auf diese Weise die extreme und gefährliche Spitze nahm.

Dagegen vermochte sie die im 16. Jahrhundert von der Reformation verlangte Konzentration nicht aufzunehmen, so daß es zu der großen, für unsere ökumenische Situation so wichtigen Kirchenspaltung gekommen ist. Die Reformation hat im Blick auf die Gefahr einer allzu großen Weite in Leben und Lehre der Kirche sowie einer allzu großen Verengung in Juridismus und Struktur strenge Konzentration auf eine Mitte gepredigt: auf die Bibel und in ihr auf die Rechtfertigung aus dem Glauben. Mit dem selben Nachdruck, mit dem Marcion ins Zentrum des Christentums die Gnade Gottes, Montanus die christliche Hoffnung und den Glauben an den Heiligen Geist gestellt hatten, haben die Reformatoren sich auf die Rechtfertigung aus dem Glauben konzentriert. Allerdings haben sie sich im Unterschied zu den beiden großen Häretikern des 2. Jahrhunderts doch darum bemüht, von diesem Zentrum aus die Verbindungslinien zum ganzen Evangelium zu ziehen. Darüber hinaus haben sie von ihrem Bemühen um Konzentration aus ähnlich wie Montanus gegen die Verabsolutierung der Struktur der Kirche hinsichtlich Amt und Institution reagiert. Zugleich aber haben sie im Gegensatz zum Montanismus alle Anarchie des Geistes, wie sie von den Schwärmern des 16. Jahrhunderts vertreten wurde, bekämpft. In der doppelten Frontstellung, die nicht etwa Duplizität ist, haben die Reformatoren gerade ihren Sinn für die Harmonie des Evangeliums bekundet, und darin kommt ihre Größe zum Ausdruck.

Aber nun fragen wir: hat der Protestantismus die

Linie echter Konzentration eingehalten? Wir haben hier nicht darüber zu entscheiden, ob die Rechtfertigung aus dem Glauben zu Recht als das Zentrum der christlichen Verkündigung bezeichnet wird. Uns beschäftigt hier nur die Frage, ob der Versuch, von dem so bezeichneten Zentrum aus alle Elemente der neutestamentlichen Botschaft einzubeziehen, den Reformatoren und besonders ihren Epigonen gelungen ist. Bei einer Reihe der letzteren jedenfalls müssen wir doch feststellen, daß sie die biblische Zentrallehre isolieren, den christlichen Universalismus, die «Katholizität» der Kirche, aus dem Auge verlieren und das reformatorische Bibelprinzip mehr oder weniger nur noch in der erstarrten Form der fundamentalistischen Verbalinspiratlonslehre vertreten. Zugleich ist in der Folgezeit die von den Reformatoren ursprünglich gemeisterte Gefahr eines schrankenlosen Subjektivismus und einer im Namen der Freiheit des Geistes geforderten Ablehnung jeglicher äußeren Ordnung wieder aufgelebt. Im Neuprotestantismus bedroht dieser Subjektivismus je und je sogar das Zentrum der charismatischen Eigenart des Protestantismus, die Konzentration auf die Bibel und ihre Zentrallehre, und so taucht im Zuge des legitimen Bestrebens, das Evangelium der modernen Welt verständlich zu machen, paradoxerweise gerade die Gefahr der illegitimen Weite auf, die der Protestantismus doch gerade bekämpfen wollte und sollte.

Wir folgern: Das besondere Charisma des idealen Katholizismus sind die universalistische Ausstrahlung und die Gabe, das Evangelium mit äußeren Formen zu umgeben, die es vor Auflösung bewahren. Die besondere Gefahr des Katholizismus besteht einerseits in einem synkretistischen Aufgehen in der Welt, anderseits in einer juridischen Verengung in Lehre und Institution.

Das Charisma des klassischen Protestantismus ist seine Konzentration auf ein ausstrahlendes Zentrum

und die Betonung der Freiheit des Geistes. Seine Gefahr besteht einerseits in einer Erstarrung und Isolierung der Zentrallehre, anderseits in einem schrankenlosen Subjektivismus, der im Neuprotestantismus zuweilen zur Erweichung des zentralen christlichen Fundaments und zu allzu weitgehender Übernahme rein weltlicher, z. T. nicht assimilierbarer Normen geführt hat.

Wie stellt sich unter diesen Gesichtspunkten die heutige ökumenische Lage dar? Obwohl der Wandel in den Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken sich schon lange vor dem 2. Vatikanischen Konzil angebahnt hat, ist Entscheidendes doch erst durch dieses selbst herbeigeführt worden, zumal Johannes XXIII. das ökumenische Anliegen ja von vornherein als eines seiner Ziele proklamiert hatte.

Auf dem Konzil selbst, wie in der ganzen von ihm ausgelösten Konzilsbewegung, ging es um echte Reform. Denn im Rahmen des bisher Ausgeführten ist zu sagen, daß das Konzil sich besonders darum bemühte, im Blick auf die ökumenischen Beziehungen die beiden Gefahren zu bekämpfen, die dem Katholizismus von seinen besonderen Charismen her drohen: Gegenüber der synkretistischen Gefahr eines allzu weiten Aufgehens in der Welt wurde Läuterung von allen in die Tradition illegitim eingedrungenen Elementen erstrebt, also Konzentration. Gegenüber einer gesetzlichen und durch veraltete Ausdrucksformen verschärften Verengung in Lehre und Institution, die zur Isolierung von der Welt führte, wurde Anpassung an die moderne Welt auf der ganzen Linie erstrebt. Nicht nur geht ein besonderer Konzilstext (gaudium et spes) auf alle Belange der modernen Welt ein, sondern in allen Konzilstexten wurde eine Milderung der Starrheit der Dogmen und Institutionen, vor allem auch des päpstlichen Primats, versucht.

Diese letztere Aufgabe der Anpassung ist im Zusammenhang

mit dem von Johannes XXIII. gebrauchten Losungswort des «aggiornamento» vielfach irrtümlicherweise als die einzige Konzilsaufgabe hingestellt worden, zumal sie naturgemäß auf größeres allgemeines Interesse stieß. In Wirklichkeit wurde die andere Aufgabe, die der Konzentration, der Läuterung ebenso intensiv in Angriff genommen. Sie 'äußerte sich, obwohl das vielleicht aus taktischen Gründen nicht explizit gesagt wurde, ähnlich wie bei der protestantischen Reformation in Form einer Konzentration auf die Bibel: für jede Frage ging man auf die Bibel zurück. —Aus einer bisher nicht genug beachteten Stelle des Dekrets De oecumenismo ergibt sich ferner klar das bewußte Streben, der ganzen Glaubenslehre ein Zentrum zu geben, wie es nach unserer Betrachtungsweise ja unerläßlich ist und im 2. Jahrhundert in einem Credo seinen Niederschlag gefunden hat. In dem betreffenden Konzilstext wird gesagt, daß es eine «Hierarchie der Wahrheiten» gebe, daß also nicht allen Glaubenssätzen der gleiche Rang zukomme. Wenn diese Feststellung konsequent durchdacht und angewandt wird, wäre damit die Gefahr des Synkretismus weitgehend gebannt.

Diese Gefahr als solche ist freilich in mancher Hinsicht durch das Konzil zunächst eher akuter geworden. Denn es hat im Zusammenhang mit der mit Recht erkannten Notwendigkeit, die Veränderung der modernen Welt zu berücksichtigen, eine Verstärkung des Universalismus stattgefunden wie nie zuvor. Das Konzil kann als ein Versuch aufgefaßt werden, in die große Synthese des Katholizismus nun sozusagen außer der Orthodoxie auch den ganzen Protestantismus, der doch im Zeitalter der Gegenreformation aufs schärfste bekämpft worden war, mit seinem Biblizismus aufzunehmen, aber darüber hinaus auch die nichtchristlichen Religionen; und sogar der Atheismus findet seinen Platz; es gibt ja jetzt im Vatikan besondere Sekretariate

für die nichtchristlichen Religionen und für Atheismus, was an sich zu begrüßen ist. Wenn der Katholizismus nach einem viel früher geprägten Wort «complexio oppositorum» ist, so ist diese complexio nun vollständig.

Damit ist nun aber erst recht die Notwendigkeit der gleichzeitigen Konzentration auf ein christliches Zentrum gegeben, da sonst diese complexio eben nicht Harmonie, sondern Synkretismus ist. Das Konzil hat sich darum bemüht, aber angesichts der außerordentlichen Schwierigkeit dieser Aufgabe ist es ihm nicht überall gelungen, beim Reden in einer für die Welt verständlichen Sprache den Standort des Evangeliums nicht zu verlassen. Das Problem wurde aber durchaus gesehen. Erst in der Zeit nach dem Konzil machen sich Tendenzen bemerkbar, die da und dort bedrohlich in die Nähe des Synkretismus führen.

Es konnte nicht ausbleiben, daß sich bei der unbegrenzten Ausweitung des katholischen Universalismus die Versuchung und vielleicht die Notwendigkeit ergab, die Einheit zwischen diesen verschiedenen Elementen statt von innen, von der äußeren Organisation her zu wahren. So wurde die teilweise durchgeführte Aufgabe, den päpstlichen Primat durch die Kollegialität der Bischöfe zu mildern, schon auf dem Konzil und in seinen Texten von der deutlichen Tendenz durchkreuzt, ihn anderseits doch umgekehrt noch mehr zu betonen und dadurch die verengende Straffung noch weiter zu führen. Vor allem die Nachkonzilszeit mag diese Tendenz verstärkt haben, da sich jetzt wie einst auch bei der protestantischen Reformation am Rande extreme Bestrebungen bemerkbar machen, die seit dem Montanismus stets latent vorhanden waren und die sich im Namen der Freiheit des Geistes gegen den Absolutismus der Kirchenregierung auflehnen. Diese Bestrebungen haben naturgemäß die entgegengesetzte Reaktion hervorgerufen. So ist es in der katholischen Kirche zu einer

Krise der Autorität gekommen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Wir stellen jedenfalls fest, daß trotz der nicht zu unterschätzenden positiven Ergebnisse der Konzilsbewegung das Gleichgewicht zwischen Konzentration und Universalismus weiterhin von Synkretismus und Verengung bedroht bleibt, z.T. jetzt sogar in verstärktem Maße.

Auch im Protestantismus, dessen Wandlungen naturgemäß weniger von Konzilien bzw. ökumenischen Konferenzen ausgelöst werden, haben sich die vor dem Konzil schon vorhandenen Gefahren einer Zerstörung des Ineinander von Konzentration und Universalismus eher verschärft: einerseits, im konservativen Flügel: Erstarrung der Konzentration und als Folge davon Ablehnung eines jeglichen Universalismus, was sich auf dem Boden des Ökumenismus oft in einer unökumenischen Haltung und in der Verweigerung des Gesprächs mit dem Katholizismus zeigt; anderseits, im Neuprotestantismus: die Gefahr eines schrankenlosen Subjektivismus, der in seinen extremsten Formen — von dem durchaus berechtigten und notwendigen Streben aus, das Evangelium mit der modernen Philosophie zu versöhnen und es vor allem mit der technisierten modernen Welt zu konfrontieren — über kühne Umdeutungen zum Aufgeben christlicher Grundpositionen und neuerdings im Protestantismus Amerikas zur Proklamierung eines christlichen Atheismus führt.

Wie bestimmen wir angesichts dieser Lage die ökumenische Aufgabe heute? Wir haben gesehen, daß die Charismen der katholischen und der protestantischen Kirche verschieden sind und daß daraus auch verschiedene Gefahren einer einseitigen Entwicklung des betreffenden Charismas entstehen, die das harmonische Ineinander von Konzentration und Universalismus zu zerstören drohen. Daraus ergibt sich als ökumenische Aufgabe für die getrennten Kirchen, daß sie sich nicht

in erster Linie irgendeine Einheit zur Aufgabe machen, sondern daß jede für sich die Herstellung der ursprünglichen Harmonie erstrebe. Die Einheit soll sich daraus von selbst ergeben, wenn vielleicht auch erst in einer verhältnismäßig späten Zukunft. Wo jetzt eine rasche Fusion um jeden Preis gesucht wird, wird der falsche Universalismus, den wir Synkretismus genannt haben, in den Bereich des Ökumenismus selbst hineingetragen. Denn die Bemühungen um Einheit gehen dann auf Kosten derjenigen um echte Konzentration und echten Universalismus. Besonders groß ist die Gefahr, daß man sich etwa nur auf der Basis eines oberflächlichen Aktivismus statt vom Zentrum aus einigt und daß so ein Ökumenismus billigster Art, ein Pseudo-Ökumenismus, entsteht, in dem die Grundlagen des Christentums gemeinsam aufgegeben werden 3. Eine derartige Einigung wäre sinnlos und könnte nur zur völligen Auflösung des Christentums führen.

Darum soll die Aufgabe des Ökumenismus nicht in einer voreiligen Fusion der Kirchen bestehen, sondern darin, daß jede Kirche sich ihrer charismatischen Eigenart voll bewußt werde und diese reinige und vertiefe. Denn solche Läuterung wirkt aller Einseitigkeit entgegen, und man wird sich nicht am Rande, sondern im Zentrum finden: der ideale Universalismus des Katholizismus muß sich auf die Mitte des Evangeliums konzentrieren, die ideale Konzentration des Protestantismus muß ausstrahlen.

Diese Arbeit geschieht aber nicht von heute auf morgen.

Die Einseitigkeiten, von denen wir gesprochen haben, werden sich nur beheben lassen, wenn beide Seiten ihrer ganz bewußt werden. Dazu ist aber —jedenfalls vorläufig —die Existenz der beiden großen Konfessionen unumgänglich. Selbst wenn das, was der einen fehlt, auch in der anderen nicht in reiner, sondern einseitiger, also entstellter Weise vorhanden ist, wird es für beide wichtig sein, die andere zugleich als Ergänzung und als Warnung neben sich zu haben. Diese Koexistenz in gegenseitiger Ergänzung ist einer vorzeitigen Fusion bei weitem vorzuziehen, da bei einer solchen die genannten Einseitigkeiten nur verstärkt aufträten, solange sich nicht zuerst jede Kirche für sich um die Ergänzung bemüht hat. So glaube ich nicht — und die katholischen Theologen werden mir hierin zustimmen —, daß das 2. Vatikanische Konzil und seine Reformen möglich gewesen wären, wenn die katholische Kirche nicht die protestantische neben sich gehabt hätte.

Die Auseinandersetzungen in der Vergangenheit hatten, wie wir sahen, polemischen Charakter, und dies mag aufs Ganze gesehen oft notwendig gewesen sein. Die heutige ökumenische Aufgabe besteht darin, daß eine jede Kirche in engem friedlichem Zusammenleben und -arbeiten ihr eigenes Charisma so vertiefe und läutere, daß sie sich von selbst zur Anerkennung des Charismas der anderen gedrängt fühle, sich aber gleichzeitig die Entstellungen des Charismas der anderen Kirche zur Warnung dienen lasse. Die im Katholizismus besonders akuten Gefahren des Synkretismus und der verabsolutierten Institutionalisierung sollen eine Warnung für den Protestantismus sein und umgekehrt die im Protestantismus besonders akuten Gefahren der Verengung und des schrankenlosen Subjektivismus eine Warnung für den Katholizismus. Besonders aber soll sich jede Kirche positiv auf das Charisma der anderen besinnen: der Katholizismus auf die protestantische biblische

Konzentration und die Freiheit des Geistes, der Protestantismus auf den legitimen katholischen Universalismus und die Notwendigkeit einer legitimen Organisation. Falsch wäre es, wenn die eine Kirche nur um der äußeren Einheit willen statt der Charismen die Einseitigkeiten der andern nachahmen wollte. Damit würde sie gerade ihrer Aufgabe der andern gegenüber untreu 4.

Wird die ursprüngliche Harmonie, wie wir sie eingangs kurz darzustellen versucht haben, jemals ganz erreicht werden? Wohl kaum. Aber um ihr so nahe wie möglich zu kommen, scheint mir dieser Weg, auf dem man sich sozusagen aufeinander zu bewegt, ökumenisch richtiger als ein schwärmerisches Verwischen der Unterschiede. Die Einheit kommt gerade darin zum Ausdruck, daß jede Kirche sich bemüht, ihre ökumenische Aufgabe zu erfüllen: die christliche Verkündigung zugleich in ihrer radikalen Konzentration und ihrer universalen Ausstrahlung in Lehre und Leben auszurichten.