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Das Problem der Autorität der Zehn Gebote

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Gottfried W. Locher
Verlag Paul Haupt Bern 1968

Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1968 by Paul Haupt Berne
Printed in Switzerland
Druck: Paul Haupt Bern

Gott redete alle diese Worte und sprach:
Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine andern Götter neben mir haben.
Du sollst dir kein Gottesbild machen.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heilig haltest.
Ehre deinen Vater und deine Mutter.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren nach dem, was dein Nächster hat. Il. Mose 20, 1-17 (gekürzt)

Jesus sprach: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken.» Dies ist das grösste und erste Gebot.

Das zweite ist ihm gleich: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Matth. 22, 37-40

I. Die Frage. II. Vorläufige Antwort. III. Leitgedanken des Dekalogs. IV. Christus legislator. V. Gesetz und Geist.

I. Die Frage

Im Il. Buch Moses (Kap. 20) und im V. (Kap.5)1 wird ein uns allen bekanntes Dokument überliefert, das nach der dort gegebenen Darstellung die Mitte des Bundesschlusses des Gottes Israels mit seinem soeben unter Schrecken und Wundern befreiten Volk darstellt. Das Geschehen ist verknüpft mit der Gestalt des charismatischen Volksführers und Gesetzgebers Moses und mit vulkanischen Erscheinungen am Bergmassiv Sinai-Horeb, das wohl nicht auf der heute so genannten Halbinsel zu suchen ist, die erst seit dem 4. Jahrhundert nach Christus den Namen trägt, sondern östlich des älanitischen Meerbusens im Gebiet des alten Midian südöstlich des heute wieder umkämpften Ezion Geber im nördlichen Arabien 2. Die Ereignisse weisen in die Zeit des Pharao Ramses

Il., Mitte des 13. Jahrhunderts vor Christus. Das alles ist historisch schwer fassbar und eifrig umstritten. Aber eindeutig ist die ungeheure Nachwirkung der Überlieferung. Drei Weltreligionen berufen sich auf die Theophanie am Sinai, Judentum, Christentum und Islam, mit ihrem in der Religionsgeschichte einzigartigen Offenbarungsbegriff, der auf das Erste Gebot zurückgeht. Wer von jenen Dingen einmal gehört oder gelesen hat, kann sich ihrem Eindruck nie mehr ganz entziehen; etwas von ihrem Schrecken zittert nach in der abgelegensten Sonntagsschulstube, und für Millionen verknüpft sich auch heute die Anerkennung der Heiligkeit Gottes, das heisst seines typisch biblisch bezeichneten Wesens, mit der Erinnerung an die beiden Gesetzestafeln. Dazu tragen natürlich die näheren Umstände bei, Blitz und Donner, Wolkendunkel und Feuersäule und das Strafgericht über den alsbaldigen Abfall, nämlich die Errichtung des «goldenen Kalbs», das heisst über den Versuch, die Gegenwart Gottes, statt sie in seiner heiligen Geistigkeit zu ehren, im geläufigen heidnischen Fruchtbarkeitssymbol des Jungstiers zu fassen; dann der Zorn des Moses darüber, der sich uns noch entgegenspannt in Michelangelos Figur, die gerade aufzuspringen im Begriff ist. Aber das eigentliche Geheimnis der Nachwirkung der Zehn Gebote, ohne die wir wahrscheinlich bis heute weder die Blutrache abgeschafft noch den arbeitsfreien Tag am Wochenende eingeführt hätten, liegt in ihnen selber, in ihrer Überzeugungskraft, der nur unter allerlei Reflexionen zu widersprechen gelingen will, und in der Klarheit ihrer apodiktischen Verbotsform. «Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen — lass dich nicht gelüsten!» Niemand kann leugnen, dass hier nicht nur in der ethischen Kategorie der Forderung, sondern aus der ontischen der Wahrheit heraus geredet wird, und das gilt auch für jenes «Ich bin der Herr, dein Gott» am Anfang, mit seiner Konsequenz «du sollst keine andern Götter haben neben mir!»

Ungeahnterweise stehen wir mit dieser Beobachtung an einem sehr kritischen Punkt der geistesgeschichtlichen Situation des Christentums unserer Tage. Wenn wir einen beliebigen Mitteleuropäer heute fragen, woran er bei den Stichworten «christliche Religion» oder «Bibel» ungewollt zuerst denkt, was ihm als Inhalt oder Problem dabei zuallernächst

aufsteigt, so wird die Antwort in den seltensten Fällen die zentrale Gestalt Jesu Christi nennen, weder seinen Ruf zur Nachfolge noch die rettende Erschütterung seines Todes, noch die gewaltig-geheimnisvolle Kunde von seiner Auferweckung. Sondern der Mann in der Fabrik fängt damit an, das die Welt doch nicht in sechs Tagen geschaffen sei; an dem «wissenschaftlichen» Einwand gegen die Sage des ersten Kapitels hängt sein Urteil über die ganze Bibel. Das ist ein falscher Glaubensbegriff. Der Gebildete aber denkt in erster Linie an die Zehn Gebote; wenn's gut geht, verknüpft er sie noch mit der Bergpredigt, also mit der Goldenen Regel 3 und dem Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten 4. Diese Verknüpfung geschieht zu Recht, denn Jesus selbst hat sie vorgenommen. Doch damit wird nicht aufgehoben, dass unser Gesprächspartner unter seinem Christentum, sofern er es in Worte zu fassen vermag, in erster Linie etwas Moralisches versteht. Das verdanken wir jener Eindrücklichkeit der «Zehn Worte», des sogenannten Dekalogs, der Unterweisungspraxis der Kirchen — und dem Moralisten, der in uns steckt.

Aber dieser hat erst damit angefangen, uns zu erklären, was er auf dem Herzen hat. Es sind zwei thematische Zusammenhänge, die er nunmehr, der Sprecher des Homo religiosus unserer Tage, vorträgt. Einmal: Der Dekalog steht wie selbstverständlich an den Ursprüngen unseres Kulturbewußtseins. Er zeichnet dort einen Rahmen, der sich dann begrifflich vage, aber stimmungsmäßig klar mit der sogenannten «Ethik der Bergpredigt» füllt; hinzu tritt die Tradition des antiken und neueren Idealismus. So entstand jenes Wertgefühl um die Ideen Gott, Freiheit und Verantwortlichkeit, Tugend und Unsterblichkeit, die unser Leben lebenswert machen und den Menschen erst zu seinem wahren Wesen, zur Humanität emporheben: «Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt, So lang er noch an die drei Worte glaubt 5. » Im 18. Jahrhundert trat dabei an die Stelle der Offenbarungsbegründung des Ersten Gebots entschieden als höherer religiöser Begriff derjenige der Toleranz, im 19. kam die Bindung an Heimat, Geschichte und Volk, also ein Schuss Patriotismus, zu diesem verpflichtenden Wertsystem des Humanismus hinzu; das 20. lehrte diesen, sich gegen die bedrohenden Übermächte der materiellen

Rationalität, der Technik und des Nationalismus auszuweiten zu dem Sinn, dem Albert Schweitzers Formel von der «Ehrfurcht vor dem Leben» faszinierend Ausdruck verliehen hat. Unter allen Wandlungen blieben doch die Zehn Gebote mit unserem System der ewigen Werte unlöslich verflochten; weit stärker als philosophische Belehrungen waren sie es, die jenes System in den Gewissen der Europäer und Amerikaner verankerten. Das ist das eine.

Zweitens: Eben dieses Moral-System wird heute von Grund auf in Frage gestellt. Bei dieser Feststellung hat der Theologe nicht einmal in erster Linie auf die philosophischen und politischen Ideologien hinzuweisen, die es bestreiten, sondern vielmehr auf den Zusammenbruch des Fortschrittglaubens, der mit zu diesem System gehörte; auf die weltweite erst wirtschaftlich-soziale, dann politische und alsbald persönlich-moralische Verleugnung des Humanitätsideals, anfangs durchaus innerhalb der klassischen Berichte seiner Tradition, der dann die Bedrohung von außen folgte; aber sowohl Bolschewismus wie Faschismus sind Erzeugnisse des «Westens». Unsere Grossväter und Väter versichern uns, es sei nach langen Vorbereitungen in den sozialen Krisen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Ausbruch des Ersten Weltkrieges gewesen, der die Krise der Humanität manifest gemacht und dem abendländischen Menschen seine innere Sicherheit geraubt habe; die Fortsetzung ist uns bekannt, und von den Demonstrationen der antihumanitären Bewegung in den letzten Monaten haben wir uns noch nicht erholt. Wir werden uns davon auch nicht erholen. Hat das zitierte Schiller-Gedicht noch gewarnt: «Dem Menschen ist aller Wert geraubt, Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt», so muss unsere Generation ehrlich zugeben, dass es eben mit diesem Glauben windig steht; «das Herz» gibt nicht mehr «davon Kunde». Es ist das in uns allen durchaus veränderte Lebensgefühl, das unser tradiertes Moralsystem in Frage stellt und damit gefährlich an den Fundamenten der abendländischen Kultur rüttelt.

Auf der Flucht in Helsinki während des Zweiten Weltkrieges hat Bertolt Brecht seine Figuren Ziffel und Kalle ihre hintergründigen Gespräche führen lassen. In einem unausgeführten Entwurf suchen die beiden eine Bilderschrift nach chinesischem Muster, um, wie sie sagen, «die stupende

Ungenauigkeit einiger Wörter zu beseitigen.» Dabei schlägt Ziffel vor, den Begriff «Lehre» als Schulwandtafel auszudrücken, nur verwendbar mit Jahreszahl. Er fährt fort: «Dasselbe Zeichen ohne Jahreszahl würde dann ,ewige Wahrheit' bedeuten, und wir könnten es gleichzeitig für ,geistigen Betrug' verwenden.» 6 In diesem Satz schlagen sich drei sich widersprechende Tendenzen zugleich nieder: das persönlich erlittene Katastrophen-Schicksal der Zeit, für das der Flüchtling vor Gewalt als der zynische Zeuge steht; die Ideologienlehre des historischen Materialismus; der Freiheitswille des Existentialismus, für den es Wahrheit überhaupt nur im Vollzug existentieller Entscheidung gibt. Damit sind drei der wichtigsten Gegner bezeichnet, die heute unserm traditionellen Moralsystem den Kampf ansagen und diesen schon gewonnen meinen: Der Marxismus (bereits recht etabliert und konservativ wirkend), die Vertreter der Situationsethik und das breite Heer der Resignierten oder gleichgültig Gewordenen. Mit dem System, so meint man, fällt dann auch der Dekalog und — bei dem beschriebenen moralischen Verständnis —damit das ganze Christentum.

Der Angriff auf die Zehn Gebote speziell erfolgt in erster Linie im breiten praktischen Einbruch in die Mauern der traditionellen bürgerlichen Moral, mit deren Begriffen die biblischen Gebote identifiziert werden. Es ist kein Zufall, dass dabei die sexuelle Emanzipation im Vordergrund steht. Doch liegt die Neuartigkeit unserer Situation nicht eigentlich im quantitativen Ausmass des Niedergangs der Moral, sondern, nach gründlicher Vorarbeit in Romantik und Naturalismus, in der Theoretisierung und Moralisierung dieses Niedergangs, im Versuch, mit einer noch nicht gefundenen neuen Moral die alte zu ersetzen und deren Verletzung zu rechtfertigen. Offen zur Amoral bekennt sich kaum jemand, denn es geht neben einem extremen Individualismus eine ebenso heisse Sehnsucht nach Gemeinschaft durch unsere Zeit. Der gemeinsame Nenner für beide dürfte besonders bei der Jugend in einem mannigfach enttäuschten Verlangen nach erfülltem Leben liegen, im Hunger nach Erlebnis und Bewährung, der, wenn unterdrückt, umschlägt in Lebensgier, nicht selten zugleich in Lebensverachtung oder Todessucht.

Das traditionelle Christentum sämtlicher Konfessionen hat nicht leicht, sich dem emotionalen und begrifflichen Umbruch der Moral unter Berufung auf den Dekalog als die Besitzerin unerschütterlicher Prinzipien entgegenzustemmen. Auch innerhalb von Kirche und Theologie protestieren die Vertreter der Situationsethik dagegen, das Ethik und Tradition zusammengehören, das die Tradition von Prinzipien überhaupt eine Möglichkeit ethischer Wahrhaftigkeit biete. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß die alte Liste auch dem gläubigen Christen bei der Prüfung, was in seinem Leben der Wille Gottes sei 7, oft nicht mehr weiterhilft. Zahlreiche bedrängende Fragen durchbrechen ihre apodiktische Normativität: Ist Eigentum möglicherweise doch einmal Diebstahl? Was ist töten? Wann ist man tot? Was ist genau unter Bruch der Ehe zu verstehen? Lassen sich mit dem Gebot der Elternehrung unsere Generationsprobleme lösen? Zudem wurde dieses Gebot im Protestantismus jahrhundertelang als Locus classicus patriarchalischer Gesellschaftsordnung ausgelegt; in einer pluralistischen Massendemokratie trägt es unsere politische Verpflichtung nicht mehr. Das Neunte Gebot lässt uns bei der Geschäftsreklame im Stich, und überhaupt betreffen die letzten fünf Gebote Zusammenhänge, über die man heute wohl überhaupt nicht apodiktisch reden kann. Weiter: Der Dekalog greift die Sklaverei nicht an; er äussert sich nicht zur Ordnung der Wirtschaft und zu den alten und neuen Phänomenen der Ausbeutung; er sagt nichts zum Leben der Völker untereinander und zum Krieg. Religiöse Toleranz kennt er nicht. Er liess sich notorisch oft im Sinne einer Beschneidung der Verantwortung des Individuums auslegen. Nicht einmal die Ethik des Neuen Testaments ist für uns zureichend, wie wieder die Probleme von Wirtschaft, Krieg, Toleranz beweisen. Das sittliche Empfinden befindet sich eben in ständigem Wandel und Fortschritt. Was heute unser Bewusstsein bestimmt, sind nicht die Zehn Gebote, sondern die Menschenrechte.

Das sind schwerwiegende Anklagen.

Il. Vorläufige Antwort

Die Absage an den Dekalog sollte zunächst einige Tatsachen bedenken, die ihm nicht nur in der Geschichte einen hohen Rechtstitel verleihen, sondern ihn auch als aktuelles Votum vernehmen lassen.

1. Historisch

a) Der Wortlaut von Ex. 20 und Deut. 5 bietet die Erweiterung, Variation, vielleicht auch Kürzung einer Urfassung. Die ursprüngliche Folge von zehn knappen, wahrscheinlich durchgehend negativen Sätzen hat sich also durch die Jahrhunderte der Geschichte des alten Bundesvolks hindurch nicht als starr, sondern als wandlungs- und anpassungsfähig erwiesen. Die zahlreichen weiteren Vorschriften, Rechtssätze und kultischen Anordnungen aus der frühkanaanäischen, der Königszelt, vielleicht der Exilepoche und sogar noch später, die nun alle mit Moses und dem Sinai datiert werden, sich als jeweilige Anwendung des alten Bundesschlusses verstehen und nun die fünf «Mosesbücher» füllen, bieten die Illustration dazu. Bis vor kurzem hat man mindestens die apodiktische Form des Dekalogs für genuin und ausschliesslich isralelitisch, und zwar nomadisch gehalten; das scheint sich nicht strikte aufrecht halten zu lassen. Hingegen dürfte in der Synthese von apodiktischer Knappheit und freier Applikabilität ein kräftiger Hinweis auf nomadischen Ursprung liegen; bäuerliche Kulturen schaffen Präzedenzfälle und daraus Regeln, und Städte legen ausführliche schriftliche Gesetzessammlungen an. Doch darauf kommt es hier nicht an. Wichtig ist die merkwürdige Situationsbezogenheit gerade des apodiktischen Satzes. Die Starre der Apodiktik ist Schein, sie wird bei der Anwendung sogleich plastisch. Je knapper ein ethischer Satz, um so allgemeiner, und je allgemeiner, um so mannigfaltiger in der Konkretisierung. Das gilt für den Dekalog wie, in noch höherem Grade, für die Ethik Kants; der Formalismus des kategorischen Imperativs, der Imperativ als Kategorie, ist geradezu das Muster einer echten auf jeweilige innere und äussere Situation bezogenen

Ethik. Das hören die Situationsethiker in ihrem Protest gegen den Idealismus auch nicht gern. Der Dekalog bietet keinen Idealismus, sondern Verbote und Gebote, keine Autonomie, sondern eine Ethik, die Kant und Schiller als Heteronomie ablehnen. Aber situationsbezogen ist er prinzipiell.

b) Er umgreift deshalb von Anfang an alle wichtigen Lebensbeziehungen, ohne eine derselben vom «Gott sprach alle diese Worte» unberührt zu lassen: Das Leben, das Recht, das Eigentum, Mann und Frau, Eltern und Kinder, Volk und Fremder, überhaupt Einzelner und Gemeinschaft. Es herrscht Einigkeit darüber, dass er im Pentateuch (den sogenannten Fünf Büchern Mosis) nur das sagen will, was er sagt, nicht mehr und nicht weniger, und das ist viel. Doch umfasst die vorliegende Fassung des Zehnten Gebots («Du sollst nicht begehren» usw.) auch das Verbot «legaler» Machenschaften, des Nachbars Eigentum an sich zu bringen; dadurch wird die Dimension der Gesinnungsethik bereits aufgeschlossen.

c) Die sogenannte Zweite Tafel, das heisst die auf das Verhalten zum Mitmenschen zielenden Gebote, hat, wie wir neuerdings wissen, im alten Vorderen Orient Parallelen; ihre biblische Eigenart liegt in der Verbindung mit der Ersten. Also zum Beispiel nicht im «Du sollst nicht töten!», sondern in der Begründung im «ich bin der Herr». Damit ist die Zweite Tafel echt alttestamentlich relativiert. Der ganze Kampf des Alten Testaments geht gegen die Götzen, gegen die israelitischen und die heidnischen, die religiösen und die religionslosen Götzen. Der Dekalog bietet, was seine Kritiker oft nicht sehen, keine abstrakte Wertethik. Die genannten Güter: Leben, Hab und Gut, «Haus» und Familie, ja das erwählte Volk selbst sind nicht an sich heilig, sondern stehen im Licht des Ersten Gebots: Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine andern Götter neben mir haben. Jene «Werte» werden erst geheiligt in der Heilighaltung des allein Heiligen. Das Heidentum weiht das Irdisch-Gegebene; der Dekalog begründet keine Ethik des Utilitarismus, und wäre er noch so sublim.

2. Theologisch

Nach den hiermit gezeichneten Abgrenzungen erfordert nun doch der Consensus gentium in Sachen der Zweiten Tafel, durch Jahrtausende anerkannt, unsere Aufmerksamkeit. Ist derselbe in den letzten Jahrzehnten nicht künstlich problematisiert worden? Stammt denn das Unbehagen, das die Bewegung von Nietzsche bis Marcuse trägt, etwa aus übertriebener Einhaltung jenes Gesetzes, das nach Paulus dem Menschen von Natur, ins Herz geschrieben ist? 8 Stammt es nicht vielmehr aus dem Verrat daran? Begehrt die junge Generation das Moralsystem der älteren im Namen der Wahrhaftigkeit abzuschütteln, weil diese es mit Wahrheit und Recht ernst, oder weil sie es unernst genommen hat? Im Grunde bestreitet die Zweite Tafel 9 niemand. Auch die Situationsethiker erstreben den Zustand, den diese aufbauen will. Der Marxismus, von Friedrich Engels eine Weile zur Abschüttelung der Familienmoral als eines bürgerlichen Durchgangsstadiums überredet, hat nach einigen Erfahrungen alsbald dem «bürgerlich-individualistischen Libertinismus» den Kampf angesagt. Und wie steht's mit unsern Kinos und Illustrierten, vom ausweglosen Bergmann-Film bis zur Kolle-Rührseligkeit? Sogar der «Spiegel», wie seine Vorbilder und Nachahmer in andern Sprachen sonst kalt bis ins Herz, kommt hier ohne etwas Sentimentalität und gelegentlich etwas Heuchelei nicht aus. Auch «Blick» ist dabei. Sie alle, wir alle, sind immer noch fixiert auf jene Lebensprobleme: Mann und Frau, die Generationen, das Recht, das Eigentum, die Gemeinschaft. Es ist nicht wahr, dass der Dekalog dem Menschen der Gegenwart eine leere Phrase sei. Er trifft ihn im Zentrum seiner Existenz.

3. Ethisch

hat er damit Anteil am biblischen Realismus. Der Dekalog hat den modernen Vorzug, dass er nicht kultisch, nicht kirchlich, nicht einmal im üblichen Sinne «religiös» orientiert ist, sondern eine auf die Welt bezogene

Moral aufgibt. Darin hat er sich durch die Jahrhunderte bewährt. Er liess sich jederzeit zwanglos als Zusammenfassung der Hauptgesichtspunkte des jüdischen wie des christlichen Lebens verwenden, ja in mannigfacher Weise auch als Anleitung zur Nachfolge Christi. Er ist dabei ununterbrochen aus dem Tun des Einzelnen übergeströmt zum Verhalten der Kirchen, zur Bildung der bewußten und unbewussten Prinzipien des öffentlichen Lebens, zum Aufbau unserer Kultur, in stets sowohl prophetisch-kritischer als auch ethisch-schöpferischer Präsenz.

III. Leitgedanken des Dekalogs

1. Die uns geläufige Einreihung der Zehn Gebote unter die sogenannten «Hauptstücke» des Glaubens 10 und die entsprechende kirchliche Praxis in Unterricht und Mission ist übrigens nicht so selbstverständlich, wie wir meinen. Weder im Alten noch im Neuen Testament spielt der Dekalog eine dominierende Rolle. Der erste, der die gesamte christliche Ethik am Leitfaden der Zehn Gebote behandelte und damit die theoretische Grundlegung lieferte, war Augustin. Aber erst die volksnahen Franziskanermönche des 12. Jahrhunderts entdeckten deren didaktische Handlichkeit und machten sie populär. Ihnen folgten mit ernster Vertiefung Auslegung und starkem volksbildendem Einsatz der Kleine und der Groce Katechismus Luthers, der Heidelberger Katechismus 11 und die übrigen reformatorischen, später die aufklärerischen Lehrbücher. Doch liegen die Wurzeln dieser Methode bereits im Neuen Testament.

Sie erwächst aus der Sinngebung auf der Linie des Satzes «Liebe ist des Gesetzes Erfüllung» 12, die vorgenommen wird in der Bergpredigt und anderen Texten der synoptischen Evangelien, ferner in Paulinischen Paränesen, im Jakobusbrief und weiteren Stücken des Neuen Testamentes 13. Auf sämtliche Gebote wird angespielt und ihre Stellung im Gemeinschaftsleben der Jünger Jesu bestimmt. Ja, alles, was Jesus in der Bergpredigt mit seinem wiederholten «Ich aber sage euch» deklariert,

verlöre seinen Sinn, wenn das Gegenüber des «Ihr habt gehört, was zu den Alten gesagt ist» (jüdische Ausdrucksweise für: was Gott am Sinai gesagt hat) eine Quantité négligeable wäre 14. Und wenn Paulus schreibt: «Ich wüsste nichts von der Lust, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten!'» 15, so setzt er das ganze Gesetz in der Form des Dekalogs voraus; ja er beweist damit, dass ihm bei seiner vielschichtigen Bedeutungsgebung des Begriffs Gesetz, die konkrete Zusammenfassung desselben im Dekalog immer vor Augen steht. Diese Interpretationen durchbrechen endgültig die Isolierung des Dekalogs. Die wie eine Mauer stehende Tabelle des unerschütterlichen Gotteswillens wandelt sich zur Transparenz einer Sammlung von zehn beispielhaften Brennpunkten des doppelten Liebesgebots 16 über einigen zentralen Themen des menschlichen Gemeinschaftslebens. Eben diese Transparenz machte es der Kirche möglich, im Dekalog den totalen göttlichen Anspruch an uns zu finden und ausreichende Auskunft für alle Lebensgebiete zu aller Zeit und in jeder Situation. Im Grunde war das die sinngemässe Anwendung und Auslegung der alten Gebote auf der neuen Ebene, der Gemeinde. Denn auch im alten Bund war diese Bundesverfassungsurkunde Gottes ja bereits durch ihre Qualifizierung im Ersten Gebot auf ein Ziel bezogen: Existenz und Heiligung des Gottesvolks.

Es gilt also für das Alte, das Neue Testament und die ökumenische Kirchengeschichte: Die Zehn Gebote stehen nicht für sich da als jener Fels unwandelbarer göttlicher Forderung, so dass Verkündigung und Glaube von ihm abhängig wären. Sondern die Zehn Gebote sind stets umgeben vom interpretierenden Kontext des Geschehens und des Glaubens. Sie sind selbst abhängig von der eigentlichen Offenbarung. Sie legen diese Klammer selbst alttestamentlich noch als die Namensenthüllung im Ersten Gebot an, neutestamentlich schliesst sie sich in der Erscheinung Jesu Christi. Aber auf beiden Stufen bleiben die Gebote darauf angewiesen, das Gott selbst sie uns mit dem «Ich bin» seiner Gegenwart in die Seele prägt.

2. Von daher ist die Autorität des Gesetzgebers und somit die des Gesetzes zwar eine absolute, aber nie eine abstrakte; vielmehr ist sie soteriologisch ausgerichtet und bewegt. Das heisst: sie ist zwar eine fordernde,

aber nie eine nur geforderte Autorität. Sie erweist und bewährt sich im Leben des Volkes, der Gemeinde, des Einzelnen, und zwar sowohl bei seinem Ungehorsam wie bei seiner Treue.

3. Ein kurzer Überblick über den Geltungsgrund der einzelnen Gebote im biblisch beleuchteten Lebenskreis mag das illustrieren. Der theoretische Monotheismus ist im Ersten Gebot noch nicht formuliert, wohl aber das Bekenntnis der Begegnung mit diesem Einen Gotte und die Anerkennung seiner Einzigartigkeit. Damit befindet sich das Bildergebot des Zweiten Gebots auf dem Weg zu einer strengen Geistigkeit; es gehört eng zusammen mit dem Dritten, das Gottes Geistlichkeit stipuliert: die Ehrfurcht vor dem Namen bedingt das Verbot aller Magie, die Verwehrung aller Verschwörung und Indienstnahme Gottes durch das Mittel der Religion. Bilder aber sind magisch geladen — es wäre reizvoll, zu analysieren, ob sie es nicht in gewissen die Psyche projizierenden und damit bannkräftigen modernen Kunstwerken wieder sind. Übrigens legt der Moses am Münsterplatz zu Bern den Finger mit Absicht auf das Zweite Gebot; er kontrolliert, ob in der Kirche gegenüber die Souveränität Gottes über das menschliche Fühlen und Gestalten respektiert wird. Denn ebenso wird vom Zweiten Gebot unsere Begriffsmythologie getroffen, die den Lebendigen in unsere Vorstellungen einschliesst. Im Prinzip verbieten das Zweite und Dritte Gebot im biblischen Glaubensbereich den religiösen Materialismus wie Intellektualismus wie Eudämonismus.

Das Vierte Gebot fassen wir gewöhnlich mit den Reformatoren als ein zeremonielles auf. Im Alten wie im Neuen Testament meint es ein religiöses und ethisches Verhalten. Das Volk und seine Glieder unterbrechen ihr Tun, um zu «gedenken», von wem sie die Freiheit ihres Tuns empfangen haben. Das Deuteronomium unterstreicht dabei die soziale Bedeutung der Ruhe, Exodus den kosmischen Aspekt: Ruhe für die Schöpfung, Heimkehr zum Schöpfer. Der Verzicht auf Arbeit hebt zugleich die Arbeit der Woche selbst als eine Gewährung des Befreiers ins Bewusstsein und durchbricht damit, zusammen mit dem verwandten 104. Psalm, die sonst im Alten Testament vorherrschende Auffassung der Arbeit als Fluch und Mühsal. Das alles gehört zur unmittelbaren Heilighaltung Gottes.

In der Zweiten Tafel erweist Gott seine Heiligkeit darin, dass er durch uns die Existenz, das Recht, die Ehre und die Freiheit seines Volks und der Glieder desselben schützt. Keine Heiligkeit Gottes ohne unsere Heiligung.

Die Autorität der Zehn Gebote erweist sich im Entstehen von freiem Dienst, Gemeinschaft und Recht.

IV. Christus legislator

Dieses Gesetz hat Jesus relativiert. Er ist damit als der «Messias des Wortes» aufgetreten, als der von den Juden ersehnte Erneuerer der Torah. Der Christus legislator des Matthäus-Evangeliums proklamiert die «bessere Gerechtigkeit», indem er unter wiederholter, ausdrücklicher Bezugnahme auf den Dekalog das Gesetz nicht auflöst und ausser Kraft setzt, sondern «erfüllt» 17, zu seiner bisher nicht erreichten Fülle ergänzt, zu seiner Vollständigkeit und seinem eigentlichen Sinn vertieft. Er tut das mit seiner «Lehre»; aber diese gehört zu seiner Person und ist ein untrennbarer Teil seiner Geschichte, welche die Geschichte der fundamentalen und exemplarischen Erfüllung der göttlichen Weisung ist. «Ich bin gekommen, um zu erfüllen.» Damit stehen wir vor dem für unser Autoritätsproblem entscheidenden Geschehen.

1. Historisch ist dazu folgendes festzustellen.

a) Jesus bestreitet die Autorität des Dekalogs nicht, anerkennt sie vielmehr. Aber er stellt ihm sein Wort gegenüber und beansprucht dafür eine noch höhere Autorität. Das vom Evangelisten geflissentlich vorangestellte «Er setzte sich» 18 beschreibt, wie Sie sich aus der Kunstgeschichte erinnern, die Geste des urteilenden Richters oder des die offizielle Sentenz fällenden Königs. «Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist — Ich aber sage euch.» Gott hat einst gesprochen, am Sinai im Donner —

nun spricht er aufs neue, schlicht, aber unausweichlich, in der Fülle und endgültig. Das ist Jesu Autoritätsanspruch 19, etabliert in der Relativierung des Dekalogs gegenüber der von ihm selbst proklamierten besseren Gerechtigkeit der vollkommenen, vorbehaltlosen, alle Grenzen sprengenden, in kein voraus formuliertes Gebot zu fassenden Liebe, in der die Söhne und Töchter Gottes des Vaters Art tragen 20.

Und doch empfängt auch der Dekalog durch seine Einführung in diese Beziehung eine neue, eigentümliche Autorität. Künftig kann man in der Umgebung Jesu nur über den (wörtlich verstandenen) Dekalog hinaus, nie hinter ihn zurück gehen. Mit seiner Relativierung durch Jesus erhält er seine feste Relation zu Jesus. Er bleibt mit der Autorität Jesu verflochten. Die Autorität der Zehn Gebote liegt nun beschlossen in ihrem inneren Gerichtetsein auf die «bessere Gerechtigkeit» 21. Deren Forderung wiederum wird getragen vom Geheimnis Seiner Person selbst. Für Jesu Jünger gilt: Er hat den Zehn Geboten — relative — Autorität verliehen.

b) Damit ist im Prinzip bereits angelegt, was Paulus bei Kreuz und Auferweckung Christi entfaltet: Als Heilsweg fällt das Gesetz, aber im Geist wird es ins Liebesgebot sublimiert, womit es seinen Gesetzescharakter verliert 22. Sofern wir nicht in die Christus-Wirklichkeit eingetreten sind, erweist das Gesetz nach Paulus seine Autorität namentlich in seiner effektiven Kraft, uns im Gewissen zu verurteilen. Bei diesem Urteil handelt es sich keineswegs um einen bedauerlichen Irrtum aus psychischer Fehlentwicklung, sondern um die Enthüllung unserer Eigen-Wirklichkeit. Das Urteil gilt; um es außer Kraft zu setzen, braucht es ein doppeltes Geschehen: Jesu Sterben und unser Vertrauen.

2. Ethisch

geht also der hier beschriebene Weg stets von der alten zur neuen Welt, vom Gesetz zum Geist, von der gehorsamen Einhaltung eines Verbots zum spontanen Handeln aus Liebe. In der heutigen Diskussion ist es aber für die christliche Ethik, gleichgültig ob man sie als Gesinnungs- Persönlichkeitsmoral oder als hingebendes soziales Engagement

auffaßt, entscheidend, nao gemäss der neutestamentlichen Botschaft jene Bewegung sich an der Begegnung mit Christus entzündet und in ihr begründet bleibt, das heißt in der Autorität seines «Kommt her zu mir!» und «Folge mir nach!» 23

3. Theologisch

bedeutet das: In jeder ethischen Frage wiederholt sich die Glaubensfrage. Auch die moderne Gesamt-Infragestaltung der tradierten christlichen Ethik stellt uns vor die Frage unserer Lebensgemeinschaft mit Christus. Damit werden wir frei von unserm gebannten Starren auf die Situation. Christus freilich nimmt (im Unterschied zu allen andern Religionen) jeden Einzelnen ganz ernst in seiner jeweiligen Situation, und seine Jünger sollen das auch tun. Aber damit ist die Situation nicht mehr in sich selbst bestimmt, sondern dadurch, das Christus in sie hineintritt mit seiner Geschichte, seiner verpflichtenden Lehre und seinem Geist.

V. Gesetz und Geist

1. Der Heilige Geist ist Gott in seiner Gegenwart als Sich-Offenbarender; nach dem Zeugnis des Neuen Testaments insbesondere der in die Präsenz Gottes erhöhte Christus, seine in Menschen handelnde, Menschen verwandelnde Kraft. Rechnen wir mit dieser qualifizierten Praesentia Dei — und der christliche Glaube, aus dem Ostergeschehen erzeugt, tut das von seinem Ursprung her — so verschärft sich unsere kritische Frage an den Dekalog als Gegenwartsdokument noch einmal. Von Hause aus ist der Dekalog ein Stück der Volksethik Israels, dann Gemeinschaftsethïk der Kirche. Mit apodiktischen Sätzen von durchaus rationaler Einsichtigkeit schützt er das menschliche Zusammenleben gegen das Gemeinschaftswidrige, damit zugleich den Einzelnen gegen das Unberechenbare, Unkontrollierbare, Anarchisch-Böse in seinem Innern. Besonders die Reformatoren haben unterstrichen, wie Gottes Vorsehung durch das Gesetz das Menschengeschlecht vor der Vernichtung

im Kampf aller gegen alle bewahre. Unter ihnen hat Zwingli mit unübertroffener Klarheit ausgeführt, das diese Bewahrung nur in einer vorläufigen, äußeren, gebrechlichen, kurz menschlichen Gerechtigkeit geschieht. Wir sagen hier: der Dekalog schirmt den Menschen vor der gefährlichen Dynamik seines Wesens, indem er ein statisches Element aufrichtet. Das verbindet ihn mit aller Rechtssetzung.

In die Frömmigkeitsgeschichte des Christentums aber ist damit oft ein Geist der Erhaltung gegen jede Änderung, des Beharrens gegen die Evolution, der Statik gegen die Dynamik auch notwendiger Revolution eingekehrt. Es ist Zeit, dass wir uns erinnern, dass der Heilige Geist der Lebendigmachende ist, immer ein Geist der Zukunft, immer eine Dynamis. Dies freilich sowohl gegenüber unsern Revolutionen wie unsern Etablierungen. Aber sollte es geschehen können, das wir uns hinter dem Dekalog verschanzen gegen die Dynamik des Reiches Gottes? Unter Berufung auf die Autorität des Gesetzes wurde Jesus ans Kreuz gebracht. Die schreckliche Möglichkeit hat sich oft verwirklicht, dass wir im Namen unserer vermeintlich christlichen Religion Christus verwerfen.

Die Gefahr beginnt dort, wo das Gesetz verabsolutiert wird gegenüber seiner Autoritätsverleihung im Ersten Gebot. Deshalb wäre gegenüber dem heutigen Aufbruch der Gesetzlosigkeit aus persönlicher Autonomie die krampfhafte Reaktion zu abstrakten ewigen Werten keine echte Alternative. Sowohl eine autonome Wertethik der Traditionen des Abendlandes, als auch eine keinen überpersönlichen Wert anerkennende Autonomie der jeweiligen Situation, beide stellen Übertretungen des Ersten Gebots dar. Das Erste Gebot macht das Gesetz geistlich. Der Heilige Geist macht offen für Gottes Willen wie für die Situation und für den Menschen. Statisch ist er nie. Das ist die fundamentalethische Perspektive, die bei der Behandlung moderner Lebensprobleme einzuhalten sein wird. Die Gebote werden dabei ihre — relative —Autorität selber erweisen.

2. Was von hier aus die Zehn Worte, ihre Brennpunkte, in deren Strahlen dann die Menschenrechte wie die unserer Generation auferlegten Weltprobleme der Unterdrückung, der Ausbeutung, des Hungers von uns fordern, und was daneben meine Verantwortung in meinem Lebenskreis

erfordert, will also stets gesucht und gefragt werden, gerade weil wir ein Wissen davon in uns tragen. In einer interpendent gewordenen Welt muss international und im Austausch gefragt werden, nicht nur was nützlich, sondern was recht ist. Der Christenheit, von Urbeginn auf Universalität ausgerichtet, klingt das nicht unvertraut. Sie wissen, die Kirchen haben energisch begonnen, ihren Beitrag zu leisten und sich über den Themen der wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Notlage forschend und beratend zu verbinden; sie bringen dabei auch den Mut zum Experiment, das heißt zum Fehler auf. Hinderlich gegen die Leitung durch den Geist wirken sich immer mehr oder weniger «unfehlbare» Lehrämter aus, seien sie päpstlicher, episkopaler oder synodaler Provenienz: sie haben immer Mühe, Aussprüche, die vor hundert Jahren richtig waren und heute falsch sind, rechtzeitig zu vergessen oder gar bessere Belehrung zu akzeptieren. Der Geist wird uns, nach der Verheißung, trotzdem «in alle Wahrheit leiten» 24. Was wir brauchen, sind weniger spektakuläre Konzile oder ökumenische Vollversammlungen als permanente Forschungs- und Aktionsteams; in Genf und in Rom hat schon eine schöne Anzahl ihre Arbeit aufgenommen.

3. Im Wandel der Verhältnisse und des ethischen Bewusstseins bleibt das fundamentale Ethos und das ihm entsprechende Menschenbild. Bereits der Dekalog pflanzt, indem er von der Befreiung des Volks aus der Sklaverei ausgeht, einen bestimmten Begriff vom (zunächst israelitischen) Menschen. Erst recht vollzieht sich diese anthropologische Prägung durch das christliche Ethos. Die Kunde von der befreienden Gnadental Gottes am Menschen formt ein unverwechselbares Menschenbild. Dieses Bild kann auch im säkularen Bereich als richtig verstanden werden. Was unserm humanistischen oder sozialistischen, namentlich auch dem sich ideologiefrei vermeinenden Gesprächspartner unter «Person» oder «Freiheit», «Verantwortung» oder «Mitmenschlichkeit», «Selbstbestimmung» oder «Partnerschaft» usw. vorschwebt, darüber ist der Dialog möglich und notwendig. Doch je entschiedener das christliche Ethos seine sozialen Konsequenzen vom Handeln Gottes her motiviert und durchbildet, um so stärker dringt es in den soziologischen Bereich der Welt ein, die Gott geliebt hat 25.

Dass sich die menschliche Gesellschaft besser unter Verzicht auf diese Motivierung aufbauen lasse — ist das wirklich die Erfahrung unserer Jahre? Eine breite Strömung läßt sich von dieser Behauptung imponieren und konzentriert sich statt dessen auf die Forderung unbedingter, auch unbegrenzter, unbeherrschter oder rücksichtloser Wahrhaftigkeit und Lebensechtheit. Das Spontane, Ursprüngliche, Unmittelbare sei das Wahre — das war übrigens schon die Meinung der romantischen, ebenfalls Bärte tragenden Urgroßväter unserer Progressiven. Oder man beschränkt sich zur Rettung eines Restes religiöser Ethik auf das Gebot der Nächstenliebe, gewissermaßen auf die Zweite Tafel. Gott werde im Nächsten gefunden oder überhaupt nicht. In beiden Fällen wird die Autorität über unser Verhalten in unsere Existenz und ihre Entscheidung verlegt. Christus aber hat «das vornehmste und größte Gebot», der Gottesliebe klar vor das der Nächstenliebe gestellt, das «ihm gleich ist». Und der Dekalog beginnt mit Gottes «Ich bin». Nach biblischem Zeugnis ist die Menschenwürde begründet in Gottes Ehre, nicht umgekehrt; und wir meinen, es sei diese Wahrheit, die durch die Gegenwart tausendfach und bitter bestätigt werde. Die Zehn Gebote bewähren ihre Autorität nicht zum wenigsten darin, daß sie den Menschen lehren, den Menschen zu achten. Der Ruf Christi führt den Menschen in elementarer und fundamentaler Weise zum Menschen. Die Gnade des Heiligen Geistes aber macht Menschen zu Söhnen und Töchtern Gottes, die sich allerwärts dafür einsetzen, dass die Menschen anfangen, wenigstens — menschlich miteinander umzugehen.

Anmerkungen

Für Literaturangaben und weitere Belege vergleiche meinen umfassenderen Aufsatz «Der Geltungsgrund der Zehn Gebote» in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 1969.