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Leistungsstaat und Demokratie

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 28. November 1969
Verlag Helbing & Lichtenhahn. Basel 1969

® Copyright 1969 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG, Basel

I

Was Stimme hat, bringt uns bei, daß wir in einer Zeit des radikalen Umbruchs lebten, daß sich der Sozialprozeß in der Potenz beschleunige, daß die «Umwertung aller Werte» achtzig Jahre nach ihrer Postulierung voll im Gang sei, daß die Entwicklungsmöglichkeiten weder Ziel noch Grenze hätten. Wir sind allmählich überzeugt davon, daß wir bestenfalls eine Epoche des Übergangs, schlimmstenfalls die Zeit des totalen Einbruchs seien. Eine Flut von sorgfältigen und hingeworfenen, von umfassenden und punktuellen, von ernstgemeinten und spielerisch-schreckenden, von wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen Schilderungen und Deutungen der geistigen, der sozialen, der politischen Lage brandet ununterbrochen auf uns ein. Das Ergebnis ist Verwirrung und Unsicherheit. Angst wird vorherrschende Erscheinung im sozialen und persönlichen Bereich, jedoch als lähmende, nicht als überwindende Angst.

Für den Staat, diese fundamentale politische Gemeinschaft, sind Unsicherheit und Verwirrung bedrohlicher als die beschleunigte Wandlung selbst. Sie erzeugen politische Apathie und Nervosität. Sie hemmen zielgerichtete Staatslenkung und überlegte Staatstätigkeit. Die zunehmende «sterile Aufgeregtheit» (Simmel/Max Weber) auf dem politischen Boden ist immer auf dem Sprung, in modisch-leeren Aktivismus zu verfallen. Teilnahmelosigkeit aber macht aus dem Gemeinwesen

Treibgut, das sich rasch totalitären Herrschaftsformen preisgegeben sieht.

Emil Dürr, der Basler Historiker und wegleitende politische Denker der zwanziger Jahre, hat es als Aufgabe der Wissenschaft betrachtet, über die jeweilige Lage des Staats «ins Klare zu kommen». Hier liegen in der Tat Ansätze, um der zerstörerischen Unsicherheit allmählich Herr zu werden. Damit wird die — wie das mißgebildete Wort lautet —«Verunsicherung» von Mensch, Gesellschaft und Staat nicht verworfen. Im Gegenteil: Die satte Selbstzufriedenheit und die schläfrige Dumpfheit werden in redlicher Analyse zerrissen. Aber es soll nicht einfach erschüttert und dann ratlos gelassen werden. Der Auftrag der Wissenschaft geht weiter, wenn sie es sich angelegen sein läßt, «ins Klare zu kommen». Drei Elemente sind vorausgesetzt: Der Wille zur selbstkritischen Aussage, der Wille zur praktischen Wissenschaftlichkeit und der Wille zum fortführenden Aufbau.

Die Wissenschaft wird sich bemühen, die wahren Problemlagen zu entdecken, Begriffe zu klären, Ziele zu deuten, Möglichkeiten von praktikablen Änderungen mit ihren Vor- und Nachteilen zu erörtern und schließlich Schwergewichte oder Prioritäten hervorzuheben. Es geht nicht darum, Komplexes zu simplifizieren oder etwas als gewiß und standfest hinzustellen, was in Wirklichkeit in Fluß ist. Aber es handelt sich darum, das schlicht Fließende nicht als ungebärdigen Strom zu zeichnen und nicht so zu tun, als sei der politischen Welt jeder Halt an sicheren Werten und präzis bestimmbaren Zielen mit zwingender Notwendigkeit auf immer genommen. Es ist ein voranstehendes Gebot der wissenschaftlichen Klarheit, sich der selbstgefälligen Sucht des Aggravierens zu entziehen, die sich in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren breitgemacht hat. Es gibt zum Beispiel nichts Wissenschaftsfeindlicheres, als die mit dem Pathos der absoluten

Wahrheit vorgetragenen monistischen Deutungen der politischen Geschehen oder die sensationellen Sozialprognosen.

Ein Nächstes besteht darin, die Wissenschaftszweige, die sich mit dem Staat und dem Politischen befassen, vornehmlich als praktische Wissenschaft zu betreiben. Walther Burckhardt hat immer wieder daran erinnert, daß ihnen aufgegeben ist, nicht nur Tatsachen und Ursachen zu erkennen, sondern vor allem das, was «gemäß der Vernunft bewirkt zu werden verdient». Damit sind die Wissenschaften vom Staat —insbesondere die Rechtswissenschaft, die politische Wissenschaft, die Soziologie, die Nationalökonomie, die Historie —aber zugleich auch aufgerufen, nach den Regeln der Wissenschaftlichkeit substantielle Basis zu legen für zureichende Einrichtungen und tragbare Sachentscheide. Das heißt, sie sollen Einsichten verschaffen, auf deren Grund die Staatsgestaltung vor sich gehen kann. Wissenschaft ist damit in eine soziale Verantwortung gestellt. Es ist nicht gleichgültig, was sie tut und sagt. Forschung und Lehre haben die Wirkung zu bedenken und sich deswegen zu dem Ernst zu verstehen, der der Aufgabe gebührt; der Staat darf ihnen nicht Spielball sein. Sie sollen damit auch methodisches und ethisches Vorbild geben. Der Staat der Gegenwart und der Zukunft läßt sich zulänglich nur noch einrichten mit der Bereitschaft zur Wahrhaftigkeit und zum suchenden Argumentieren in der vernunftgetragenen, geistig zuchtvollen Auseinandersetzung. Die wissenschaftliche Haltung ist die, die allein hier weiterhilft. Die Wissenschaft aber macht sich mit ihrer praktischen Ausrichtung keineswegs zur Magd der politischen Herrschaft, und sie wirft sich nicht zur Herrin der Politik auf, sondern sie wird die unabhängige Partnerin, die die Rationalität und die Einsicht in die Bedingungen der Staatsgestaltung betreut.

Etwas Drittes ist inbegriffen, wenn man nach Klarheit

sucht, nämlich eine eigenartige Gewißheit, die aus der differenzierenden Einsicht fließt. Die Wiederentdeckung der Geschichtlichkeit von Recht und Staat hat in den letzten Jahren einen Kult der Dynamik ausgelöst. Das Prozeßhafte im staatlichen Sein wird als so packend empfunden, daß darüber ein Grundauftrag des Staats, dem Menschen freie Entfaltung und der Gesellschaft Gestaltungsmöglichkeit zu gewähren, in den Hintergrund tritt. Es wird verdeckt, daß der Staat seine freiheitsbehütende und gemeinschaftsordnende Kraft durch relative Stabilisierungen und Zuverlässigkeiten zustande bringen muß. Wird die Dynamik zum durchgehenden Prinzip erhoben, lösen sich die Kategorien der Verbindlichkeit und der Geltung auf. Das Chaotische dringt in das Staatsdenken und in die staatliche Existenz ein. Überwindende Klarheit, die zugleich billigen Positivismus meidet, wird differenzieren. Das staatliche Sein bietet sich in einer besonderen Art von Schichtenbau dar, ohne daß man eine ontologische Schichtenlehre darauf anwenden könnte. Die verschiedenen Ebenen folgen abweichenden Gesetzlichkeiten. So gibt es Elemente, die sich langsamer verändern, die durch soziale und menschliche Gegebenheiten weniger begrenzt, die durch Wertbezogenheiten gefestigter sind als andere, die den auffälligen Realien des Alltags und der Technik näherstehen. Doch kann sich staatliche Gestaltung nicht nur aus der einen Schicht nähren. Es braucht die Fähigkeit zur Synopse, zum Denken in Zusammenhängen, zur Erfassung des differenzierten und interdependenten Ganzen —und für solche Denkweisen im staatlichen Bereich hat der Tag erst begonnen. Die beklagte Unsicherheit nimmt im gleichen Verhältnis ab, wie sich das Vermögen zur kreativen Dialektik ausbildet.

II

Einen breit angelegten Versuch, der Unsicherheit im
staatlich-politischen Bereich zu entfliehen, stellen die
Bemühungen um eine Totalrevision der schweizerischen
Bundesverfassung dar. Die Protagonisten haben freilich
andere Motive in den Vordergrund gestellt: Wiederaufrichtung
eines strengen konstitutionellen Denkens, das
in der geschriebenen Verfassung ein geschlossenes System
unverrückbarer Grundentscheidungen sieht; oder
die Erweckung der politisch müde oder träge gewordenen
Nation durch eine integrierende Gemeinschaftstat;
oder die Verschaffung eines werthaften Rückhalts
für den geistig und psychisch hinfälligen Menschen;
oder die technisierte Vervollkommnung des Staatsapparates
zur Sicherstellung des erreichten Wohlstandes.
Doch die Begründung für eine Verfassungsrestauration
schlägt im 20. Jahrhundert nicht durch. Die Verfassung
mythisch oder gar als psychische Stütze zu
deuten oder sie als bloßes machttechnisches Instrument
behandeln zu wollen, bringt Verengungen und Verarmungen
der an sich immer noch gültigen Leitvorstellung:
Die den Staat begründenden, Freiheit und Ordnung
stiftenden Fundamentalnormen seien zusammenzuziehen
und inhaltlich so auszuformen, daß Macht gebändigt
und Herrschaft gemäßigt werde. Hält man an
diesem ideellen Ausgangspunkt fest, kann das Revisionswerk
dem ersten Ziele gelten, mit unserem Staat
«ins Klare zu kommen». Und das ist etwas!

Um die Skepsis gegenüber einer Totalrevision abzutragen, muß sich das erste Ziel jedoch mit einem zweiten verbinden: mit dem Problemrealismus. Es gibt Befürworter der Totalrevision vorwiegend um der Bewegung willen. Es soll Leben demonstriert, politische Initiativkraft und Fortschrittlichkeit bewiesen werden. Ob das Neue auch richtig und insbesondere besser sei,

bleibt kaum beachtet. Ein lärmig-triügerischer Revisionismus lauert uns auf. Sinnerfüllt wird das Bemühen um Verfassungsänderungen erst dann, wenn es die echten und schwerwiegenden Probleme aufgreift, wenn es mit ihnen fertig wird und darauf verzichtet, sich mit künstlich beleuchteten Nebenfragen abzugeben. Macht man Ernst mit dem Problemrealismus, wird es sachlich belanglos, ob eine Totalrevision oder eine Kette von Partialrevisionen ablaufen wird. Das wahre Thema ist nicht die Totalrevision als Formalerscheinung um jeden Preis, sondern das Zurechtfinden, die praktische Zielgebung und die Ausrüstung der politischen Gemeinschaft auf absehbare Zukunft. Wir müssen jetzt noch nicht den Staat des Jahres 2000 vollendet einrichten, sondern den, der zu ihm hinführt.

Die Konzentration auf die wahren Problemlagen und die Verpflichtung auf die Richtigkeit öffnen den Blick dafür, daß mit der Revision der Bundesverfassung in einem oder in etlichen Schritten der Staat noch nicht flottgemacht ist. Denn die jetzt notwendigen Reformen greifen über das hinaus, was eine Verfassung mit ihren Normen im herkömmlichen Sinn vermag. Für den heutigen Staat Maßgebliches wird durch die Verfassung weder hervorgebracht noch gelenkt, jedenfalls dann, wenn man bei den gewohnten Normstrukturen und Geltungslehren stehenbleibt. So erfaßt die formelle Verfassung nur einen, obgleich fundamentalen Ausschnitt aus dem staatlichen Existenzbereich. Wesentliche Fragen, zum Beispiel die über Ausmaß und Gestaltung unserer Sozialstaatlichkeit, werden faßbar erst auf der Stufe der Gesetze und der Verordnungen beantwortet. — Unsere Stellung zur Umwelt findet die effektive Grundlegung in den Staatsverträgen. — Die neuartigen Funktionsprobleme des Staats suchen die Anfänge ihrer Lösungen in ebenso wichtigen wie ungewohnten Staatsakten, deren Rechtsstruktur und Verbindlichkeitsgrad

noch völlig offen sind. Dazu gehören die Regierungsprogramme des proporzdemokratischen Kollegialsystems, die als indikative Planungskonzepte die Hauptthemen der Staatspolitik auf eine mittlere Frist zu bestimmen trachten. Oder es sind die Führungsgrundsätze für die zeitgemäße Exekutivtätigkeit, die in groben Umrissen erst für den Bund vorliegen. Nötig werden normative Leitprinzipien für die gefährdete Parlamentsarbeit und für die Beziehungen zwischen den Behörden und der Öffentlichkeit. — Schließlich kann man nicht am Faktum vorbeieilen, daß die Lenkung des Staats nur zu einem Teil über Rechtssetzung und Rechtsanwendung zustande kommt. In zunehmendem Maß bestimmt unmittelbar über den Staat und im Staat, wer konkret über die Mittel der Finanzgebarung verfügt. Finanzordnung ist Sachordnung; im Finanzentscheid steckt ein Sachentscheid. Der mittelfristige Finanzplan und das jährliche Budget werden zum Machtinstrument ersten Ranges, das noch effektiver wird, wenn Computer und Planungstechnik den Kinderschuhen dereinst entwachsen werden. Deswegen drängt es, Finanzplan und Budget in geordneten und offenen Verfahren durchsichtig zu machen und sie von der sachfremden Blindentscheidung oder dem Belieben der Präparatoren zu befreien. Die umfassende Finanzordnung, die Verfassungs- und Gesetzesrecht mit dem Plan kombiniert, ist überfällig, aber erst im Bund auf tragfähige Elemente gestellt. Die Kantone waten durch die Untiefen eines veralteten Finanzgebarens, das lediglich im Raffinement der Steuererhebung zeitgemäß anmutet. — Der Staat wendet sich allgemein und rasch zunehmend der Prospektive zu. Er weiß, sich seiner neuartigen Rolle als Gestalter der Zukunft nur gewachsen, wenn er die Planung zur eigenständigen Staatsfunktion erhebt, freilich auf die Gefahr hin, daß ob der abstrakten Bereitung der Zukunft die konkrete Bewältigung der Gegenwart

zu kurz kommen könnte. Die vielfältigen staatlichen Pläne in ihren schillernden und noch wenig erforschten Eigenheiten gehören auf die Palette der staatsbestimmenden Akte außerhalb der geschriebenen Verfassung.

Der Umbruch der Gegenwart und die Ausstrahlung auf das Staatliche mag das Ausmaß eines historischen Epochenwechsels haben. Die staatliche Erneuerung steigt trotzdem nicht in die Erhabenheit idealistischer Neuorientierungen auf, wie sie der Zeit, die vom Mittelalter Abschied nahm, oder der französischen Revolution eigen war. Auch eine Staatsschöpfung aus der apriorischen Idee, die als ideologisches Konzept oder als Emanation der theoretischen Vernunft auftritt, ist nicht glaubhaft. Funktionstechnisches und empirisch Konstruierbares stehen voran und versetzen die Reformbemühungen in eine affektive Neutralität, die erklärt, daß die Volksbegeisterung für eine Totalrevision der Bundesverfassung bisher ausgeblieben ist. Dies ist weder beängstigend noch verwerflich. Die farblose organisatorisch-funktionelle Aufgabe aber darf sich das gute Gewissen echten Bemühens zulegen. Sie ist uns überbunden, ob sie in der öffentlichen Meinung weite oder wenig Wellen werfe. Im übrigen wird den Reformbestrebungen vorhergesagt, sie müßten scheitern, weil ihnen die tragende und mitreißende Idee fehle. Der Einwand ist richtig, wenn man dafür hält, Änderungen im Staat seien nur über einen in sich geschlossenen Leitgedanken zu erreichen, der emotional anzutreiben sei und Massenwirkungen erzielen könne. Der Einwand geht fehl, wenn man eine ideell-wertmäßige Tragfähigkeit auch schon der Aufgabe zuschreibt, nüchtern und entschlossen die anstehenden Probleme aus gesamtheitlicher Sicht an die Hand zu nehmen. Gesamtheitliche Sicht wird erreicht, wenn man wagt, finale Hauptlinien hervorzuheben, denen die Neuerungen folgen. Den Gefahren der Vereinfachung steht der Gewinn gegenüber,

zumindest vorläufige Orientierungsmöglichkeiten einzubringen. Wer weiß, wo er steht, wer die Orientierung gewinnt, hat das Maß von Sicherheit, das er braucht, um zur politischen Denk- und Handlungsfähigkeit vorzustoßen. Zwei Problemkomplexe sind es, die den schweizerischen Staat heute vorwiegend bedrängen, Reformen erheischen und die sie beherrschen: der Leistungsstaat einerseits, die Demokratie anderseits. Lassen sie sich halten und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander?

III

Leistungsstaat bedeutet die tendentiell allgegenwärtige und in unbeschränkt vielen Lebensgebieten tätige Staatsorganisation von perfekter Produktivität und hohem Wirkungsgrad. Der Leistungsstaat legt demokratische und rechtsstaatliche Verpflichtungen nicht ab. Im Gegensatz zur totalitären Herrschaft will er nicht Macht an sich; er will die Menschen nicht in seinen zwingenden Griff nehmen; er sucht nicht die Unterwerfung zustande zu bringen. Das Ziel des Leistungsstaates ist vielmehr, sich für den Menschen und die Gesellschaft — die er mit sich nicht völlig identifiziert, wiewohl auch nicht von sich abtrennt —bereitzuhalten, ihnen die begehrten Dienste zu erbringen und das Zusammenleben rechtens zu ordnen. Er nimmt die herkömmlichen Staatsaufgaben wahr — Behauptung der Unabhängigkeit, Sicherstellung der Ordnung, Rechtspflege —, verlegt sich jedoch überwiegend auf neuartige Staatstätigkeiten, in denen Leistung gemeinsames Merkmal ist. Dieser Staat sorgt für Vollbeschäftigung, verhindert Wirtschaftskrisen, fördert gefährdete Wirtschaftszweige, hält die Währung aufrecht. Er verschafft Bildung und Ausbildung, übernimmt die Pflege der Kranken und Alten, betreut die Jugendlichen, kümmert sich um die Gestaltung der Freizeit. Er baut

Wohnungen und Verkehrswege, produziert und verteilt Energie, beschafft und schützt Wasser und Lebensmittel. Er ermöglicht Massenkommunikation und wendet sich geistigen und psychischen Sorgen seiner Einwohner zu. Er trifft die Vorsorgen, um die Nation durch die Fährnisse der strategischen Verflechtung durchzubringen, und für den Fall der kriegerischen Katastrophe sucht er mit immensen Vorkehren das Überleben des Volkes zu ermöglichen. Er ist tolerant und modernistisch. Er ist ein wohlwollender und hilfsbereiter, auf Gerechtigkeit und Ausgleich gesonnener Staat.

Der Leistungsstaat ist nach einer verbreiteten Typisierung Sozialstaat, zugleich aber noch mehr: Er greift über die fürsorgende und versorgende Sozialgestaltung hinaus und ist leistende Ordnungskraft schlechthin. Er nimmt in sich Elemente des materiellen Rechtsstaats auf. Denn er richtet sich auf die Menschenwürde und die Grundrechte aus und umgibt sich mit den rechtsbehütenden Institutionen. Damit verstrickt er sich freilich auch in die unerschöpflichen staats- und verwaltungsrechtlichen Schwierigkeiten, die auf den sozialen Rechtsstaat hereingebrochen sind.

Der Leistungsstaat ist nicht neu. Das liberale 19. Jahrhundert nahm viele seiner Tätigkeiten bereits wahr, allerdings bescheiden und meist nebenbei. Das 20. Jahrhundert steigert ihn quantitativ derart, daß daraus ein qualitativ verändertes Gemeinwesen hervorgeht. Und hier können nun neue Züge in den Vordergrund treten: Der Leistungsstaat kennt keine Grenzen. Er läßt sich antreiben durch eine begehrliche Gesellschaft und den perfektionistischen Menschen, der durch Technik und Wohlstand verwöhnt und im Anspruchsdenken hemmungslos wird. Einmal in Gang gesetzt, entwickelt Leistungsstaat Initiativen, womit er sich ausbreitet und verdichtet. Derart gerät er in ein bedrohliches Gefälle: Er nimmt, trotz der grundsätzlich gegenteiligen Zielsetzung,

Elemente des totalitären Staates an. In der weitherzigen Darbringung von Wohltaten, ja in der umfassenden Leistung überhaupt stecken tyrannisch-totalitäre Züge. Die unentbehrliche Leistung schafft eine zwingende Klammer. In sichtbaren Effekten nähern sich die beiden Staatstypen einander an.

Damit verwandt ist das Weitere. Die Leistung ist auf Großorganisation angewiesen. Der Staat ist notwendigerweise Apparat, technisiert-bürokratisches Gefüge, hochempfindlich, störungsanfällig, aufwendig. Die dominante Gewalt ist die Verwaltung; sie vor allem schafft und erbringt, was gefordert wird. Da aber der Druck, Leistung zu mehren, rascher wächst als die Fähigkeit, die Organisation rational zu entwickeln, bietet der schweizerische Leistungsstaat der Gegenwart das Bild des relativ unförmigen, oft schwerfälligen und nur mühsam überblickbaren Komplexes. Seine Leistungsfähigkeit ist —verglichen mit dem Großteil des Auslandes — zwar außerordentlich hoch. Allein, er steht in zunehmender Gefährdung. Bürger, Sozialgruppen und öffentliche Meinung registrieren den wahren Sachverhalt wenig und lassen deswegen ihren wachsenden Anforderungen bedenkenlos den Lauf. Sie schrecken allerdings auf, wenn grobe Fehlleistungen vorkommen. Die Mirage-Angelegenheit und kantonale Spitalbauschwierigkeiten sind Beispiele dafür. Man spricht dann rasch von Unbehagen und gibt ihm den Anstrich der Staatsverdrossenheit, die man belegt finden will in schlechten Stimmbeteiligungen, in überlauter Kritik an den Behörden, in Ablehnungswellen oder in Demonstrationen. In Wirklichkeit gibt es erst Ansätze zu einer tiefergreifenden Entfremdung von, Bürger und Staat. Global beurteilt, sind wir bis jetzt eine integrierte politische Nation geblieben, und der Staat ist uns weder Leviathan noch anonyme Potenz in unfaßbarer Distanz. Es ist noch «unser» Staat.

Das sporadische Unbehagen quillt weitaus stärker aus schiefen Beurteilungen seiner Lage. Es macht Mühe, zu erkennen und dann zuzugeben, daß die staatliche Organisation in eine ununterbrochene Überforderung geraten ist. Wir wollen mehr von ihr, als sie vermag. Wir wollen es rascher, besser, mängelfreier. Wir starren auf die Seite der Leistung und rechnen nicht ein, daß diese nur möglich wird mit einer hochgezüchteten Organisation. Beharren wir auf den heutigen Strukturen, Verfahren und Arbeitsweisen, wird der Staat auf die Dauer den Erwartungen und Forderungen nicht genügen. Er muß versagen. Soll seine Überforderung abgewendet werden, stehen indessen zwei Möglichkeiten voran: die Reduktion des Staatlichen oder Änderungen im Bereiche des Organisatorisch-Funktionellen.

IV

Den Bereich des Staatlichen zu verengern und die staatlichen Obliegenheiten abzubauen, erscheint dann als möglich, wenn wir willens und fähig wären, bedeutsame Sachaufgaben zu verringern oder aufzugeben. Vermöchten wir aber einen realen Abbau staatlicher Leistungen durchzuhalten, etwa im Gebiet der Gesundheitsvorsorge, des Spitalwesens, der Forschung, der Bildung, der wirtschaftlichen Interventionen, der Raumplanung, des Schutzes vor Zivilisationsmängeln? Wären wir bereit, mit bescheideneren Verkehrsmitteln und -wegen, mit einfacheren Schulungs- und Pflegemöglichkeiten, mit geringerem Schutz vor Verschmutzung und Gefährdungen auszukommen? Kleine und vorübergehende Reduktionen wären nutzlos. Zu entlassen wären ansehnliche Sachkomplexe, die den gegenwärtigen Staat zur Ausweitung drängen und ihm die Aufgabenbewältigung mit herkömmlichen Mitteln erschweren.

Es wäre der Versuch, zurückzudrehen wider das Sozialgesetz der favorisierenden Irreversibilitäten. Denn Unumkehrbarkeit stellt sich dann regelmäßig ein, wenn viele Menschen oder einflußreiche Sozialgruppen vermeintlich oder wirklich Begünstigung, Erleichterung und Schutz erlangt haben. Das Staatliche zu reduzieren und in festere Grenzen zurückzuziehen, wäre das Unerhörte einer restaurativen Revolution. Es wäre eine soziale Askese, die nur real würde auf Grund einer Verinnerlichung des Menschen. Sie müßte sich vollziehen als Folge einer radikalen Neubesinnung, einer individuellen Umkehr, wie sie etwa Karl Jaspers charakterisiert hat.

Sind wir nüchtern und wirklichkeitsnah, werden wir indessen einrechnen: Der Mensch der Gegenwart ist kaum bereit, diesen Gang aufzunehmen. Auch wenn wir an seine Wandlungsfähigkeit und an die Möglichkeiten transzendenter Neuorientierung glauben, wird sich angesichts der allgemeinen Einstellung und der realen Situation von Mensch und Gesellschaft in absehbarer Zeit keine fundamentale Wendung ergeben. Es erwachsen sonderbarerweise auch normative Bedenken gegen einen Abbau. Dem Staat als einer elementaren «Grundlage der menschlichen Existenz» (Ulrich Scheuner) ist ideell aufgetragen, politische Gemeinschaft durch Ordnung und Befriedung zu schaffen. Er muß deshalb auf die wirkliche Lage des Menschen und der Gesellschaft, die er nur teils hervorbringt, sonst aber vorfindet, Bedacht nehmen. Er soll sich aus einem Wortzusammenhang, in den er hineingestellt ist, formen. Er ist nur begrenzt zur souveränen Selbstgestaltung legitimiert, kann also seinen Aufgabenkatalog nie beliebig bestücken. So erhebt sich die Frage, ob dem heutigen Menschen und der gegenwärtigen Gesellschaft angesichts des geistigen und sozialen Wandels eine schwindende Aktivität des Staatlichen zugemutet werden dürfte.

Wäre insbesondere Verlaß darauf, daß Selbstregulierungen der Gesellschaft einsetzten und der verängstigte Mensch sich zu selbstbestimmender Persönlichkeit kräftigte? Im allgemeinen und grundsätzlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht! Ist dem aber so, wird der Staat, legitimiert durch seine Sendung, grundsätzlich von der Schrumpfung abgehalten sein. Man wird für einmal davon ausgehen, daß es bei der heutigen Aufgabenfülle und gar ihrer Tendenz zur Weitung bleibt. Für die effektive Entscheidung bleiben konkrete Fragen des Maßes. Hilfe aber muß dem überforderten Staat vornehmlich auf anderen Wegen gebracht werden: so durch organisatorisch-funktionelle Vorkehren, die die erwartete Leistungsfähigkeit gewährleisten.

V

Wer im Staat reorganisiert, kann sich nicht beliebig lösen von dem, was geschichtlich gewachsen ist. Er kann nur sehr beschränkt mit den zielgerichteten Maßstäben umgehen, die betriebswissenschaftliche Überlegungen den privatwirtschaftlichen Unternehmen in die Hand geben. Der Staat ist so einzurichten, daß die allgemeine Volksmeinung ihn akzeptiert, und diese läßt sich durch kühl teleologische Organisationsprinzipien nur eine Strecke weit bestimmen. Schweizerische Reorganisation stößt unverweilt auf den zweiten Problemkomplex, der seine Aktualität seit 1830 eigentlich nie abgelegt, sondern nur gewandelt hat: die Demokratie. Sie ist uns ständig ein Bündel von ungelösten Fragen, sie ist uns aufgegeben als schönstes wiewohl auch schweres Erbe.

Zwar bildet die Schweiz nicht nur die komplizierteste, sondern, wie wir mit viel Scheu und einigem Stolz immer noch zu behaupten wagen, auch die optimale Demokratie in der Staatenwelt unserer Zeit. Sie kann nach

Größe, Tradition und Staatsgesinnung auf so begünstigende Voraussetzungen bauen, wie wohl keine andere Gemeinschaft. Doch ist die zur permanenten Aktion gezwungene Demokratie wachsenden Zweifeln ausgesetzt. Diese wären noch größer, wenn die voreilige Tageskritik ruhiger beobachtete, was wirklich ist, und dann da zugriffe, wo die tatsächlichen Mängel liegen.

Dem Namen nach setzen wir uns mit ähnlichen Basisfragen auseinander wie das Ausland, soweit es von den pervertierten Demokratiebegriffen totalitärer Systeme Abstand nimmt. So halten auch wir Ausschau nach Orientierung und Wertung dafür, daß Gruppenpluralismus und Interessenzersplitterung die geschlossene Volkseinheit ins Utopische verweisen, daß Parteien und Verbände keinen eindeutigen Platz im Regierungssystem haben, daß die soziale Egalisierung die konfigurierte bürgerliche Gesellschaft ablöst und unvertraute normative Menschenbilder einführt, daß die demokratische Willensbildung auf neuartige Realfreiheiten angewiesen ist, zum Beispiel auf veränderte Meinungsfreiheiten angesichts der Massenkommunikationsmittel und der erleichterten Manipulation des Menschen. Darüber hinaus sind wir problemreichen Fragen ausgesetzt, die sich dergestalt nur wegen der schweizerischen Institutionen stellen, etwa die Verarmung der Volksinitiative zum politischen Notbehelf, die Degradierung des Gesetzes- und des Finanzreferendums zum plumpen Drohmittel in partei- und verbandspolitischen Aushandlungen, die Stagnation der vielschichtigen Kontrollvorgänge zufolge der Proporzübertreibungen, die Qualitätsverluste der Behörden angesichts der Konkordanzdemokratie und des parlamentarischen. Milizsystems.

Ein rettender Ruf im Ausland ist: «mehr Demokratie!» Durch Wahlrechtsreformen, im systematischen Aufbau von repräsentativen Meinungsumfragen, in der Institutionalisierung von Parteien und Verbänden, in

der Belebung dezentralisierter Autonomieträger künden sich allgemeine Versuche an, Demokratie zu verbreitern, sie unmittelbarer zu machen. Die Jagd nach der direkten, der identitären Demokratie, in der Regierende und Regierte identisch sein sollen, hat wieder eingesetzt. In dieser angeblich reinen Demokratie sind Behörden bloß Ersatz, Notlösung, gelebtes Sinnbild verhinderter Volkssouveränität; sie sind die großen Entmündiger. Obwohl die Schweiz für die vermeintliche Vollendung ihrer Grundform kräftige Neigungen verspürt, übt sie aus politischem Instinkt Zurückhaltung gegenüber den erweckenden Rufen aus liberalistischen, marxistischen oder psychoanalytischen Quellen. Eine vergleichbare politische Romantik hat vor vier Jahrzehnten schon einmal Unheil gestiftet. Damals schilderte eine einflußreiche deutsche Staatslehre die identitäre Demokratie als Zielvorstellung reiner Volksherrschaft, geißelte nach diesem konstruierten Maßstab die Weimarer Republik als Versager und half mit, sie dem revolutionären Überwinder in die Fänge zu treiben. Eine irreale Strukturvorstellung wird zu einer Recht und Staat zerstörenden Illusion, wenn sie zu einer normativen Staatsidee erhoben wird. Demokratie ohne Behörden gibt es aus faktischen und wesensbestimmten Gründen in der Wirklichkeit nicht. Äußerste Begrenzung ist die halbdirekte Demokratie, die unmittelbare Volksbeteiligungen und Behördentätigkeit als je eigenständige, wenn auch aufeinander bezogene Elemente betrachtet. Eine vernunftgeleitete Staatstheorie kann diese Grenze nicht überschreiten.

Der ausländische Ruf nach «mehr Demokratie» hilft denn gerade unserem Staat nicht weiter. Die Schweiz weiß sich in dieser Hinsicht noch immer weit voraus: Ihre ausgefeilten Volksrechte, die erleichterten Zugänge des Bürgers zu den Behörden, das auf politischer Gleichheit und sozialer Angleichung fußende Institutionengefüge,

die föderative Ausgliederung sind und bleiben Kumulationen demokratischer Grundordnung. Der Reichtum an Institutionen, die dem Bürger die Teilhabe am staatlichen Entscheid ermöglichen, ist einzigartig. Die Unmittelbarkeit ist ausgeprägt. Die geistige und institutionelle Problematik erwächst uns tatsächlich nicht aus einem «Zu-Wenig» an Demokratie. Sie entspringt eher aus der Vielzahl demokratischer Einrichtungen und ihrer historischen Begegnung mit dem Leistungsstaat. Demokratie und Leistungsstaat geraten zunehmend in Gegensätzlichkeiten.

Der Leistungsstaat ist der Staat der hohen Effizienz. Demokratie ist ein Staat der Breite, des Imperfekten und Schwerfälligen. Jener ist Funktion und Aktion; diese ist Struktur und Partizipation. Demokratie braucht, wo sie echt sein will, den langen Weg der Meinungs- und Willensbildung in der Allgemeinheit, die frühe und unbegrenzte Öffentlichkeit. Sie muß emotionale Motivierung zulassen und die Ungewißheiten der Volksmeinung und die Unvorhersehbarkeit der Volksentscheidung ertragen. Der Leistungsstaat verlangt mobile Organisation, schnelle Verfahren, Berechenbarkeit der Entscheidung. Er geht auf objektive Richtigkeit seiner komplexen Entscheidungen gemäß den Sachgesetzlichkeiten aus. Er lebt im Klima der durchgebildeten Rationalität. Demokratie bewegt sich zwischen dauerndem Mißtrauen, irrational durchsetzten Verantwortlichkeitsvorgängen und menschlich-verstehender Gutmütigkeit. Sie sucht den gemeinverträglichen Kompromiß und findet Genüge in der Zustimmung und Einigung. Der Leistungsstaat benötigt die konzentrierte Apparatur, die in gesicherten Funktionsabläufen zuverlässig produziert. Der Demokratie ist es im letzten nicht um den sachlich besten, sondern um den genehmen, durch legitime Organe geprägten Staatsakt zu tun. Wir wollen die Reihe der typisierenden Vergleiche

abbrechen und festhalten: Demokratische Bezüge können die Leistung verbessern, soweit die vermehrten Beteiligungen Wissen, Vorsicht und Hilfen verstärken. Aber bis jetzt hat man die Erfahrung noch nicht umkehren können. Von einem kritischen Grenzbereich an steht Demokratie der Effektivität lindernd im Wege, und von da an laufen verfeinerte demokratische Organisation und effektiver Leistungsstaat im Lichte der praktischen Vernunft auseinander.

Auf diese Tatsache stößt vor allem der Demokratismus unserer Tage. Die radikalisierenden Bewegungen vieler Bezeichnungen hoffen, die individuelle Selbstentfaltung und die Selbstbestimmung zu einer neu gedeuteten offenen Freiheit dadurch herzustellen, daß der Bereich des Politischen geweitet und der Mensch am politischen Entscheidungsprozeß tatsächlich wirksam beteiligt werde. Für die Verwirklichung türmen sich die Schwierigkeiten, die beinahe gleich sind, ob sich die geforderten Mitwirkungen auf den Staat oder auf innerstaatliche Organisationen, beispielsweise auf die Unternehmung oder auf die Universität, erstrecken. Soweit sich der Demokratismus über seine Institutionalisierung überhaupt Gedanken macht, kommt er entweder zu extremen Fortbildungen von direkt-demokratischen Einrichtungen, oder zu Neuansätzen eines bisher in der Geschichte kaum erprobten Rätesystems, das er meist in anarchistischen Vorstellungen fundiert. Wäre er problembewußt, müßte er ergänzende Forderungen aufnehmen und durchsetzen: Mensch und Gesellschaft wären zur Vereinfachung und Bescheidung hinzulenken. Es wäre eine konsequente föderative Struktur anzustreben, die das Schwergewicht der politischen Integrationsvorgänge und Entscheidungen in dezentralisierte Einheiten verlegte, vornehmlich in Gemeinden, Regionen und Kantone. Schließlich wäre die Anstrengung darauf zu richten, den Bürger aus seiner passiv-bourgeoisen

oder gleichgültig-genießerischen Haltung herauszuführen in die unbedingte Bereitschaft des citoyen, der Pflichten zugunsten der Gemeinschaft auf sich nimmt. Mit solchen Postulaten würde der Demokratismus auf die Belebung darniederliegender Werte ausgehen und gegen populäre Bequemlichkeiten antreten. Es ist deswegen nicht unverständlich, daß er das für ihn schwer durchdringbare Institutionalisierungsproblem bisher vertagt hat. Er wird es aufgreifen müssen, wenn er die Straße des Protestes verlassen und den kühlen Raum der politischen Gestaltung betreten, also eine politische Potenz werden will. Er würde sich dann allerdings in die Reihe derer stellen, die sich um die erfüllbare Erneuerung des demokratischen Staats bereits bemühen.

VI

Wer auch immer solche Bemühungen aufnimmt, ringt um die Verbindung von Leistungsstaat und Demokratie. Wie kann die eingerichtete schweizerische Demokratie die Organisation bilden und halten, deren der Leistungsstaat bedarf? Können wir Leistungsstaat und schweizerische Demokratie bisheriger Prägung bleiben? Wie, wenn die Demokratie die geforderte Kraft nicht hätte? Wären wir diesfalls bereit, um der Staatsform willen, die vorhin als irreal verworfene Reduktion des Staatlichen doch in Kauf zu nehmen? Oder würden wir umgekehrt der Demokratie Einbußen zumuten, wenn vielleicht auch nicht in den sichtbaren Formen, so doch im tatsächlichen Wirkungsgehalt?

Die Fragen erheben sich unentrinnbar. Gültige Antworten sind nicht abstrakt und a priori zu geben, sondern im Gang konkretisierender Staatsentscheidungen, wofür die Verfassung Grundwerte oder Ziele setzen soll. Auf vier Bezüge sind die Institutionen unmittelbar gerichtet.

Der demokratische Staat soll die Behütung und Entfaltung der Menschenwürde und der Freiheit ermöglichen, ohne sich auf überholte individualistische Leitbilder auszurichten. Er soll Staats- und Volkswille einander annähern, ohne die pluralistische Grundstruktur der Gesellschaft aufzuheben und ohne Homogenität zu erzwingen. Er soll reale Verantwortlichkeiten aufrichten, ohne das Staatshandeln im Netz von Kontrollen und Sanktionen zu ersticken. Er soll das staatliche Tun in die Helle des Öffentlichen und Rationalen überführen, ohne die emotionalen Fundamente der integrierten Gemeinschaft in einem Intellektualismus auszuhöhlen. Und alle diese Ausrichtungen sollen verbunden werden mit dem Begehren, den Leistungsstaat zustande zu bringen.

Damit brechen unzählige Antinomien auf. Sie sind ebenso unvermeidlich wie unlösbar. Sie zwingen den, der den Staat einrichtet, fortwährend zur abwägenden Entscheidung zwischen Für und Wider. Keine Lösung ist frei von Nachteilen. Der Kompromiß ist die Erscheinungsform der staatlichen Gestaltung. Fragen des Maßes stehen voran. Wer den Problemlagen nicht ins Auge zu schauen wagt, wer sich aufs Abwägen nicht versteht, wer den Kompromiß a limine verwirft, wer an die Tragfähigkeit ideologischer Konzepte glaubt, wer über allem das Denken in Zusammenhängen und das Handeln in praktikablen Schritten nicht beherrscht, ist zur staatlichen Erneuerung in der Gegenwart nicht imstande. Diese Zeit und diese Generation sind reif dazu, soweit sie fähig sind, sich in Nüchternheit und eingedenk der Realität auf derartige Voraussetzungen einzustellen.

Die Einstellung muß sich bewähren unter anderem an heiklen Reformgegenständen institutioneller Natur. Auf einige, die partikular erscheinen, aber in reiche Interdependenz versetzt sind, sei hingewiesen. Es ist nicht

fruchtbar, darauf zu Sinnen, dem Parlament künftig Suprematie über die andern Gewalten nominell und faktisch einzuräumen und aus ihm die Repräsentation nach frühliberalen Vorstellungen zu machen. Hingegen wird man die Fragen angehen, wie man der Bundesversammlung Urteilskraft und Zeit sicherstellt. Änderungen am Wahlsystem tragen nicht viel ab. Wirksamer ist die allgemeine Strukturierung und die personelle Qualität. Die Räte können das Milizparlament von nebenamtlichen Abgeordneten bleiben. Sollen sie aber Wirksamkeit bewahren, müssen sie sich zufriedengeben mit der überprüfenden und sanktionierenden Gesetzgebung, mit Wahlbefugnissen und einer generellpolitischen Verwaltungskontrolle. Sie könnten freilich ihren heutigen überdehnten Aufgabenbereich beibehalten, müßten sich dann aber zum Berufsparlament wandeln. — Es ist vergeblich, mit überholten Gewaltenteilungslehren Wege zu suchen, um die Regierung auf die Leitung des Gesetzesvollzugs zurückzubringen und sie zur bloßen Administrativspitze zu verengen. Vielmehr wird man ihr Raum verschaffen zur gestaltenden Lenkung des Staats überhaupt, zur initiierenden Aktivität, zu der für den Leistungsstaat lebenswichtigen Koordination, zur gubernativen Planung. Dafür muß sie zur wirkungsvollen Handlungseinheit gefügt und vom desintegrierenden Departementalsystem abgerückt werden. Zugleich wird man die politische Verantwortlichkeit der Regierung aus der heutigen Ungewißheit in faßbare Formen bringen. — Es ist unnötige Mühe, sich damit abzugeben, ob die Verwaltung verringert, die Kompetenzen abgebaut und ihr Ermessen beschnitten werden könnte. Die Verwaltung ist die zentrale Gewalt im Leistungsstaat und läßt sich durch keine andere ablösen. Aber es ist richtig, sie in ihrer Tätigkeit sachkundiger, rationeller, rascher, durchsichtiger und grundsätzlicher zu machen. Und es ist geboten,

sie einem System von maßvollen und verständigen Selbst- und Fremdkontrollen zu unterwerfen, wofür allenfalls konzentrierte Kontrolleinrichtungen zu schaffen wären. —Es ist unnütz und idee!! schief, die Schweiz dem Konzept eines Richterstaats entgegenführen zu wollen. Wohl aber sind Neuerungen zu finden, um, die unabhängige Justiz, die von allen Organgruppen in der Regel qualitativ am gehobensten besetzt werden kann, vermehrt zur Übernahme verantwortungsreicher Staatsakte heranzuziehen. — Die Problemlage wird verkannt, wenn man begehrt, Verbände und Parteien als die wichtigsten intermediären Gewalten seien in einen vom Staat getrennten gesellschaftlichen Bereich zurückzudrängen. Staat und pluralistische Gesellschaft sind für den gegenseitigen Konnex gleichermaßen auf die intermediären Gewalten als Vorformer und Übersetzer der staatlichen Entscheidungen angewiesen. Unerläßlich wird hingegen, ihre Tätigkeit zu erfassen, sie unter das Auge der Öffentlichkeit zu stellen und Wucherungen zurückzubinden. —Es ist entbehrlich, nach grundlegend neuen Einrichtungen der Volksbeteiligung Ausschau zu halten oder den Umfang vorhandener Volkskompetenzen erheblich zu beschneiden oder zu weiten. Indessen ist es sinnvoll, alle Pfade zu erkunden, die erlauben, das Volk zuverlässig über das Geschehen im Staat und die staatlichen Festlegungen zu informieren, seine Beurteilungsgrundlagen zu verbreitern, sein abwägendes Urteilsvermögen zu stärken und ihm jeweils nahezubringen, welche Konsequenzen seine Entscheidungen haben können. Angesichts der Massenmedienwerden die staatsleitenden Behörden in veränderte Beziehungen zum Volke treten, und es fragt sich, ob ihre Direktkontakte, die die Stellung der Parlamente, der Parteien und der Verbände transformieren, schrankenlos zuzulassen oder weiterhin durch Repräsentationen zu mediatisieren seien. — Es ist nicht an der Zeit, sich der Frage zuzuwenden,

ob die Schweiz Bundesstaat bleiben solle. Aber es drängen sich Grundentscheidungen darüber auf, wie die Aufgaben und Kompetenzen zwischen Bund, Kanton, Gemeinde und den neuen Regionen zu verteilen seien. —Daß das Gesetz eine zentrale Funktion erfüllen soll, auch wenn es sich teilweise zum Maßnahmegesetz wandelt, ist keine erwägenswerte Frage. Aber man wird unbefangen an das Verordnungsrecht herantreten, es als vollwertige Rechtsquelle endlich anerkennen und dafür in präzise Schranken weisen.

Aus derartigen «institutionellen Sorgen» (Theodor Eschenburg) leuchtet das aktuelle Generalthema aller reformierenden Bemühungen unübersehbar auf: Es ist das Problem, wie im Leistungsstaat die Sachkunde mit der Zuständigkeit verknüpft werden könne. Wie lassen sich etwa Entscheidungsbefugnisse des Volks, des Parlaments oder der Regierung mit dem Sachverstand, mit der sachlichen «Kompetenz» verbinden? Kann sichergestellt werden, daß die Organe, die die staatlichen Entscheidungen treffen, in zureichender Kenntnis der Problemlage, der wählbaren Lösungsmöglichkeiten und der aufweisbaren Konsequenzen befinden? Sind zum Beispiel die Organe, die die Finanzkompetenzen in der Hand haben, in der Lage, die im Finanzakt eingeschlossene Sachaufgabe zu überblicken und über sie so angemessen zu urteilen, daß die vom Staat aufgenommene Aufgabe sinnvoll erfüllt zu werden vermag? Es geht im Leistungsstaat nicht darum, daß entschieden werde, sondern darum, daß richtig entschieden werde. In der Demokratie aber kann nicht irgendwer maßgebendes Organ sein, auch wenn er alle Funktionstüchtigkeit bei sich sammelte, vielmehr nur der, der die demokratischen Legitimationsbezüge aufzuweisen imstande ist. Dies heißt: Will der Leistungsstaat Demokratie sein, bestimmt sich die Richtigkeit des Staatsentscheides nicht bloß aus Sachgesetzlichkeiten und

funktionalistischer Organisation, sondern auch daraus, daß solche Gefühlslagen und solche Organkompositionen beachtet werden, die eine demokratische Anerkennung zustande bringen. Kunstvoll müssen die konkreten Einrichtungen geschaffen werden, so daß sie Gegensätzlichkeiten in sich aufnehmen und ertragen können.

Das Institutionelle, normativ Konstruierbare hat indessen Komplementärmomente im Personellen, das durch Rechtsnormen nicht zu gewährleisten ist. Es kommt auch auf die Menschen an: auf den Bürger und auf die, die in Behörden die öffentlichen Geschäfte betreiben. Es ist von Belang, wer handelnd auftritt. Perfekte Organisation versagt, wenn die Amtswalter nicht genügen, und mangelhafte Organisation kann Erfolge zeitigen, wenn tüchtige Männer am Werk sind. Aber unzureichende Institutionen hindern fähige Menschen, verschleudern Energien, vereiteln Wirkung. So ist staatliche Erneuerung auf die Kombination angewiesen: Reformen von Institutionen müssen sich mit Veränderungen in den leitenden Positionen verknüpfen, falls diese in Rückstand geraten sind. Zwei Typen von politisch Tätigen sind im demokratischen Leistungsstaat fehl am Platz: der befehlende Experte und der Exklusivpolitiker.

Der Gedanke drängt sich vor, für den Leistungsstaat die Herrschaft des reinen Sachverstands zu fordern. Der Experte wird im Rückgriff auf einen mißverstandenen Platon zum modernen Weisen, dem man das Staatsschiff anvertrauen möchte. Doch damit käme man nicht weiter. Die Vorstellung von der Identifikation des Sachverstands und der letztinstanzlichen Zuständigkeit mag politologische Phantasie beflügeln. Die Skepsis waltet vor, sobald man sich vergegenwärtigt, wie Organe zu bilden wären, wer die Auslese treffen sollte, wie die Sachsynthese und die Verfechtung im demokratischen Prozesse vor sich zu gehen hätte, wie man der oligarchischen

Deformation entgehen könnte. Dem Gespenst des vollends rationalisierten Staats, der mit einem intellektualisierten Menschen kühlen Sinns und technischen Verstandes rechnet, würde ohne Not und jedenfalls verfrüht Einlaß gewährt. Die integrierte Gemeinschaft sänke ab zum zweckrationalen Zusammenschluß. So weit müssen wir selbst für den potenzierten Leistungsstaat nicht gehen. Der Experte ist unerläßlich. Aber er ist um seiner Unabhängigkeit willen lediglich Berater, Mitarbeiter, Vorbereiter, ausgestattet mit wissenschaftlicher, nicht mit behördlicher auctoritas.

Für staatsleitende Tätigkeiten überholt ist das entgegengesetzte Bild vom Manne, der sich ohne gezieltqualifizierte Vorbereitung und ohne geschulte Führungsfähigkeiten der Politik verschreibt und dann versucht, allein mit dem «gesunden Menschenverstand» und einer vererbten «politischen Ader» auszukommen. Der Nur-Politiker findet sich im anspruchsvollen Leistungsstaat auf die Dauer nicht zurecht, und mit ihm scheitert schließlich auch der Staat. Seine Autorität ist es, die ausgedient hat: Titel, Amt und Stellung verlieren ihre Eigenständigkeit. Eine Geltung, die sich in patriarchalisch-hierarchischen oder in egalitär-nivellierenden Ursprüngen, statt in der sachlichen Qualifikation begründet, verläuft sich. Zu Lasten des Nur-Politikers geht die sonderbare Erscheinung der Gegenwart, daß sich der effektive Entscheidungsakt in die präparierenden Vorverfahren verlegt, daß die Entscheidungsmächtigkeit weniger den dezidierenden Organen als den vorbereitenden Instanzen gehört, daß materielle und formelle Zuständigkeiten sich zu sondern beginnen und die Formalkompetenz immer häufiger vor dem bedrückenden Dilemma steht, entweder das Präparierte unverändert anzunehmen oder in das Risiko des Fehlentscheids zu laufen. In seiner Hand zerfallen die Verantwortlichkeitszusammenhänge, die den Leistungsstaat demokratisch

machen sollten. Wir brauchen in der Front primäre Kräfte, denen die leitenden Obliegenheiten im Staat zuzuscheiden sind. Primäre Kräfte sind an veränderten Leitbildern auszurichten. Nötig wird der Mann, der imstande ist, reale Verantwortung für die freie Gemeinschaft aufzunehmen und in ihr voranzugehen, nicht einfach in formaler Überhöhung, wohl aber mit innerer Überlegenheit und mit der Energie zur äußeren Handlung. Seine Kraft zur Lenkung erwächst vornehmlich aus einem Kern gehobenen Wissens im Bereich der staatlichen Aufgaben und aus vier elementaren Fähigkeiten: erstens daraus, fremden Sachverstand zu befragen und sachgerecht zu nutzen, mit helfenden Stäben umzugehen und argumentierend Lösungsmöglichkeiten abzuwägen; zweitens aus der Fähigkeit zum Selbst-Denken in integraler Unabhängigkeit, verwoben mit dem Sensorium für das politisch und sozial Erträgliche, Zumutbare und Vollziehbare; drittens aus dem Vermögen zur Übersicht, zur Erfassung der Interdependenzen und zur Koordination; viertens aus der Kraft zum Ausharren dergestalt, wie Max Weber die Tätigkeit des Staatsmanns gekennzeichnet hat: als «ein starkes langsames Bohren von harten Brettern, mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich».

Ich komme zum Schluß. Es ist uns aufgegeben, uns im Umbruch zu bewähren und den Staat als politische Gemeinschaft freier Menschen fortzuführen. Zu diesem Zwecke ist die Bereitschaft zu Reformen aufzubringen. Die Ziele und Wege sind an den bedrängenden Problemen zu orientieren. Die Lösungen aber entspringen in aller Regel nicht den hohen Eingebungen seltener Geister, sondern sind Früchte hartnäckigen Mühens der politischen Praxis im Verein mit der Wissenschaft. Sie erstreben Klarheit und wachsen auf dem institutionellen wie auf dem personellen Boden. Dergestalt führen sie heraus aus Angst und Unsicherheit in die ruhige Zuversicht

dessen, der sich schlicht am Werke weiß: Er sucht nach dem Vernünftigen für den Staat, der in die Überforderung geraten ist. Daß dabei die Verknüpfung von Demokratie und Leistungsstaat gelinge, ist erster Auftrag dieser Zeit.