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Der Mensch im technischen Zeitalter und seine Umwelt

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Hugo Aebi

Bericht über das Studienjahr 1969/70

1. Oktober 1969 bis 30. September 1970
erstattet vom abtretenden Rektor Prof. Dr. Walter Müller

Inhaltsverzeichnis
A. Rektoratsrede
Prof. Dr. Hugo Aebi: «Der Mensch im technischen Zeitalter und seine
Umwelt» 3
B. Bericht über das Studienjahr 1969/70
I. Allgemeiner Rückblick des abtretenden Rektors, Prof. Dr. Walter Müller 33
Il. Tätigkeitsbericht 45
1. Chronologischer Rückblick auf das Studienjahr 1969/70 45
2. Collegium generale und Gemeinschaftsseminar Münchenwiler 47
3. Kommission für kulturhistorische Vorlesungen 49
4. Kreditkommission 50
5. Forschungskommission 51
6. Baukommission 52
7. Besoldungskommission 53
III. Lehrkörper 55
1. Bestand des Lehrkörpers 55
2. Lehrtätigkeit und Prüfungen 63
3. Erneuerung von Doktordiplomen 64
4. Antrittsvorlesungen 65
5. Gastvorlesungen auswärtiger Dozenten 65
6. Gastvorlesungen und Vorträge von Berner Dozenten im Ausland 68
7. Delegationen und Teilnahme an Kongressen 78
8. Ehrungen 81
IV. Studentenschaft 84
1. Bestand
2. Todesfälle 85
3. Statistik der letzten fünfzehn Jahre 85
4. Bericht der Präsidentin der Studentenschaft 96
5. Betreuungskommission 90
6. Institut für Leibeserziehung und Sport 92
7. Berner Studentenheim 96

8. Studentenlogierhaus Tscharnergut . 97 9. Evangelische Universitätsgemeinde 98 10. Katholische Studentengemeinde 100 V. Stipendien, Stiftungen, Forschungsbeiträge 101 1. Forschungsbeiträge des Schweizerischen Nationalfonds an Dozenten der Universität Bern 101 2. Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern 101 3. Bernischer Hochschulverein 103 4. Bundes- und Austauschstipendien 103 5. Verschiedene Forschungsbeiträge 104 C. Ehrenpromotionen Dies academicus 1970 107 D. Preisaufgaben, Fakultätspreise und Seminarpreise Dies academicus 1970 115

A. Der Mensch im technischen Zeitalter und seine Umwelt

Rektoratsrede von Prof. Dr. Hugo Aebi

Die grossen Erfolge von Wissenschaft und Technik haben den Menschen in die Lage versetzt, seinen Lebensraum nach Belieben umzugestalten, und zwar in einem Ausmass und Tempo, wie man es wohl noch zu Beginn dieses Jahrhunderts kaum für möglich gehalten hätte. Es will scheinen, dass dabei Macht und Wille des Menschen, die Natur tiefgreifend zu verändern, stärker zugenommen haben als sein Verständnis für eben diese Umwelt.

I. Ist die Umwelt bedroht?

Von Umweltproblemen ist heute viel die Rede. Die einen wollen die
Diskussion über Umweltprobleme als Modeströmung abtun, als hysterisches
Geschrei, das den Menschen in der modernen Industriegesellschaft
daran hindern soll, die grossen Errungenschaften des technischen
Fortschrittes ungestört zu geniessen. Andere glauben, dass
die Menschheit ihrer Umwelt auf Grund ihrer sorglosen und kurzsichtigen
Handlungsweise jetzt schon nicht wieder gutzumachenden
Schaden zugefügt habe und daher der Weiterbestand des Menschengeschlechts
ernsthaft in Frage gestellt sei. Die Vertreter beider Extreme
sind sich darin einig, dass es der Mensch dank seinem Erfindergeist
herrlich weit gebracht hat; für die einen eine Feststellung,
die mit Stolz und Befriedigung erfüllt, für die anderen Worte beissender
Ironie 1.

Wer hat nun Recht? Oder: Welche Einstellung zwischen diesen beiden Extremen hat am meisten Aussicht, der tatsächlichen Lage am nächsten zu kommen? Wer an die Verantwortung und Verpflichtung der Wissenschaft gegenüber der menschlichen Gesellschaft glaubt, ist über diese Entwicklung besorgt: Alle Behörden sind es. Der Europarat hat das Jahr 1970 zum Naturschutzjahr erklärt 2, und Bund und Kantone sind dieser Empfehlung in geeigneter Weise gefolgt 3. Die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation hat am 22. Mai dieses Jahres beschlossen, der Verschmutzung von Boden, Gewässern und Luft, dem Lärm und der Kontaminierung von Nahrungsmitteln durch Rückstände sowie anderen, die Gesundheit des Menschen gefährdenden

Faktoren energisch den Kampf anzusagen. Dies soll unter anderem durch Verwirklichung eines weltweiten Überwachungssystems erreicht werden 4. Es ist zu hoffen, dass auf diese schönen Worte Taten folgen werden. Solcher darf sich die Schweiz insofern rühmen, als es nun nach der Annahme des Giftgesetzes auch mit der Schaffung der Verfassungsgrundlagen zum Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vorwärtsgeht. Die bundesrätliche Botschaft vom 6. Mai 1970 schlägt die Ergänzung der Bundesverfassung durch einen Artikel 24 septies vor 5. Dieser bildet Ausgangspunkt und Unterlage für eine Reihe dringlicher Massnahmen zur Bekämpfung von Luftverunreinigungen, Lärm und anderen Immissionen. Gleichzeitig steht das Gewässerschutzgesetz in Revision. Die zahlreichen Vorstösse in kantonalen und eidgenössischen Räten sowie der allgemeine Tenor der in der Presse erschienenen Stellungnahmen gestatten, der weiteren Entwicklung in unserem Land mit gedämpftem Optimismus entgegenzublicken 6.

II. Die gegenwärtige Lage

Welche Einstellung der Mensch im technischen Zeitalter der Umwelt gegenüber auch immer haben mag; es bleibt ihm gar keine andere Wahl, als sich eingehend mit den Problemen, die sich in zunehmender Zahl stellen, zu befassen 7 8. Die wichtigsten Anforderungen, die der Mensch an seine Umwelt zu stellen hat, werden im folgenden, jedem Samariter geläufigen Leitsatz zum Ausdruck gebracht: Ohne Luft vermag der Mensch etwa drei Minuten, ohne Wasser etwa drei Tage und ohne Nahrung etwa drei Wochen zu leben. Zu welchem Ergebnis gelangen wir, wenn diese drei für das Leben unentbehrlichen Faktoren genauer betrachtet werden?

a) Luft

Obwohl es sich beim Gasmantel, der unseren Planeten umgibt, um enorme Qantitäten von Materie handelt, hat sich die Zusammensetzung der Luft im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt. Die primitive Erdatmosphäre, wie sie vor rund drei Milliarden Jahren geherrscht

haben mag, war ganz anders beschaffen. Nicht Stickstoff und Sauerstoff waren die Hauptbestandteile, sondern Kohlendioxyd, Methan, Wasserstoff und Ammoniak. Es dürfte vor allem dem Vorgang der Photosynthese in den grünen Pflanzen zuzuschreiben sein, dass es im Verlauf der Jahrmillionen zur Anreicherung der Atmosphäre mit Sauerstoff gekommen ist. Auch heute ändert sich die Zusammensetzung als Folge der Industrialisierung. Wenn von der Energiegewinnung durch Atomkernspaltung abgesehen wird, sind alle energieliefernden Prozesse, ob körperlich schwer arbeitender Mensch, ob Dampfmaschine oder Dieselmotor, stets mit einem Verbrauch von Sauerstoff und Produktion von Kohlendioxyd verbunden. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein mittleres Personenautomobil nach 1000 km Fahrt etwa gleichviel Sauerstoff verbraucht hat wie ein Mensch bei mittlerer körperlicher Aktivität während eines ganzen Jahres, wird verständlich, dass der Energiebedarf unserer auf Produktion und Komfort ausgerichteten Wohlstandsgesellschaft bedrohlich ansteigt und das in der Natur offenbar seit einigen Jahrtausenden bestehende Gleichgewicht zwischen Sauerstoffproduktion durch die assimilierenden Pflanzen und der Sauerstoffzehrung durch Maschine, Mensch und Tier in immer stärkerem Ausmass stört. So verbrauchen die gegen 100 Millionen heute in den USA zirkulierenden Motorfahrzeuge etwa doppelt soviel Sauerstoff, wie die Vegetation des nordamerikanischen Kontinents insgesamt zu produzieren vermag. Auch wenn der Kohlendioxydgehalt der Erdatmosphäre seit der Jahrhundertwende um etwas mehr als 10% zugenommen hat und vermutlich bis zum Jahr 2000 um weitere 25% ansteigen wird, so ist dies an sich noch kein Grund zur Beunruhigung. Dem Wissenschafter stellt sich dagegen die schwierige Aufgabe, diese Zeichen der Zeit, die ohne Zweifel von säkularer Bedeutung sind, richtig zu würdigen und vorausschauend zu beurteilen 9.

Demgegenüber bereiten uns andere Produkte, welche in die Atmosphäre gelangen, weit mehr Sorgen, obgleich es sich um bedeutend geringere Quantitäten handelt. Die Verschmutzung der Luft über dichtbesiedelten Regionen durch Produkte unvollständiger Verbrennung,

wie Russ, Kohlenmonoxyd, Schwefeldioxyd, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Aldehyde, Stickoxyde ist auch dem Laien — meist aus eigener Erfahrung — wohlbekannt. Zur Illustration der Problematik derartiger Emissionen in die Atmosphäre mögen zwei Beispiele dienen:

Die Konsumgewohnheiten unserer Industriegesellschaft sind geprägt durch Verschleiss und Luxuskonsum. Es wird als Fortschritt gewertet, dass immer mehr Güter zum Einmalgebrauch Verwendung finden. Böse Zungen qualifizieren uns als «Wegwerfgesellschaft». Es verwundert daher nicht, dass auch in der Schweiz Kunststoffe in steigendem Ausmass umgesetzt werden: 1968 waren es 180000 Tonnen Plastikmaterial, wovon 30000 Tonnen Polyvinylchlorid. Es wird wohl niemand bestreiten, dass die grossen Fortschritte der Polymeren-Chemie viele Vorteile und Annehmlichkeiten gebracht haben. Die Probleme stellen sich erst dann, wenn es gilt, sich dieses Segens zu entledigen. Bei der Verbrennung dieser Kunststoffe — und dieser Beseitigungsweg dürfte wohl für den Grossteil zutreffen — entsteht nämlich pro kg Polyvinylchlorid etwa 500 g, das heisst die Hälfte des Gewichtes, an dampfförmiger Salzsäure. Die rund 10000 Tonnen Salzsäure, die in unserem Land jährlich in die Atmosphäre gelangen, nehmen sich allerdings neben der rund zehnfachen Menge Schwefeldioxyd bzw. Schwefelsäure, Verbrennungsprodukte von schwefelhaltigem Heizöl, recht bescheiden aus. Betroffen werden davon sowohl die Menschen als auch korrosionsanfällige Bauwerke — und unsere Kunstdenkmäler 10. Auch wer die grossen Vorteile und Annehmlichkeiten, die ein Motorfahrzeug zu bieten hat, nicht mehr missen möchte, muss wissen, dass der heutige Motorisierungsgrad zu einer beunruhigenden Verseuchung von Luft und Boden mit Blei geführt hat. Der Benzinzusatz Blei-Tetraethyl, seit gegen 50 Jahren ein geschätztes Antiklopfmittel, ist vor allem schuld daran, dass der Bleigehalt der Luft in Form feinster Staubpartikel oder als Aerosol ständig zunimmt. Wer geneigt ist, diesen Befund mit der Feststellung zu verniedlichen, dass es sich ja selbst in Grossstadtluft nur um kleinste Mengen von etwa 10 Mikrogramm pro m³ handle, muss bedenken, dass auch hier der grösste

Teil via Niederschläge in den Boden gelangt. Während Salzsäure und Schwefelsäure im Boden unschädlich gemacht werden, zeichnet sich Blei als Element durch eine grosse Beständigkeit aus. Zudem wird Blei von den Pflanzen — man wäre geneigt zu sagen wider jede Vernunft — aktiv gespeichert. Messungen in der Nähe vielbefahrener Autostrassen haben ergeben, dass Mengen von 200 bis 500 mg Blei pro kg Pflanzenmasse keine Seltenheit sind. Im Gegensatz zu Eisen, Kobalt oder Molybdän ist Blei kein lebenswichtiges Spurenelement, sondern für alle Organismen relativ toxisch. Das Bild der chronischen Bleivergiftung ist dem Mediziner zwar bekannt, jedoch oft schwer zu fassen. Bei dieser Sachlage wird es niemanden wundern, dass Behörden und Fabrikanten im Lande des Automobils entschlossen sind, diesen offensichtlich gesundheitsschädigenden Immissionsherd auszumerzen 9. In Vorbereitung befindliche Gesetze und Konstruktionsänderungen werden, wenn nicht aller Schein trügt, diesem Land und hoffentlich auch uns das Ende der Blei-Benzin-Ära und vielleicht sogar das «saubere Auto» bringen. Das Opfer in Form einer geringen Leistungsverminderung und Verteuerung wird doch wohl jeder einsichtige Mensch gerne erbringen.

Im Vergleich zu den grossen Industrienationen mit ihren Ballungen von Grossstädten und Produktionszentren sind wir in der Schweiz noch relativ gut daran. Noch kennen wir den Smog (Zusammenziehung aus Smoke =Rauch und Fog =Nebel), der sich als Dunstglocke oder Staubschleier über weite Landstriche ausbreitet, nicht aus eigener Anschauung. Die Eidgenössische Kommission für Lufthygiene hat in ihrer letzten Stellungnahme vom März 1970 wenigstens für die nähere Zukunft eine beruhigende Prognose gestellt 11. Dass man sich aber nicht in falscher Sicherheit wiege! Die Kontamination der Atmosphäre, vor allem mit chemisch beständigen Stoffen macht weder an Landesgrenzen noch an Kontinenten halt. Die europäischen Industrienationen haben daher allen Grund, bei ihren Beratungen im Strassburger Parlament der Koordination und Intensivierung der Bekämpfung der Luftverschmutzung Priorität einzuräumen. Von wohlgemeinten Entschliessungen bis zur Verwirklichung wirksamer Abwehrmassnahmen

ist ein langer Weg. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass es beim jetzigen Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung möglich sein wird, jegliche Kontaminierung der Atmosphäre völlig zu unterdrücken. Der Gerechtigkeit halber sei festgehalten, dass von den grossen Industrieunternehmungen beispielhafte Anstrengungen unternommen werden, um das Ausmass der mit Fabrikationstätigkeit verbundenen Emissionen auf ein tragbares Mindestmass zu reduzieren. Wenn auch die Luft, die wir in den Schweizer Städten atmen, nicht unserer Idealvorstellung entspricht, wird die Grenze des Zumutbaren und Erträglichen nur in Ausnahmefällen überschritten 12. Es gilt indessen die weitere Entwicklung aufmerksam zu verfolgen.

b) Wasser

Ein weit weniger erfreuliches Bild bietet sich bei der Betrachtung des Zustandes unserer Gewässer. Auch die Schweiz mit ihren zahlreichen Wasserläufen und Seen, einst als Wasserschloss Europas gepriesen, hat mit der Gewässerverschmutzung schwer zu kämpfen 13. Um über die bedrohliche und bedenkliche Situation informiert zu sein, bedarf es keiner Rektoratsrede. Die Tagespresse tut dies mit ihren Berichten über Badeverbote, Fischsterben, laufende Einsätze der Ölwehren zur Genüge. Wie grundlegend haben sich doch die Verhältnisse z. B. in der Stadt meiner Jugendjahre gewandelt: Noch um die Jahrhundertwende waren die Erträgnisse der Rheinfischerei derart vielfältig und reichlich, dass es ein ungeschriebenes Gesetz verbot, den Dienstboten mehr als dreimal wöchentlich Lachs aufzutischen. Heute sind die Erträgnisse des Edelfischfangs am Niederrhein auf wenige Prozent der noch vor einigen Dezennien eingebrachten Erträgnisse zurückgegangen. Wird heute in Basel ein Lachs aus dem Rhein gefischt, ist dies ein Ereignis von lokaler Bedeutung. Die vor einigen Jahren gebildete internationale Kommission zum Schutz gegen die Verseuchung des Rheins sieht sich vor eine schwierige Aufgabe gestellt, besonders wenn sie sich nicht darauf beschränken will, lediglich Erhebungen durchzuführen und Empfehlungen herauszugeben. Zugegeben, das Beispiel Rhein ist ein besonders gravierender Fall,

doch ist es um die schönen Schweizer Seen nicht wesentlich besser bestellt.

Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen? Die in beschränktem Ausmass vorhandene Fähigkeit der Selbstreinigung stehender und vor allem bewegter Gewässer ist durch die in zunehmender Menge eingeleiteten Abwässer aller Art hoffnungslos überfordert worden 14. Die weitgehende Paralysierung dieses biologischen Regenerationsvorganges ist unter anderem auf die steigende Zufuhr organischen Materials, von Mineralstoffen (speziell Phosphat und Niltal) sowie von giftigen Substanzen zurückzuführen. In welchem Ausmass die Zunahme des Mineralgehaltes für das gesteigerte Algenwachstum, die Intensivierung von Fäulnisprozessen und die Verknappung an Sauerstoff verantwortlich zu machen sind, ist umstritten. Unbestritten ist dagegen, dass sich Gifte in Industrieabwässern, wie Zyanide, Phenole, Schwefel-, Chrom- und Kupferverbindungen sowie die Verschmutzung durch Mineralölprodukte auf den Zustand der Gewässer als Biotop, als Trinkwasserreserve geradezu verhängnisvoll auswirken.

Von besonderem Nachteil ist, dass die im Phyto- oder Zooplankton zu findenden Kleinlebewesen mangels geeigneter Enzyms zumeist nicht in der Lage sind, Kohlenwasserstoffe, das heisst CH 2 -Ketten oxydativ abzubauen. Dies hat zur Folge, dass alle Gewässer, auch die Weltmeere, der Verschmutzung durch Erdöl mehr oder weniger wehrlos preisgegeben sind. Aus demselben Grund müssen heute die in Reinigungs- und Waschmitteln vorhandenen Detergentien, die auf Grund ihrer chemischen Struktur (Alkylsulfonate) weitgehend persistent sind, durch biologisch leicht abbaubare Substanzen ersetzt werden. Es gibt aber vereinzelte Mikroorganismen, die auf Grund ihrer gut dotierten Fermentausrüstung in der Lage sind, Kohlenwasserstoffe abzubauen und sogar in Eiweiss umzuwandeln. Den Wissenschaftern, die dem Hunger in der Welt den Kampf angesagt haben, ist damit eine neue wirksame Waffe in die Hand gegeben worden. Bereits heute werden jährlich Tausende von Tonnen hochwertiges Eiweiss durch Mikroben- Hefezüchtung aus Erdöl-Wasser-Gemischen gewonnen 15. Es ist nicht abwegig zu hoffen, dass es durch Einsetzung derartiger Stämme

dereinst möglich sein wird, auch die Selbstreinigung unserer Gewässer auf biologischem Wege zu verbessern.

Derlei Zukunftsmusik darf aber nicht davon abhalten, die Gewässerverschmutzung mit den herkömmlichen, konventionellen Methoden noch energischer zu bekämpfen. Die diesjährige Zwischenbilanz für den Gewässerschutz in der Schweiz ergibt folgendes Bild: Es stehen heute etwa 330 zentrale Abwasserreinigungsanlagen für 462 Gemeinden mit 4 Millionen Einwohnern in Betrieb, 69 weitere sind im Bau und 95 Projekte baureif 16. Dies bedeutet, dass heute etwa zwei Drittel der Bevölkerung derartigen Anlagen angeschlossen sind. Wenn es damit gelungen ist, den grossen Nachholbedarf ein klein wenig aufzuholen, ist dies vor allem das Verdienst weitblickender Männer in Parlament und Volk, welche als unbequeme Mahner auf die bestehenden Missstände hingewiesen haben. Diese Anfangserfolge dürfen nicht dazu verleiten, das Problem als gelöst zu betrachten: Vieles bleibt noch zu tun, wenn wir auch in einer fernen Zukunft, die uns mit aller Wahrscheinlichkeit einen noch höheren Grad an Industrialisierung bringen wird, in genügender Menge einigermassen sauberes Wasser haben wollen. Die Bevölkerung wird sich damit abfinden müssen, dass sich ein immer geringerer Anteil unbeschränkt mit einwandfreiem Quell- oder Grundwasser versorgen kann. Als Ersatz bietet uns die Technik Wasser aus Oberflächengewässern an. Dieses kann mit Hilfe entsprechender Reinigungsverfahren (Versickerungs- und Filteranlagen zur künstlichen Grundwasseranreicherung) und nachfolgender Entkeimung (z. B. mittels Ozon oder Chlor), in durchaus annehmbarer Qualität und vor allem in genügender Menge produziert werden. Nur so wird es überhaupt möglich sein, die enorm gestiegenen Ansprüche der modernen Industriegesellschaft (500 I pro Kopf und Tag) zu befriedigen 6

c) Nahrung

Bei der Betrachtung unserer Nahrung ist davon auszugehen, dass sich die Ernährungsgewohnheiten, gleich wie die Lebensweise, im Verlauf der letzten hundert Jahre grundlegend gewandelt haben. Motoren

und Maschinen aller Art nehmen uns in zunehmendem Masse jegliche körperliche Arbeit ab; wir benötigen somit weniger Kalorien. Die Hauptsorge heisst Überernährung 17. Infolge Verstädterung und Ausweitung des Nahrungsangebotes auf die ganze Welt ist die Distanz zwischen Produzent und Konsument ungleich viel grösser geworden. Eine ungewisse Zukunft veranlasst uns — dem biblischen Vorbild folgend —, Vorräte für Zeiten der Not anzulegen. Dem Faktor Haltbarkeit kommt somit entscheidende Bedeutung zu. Dies hat zur Folge, dass die raffinierten, das heisst durch technische Aufbereitungsverfahren gewonnenen Nahrungsmittel, wie z. B. Weissmehl, Öl, Zucker, anteilsmässig die naturbelassenen Nahrungsmittel immer stärker dominieren. Erhöhung der Haltbarkeit, Steigerung des Nährwertes, Verbesserung des Aussehens und Geschmacks (=Food Appeal) sowie die kommerzielle Herstellung fixfertiger Speisen dürften wohl die wichtigsten Gründe dafür sein, dass heute von den Angehörigen der Industrienationen Lebensmittelzusätze wie Antioxydantien, Stabilisatoren, Emulgatoren, Verdickungsmittel, Farbstoffe, Aromastoffe, künstliche Süssstoffe, organische Säuren und anderes mehr in steigendem Masse konsumiert werden. So gelangt der Durchschnittsamerikaner z. B. in den Genuss von 1,5 kg derartiger Nahrungsmittelzusätze, pro Kopf und Jahr 18. Für die Schweiz liegen keine exakten Zahlenangaben vor, doch ist anzunehmen, dass die konsumierte Menge geringer sein wird. Nahrungsmittelzusätze sind für die einen Kosmetika des Gaumens, für die anderen ein notwendiges Übel oder einfach Attribute der Nahrung im technischen Zeitalter.

d) Rückstände

Ganz anders verhält es sich mit den in den Nahrungsmitteln vorkommenden Rückständen, zumeist biologisch hochaktiven Substanzen, die unerwünschterweise in jene Produkte gelangt sind. Hochempfindliche Analysenverfahren haben es möglich gemacht, dass Rückstände schon in einer Konzentration von 1 auf eine Milliarde Gewichtsteile (=parts per billion) sicher nachgewiesen werden können. Zumeist handelt es sich um Pflanzenschutzmittel, Insektizide oder Pestizide,

wobei chlorsubstituierte Kohlenwasserstoffe, wie z. B. Lindan, Aldrin, Dieldrin, Heptachlor, DDT oder organische Phosphorverbindungen vom Typ der Cholinesterasehemmer eine bedeutende Rolle spielen. Es gibt wohl keine andere Stoffklasse, bei welcher Nutzen und Schaden, Segen und Fluch, so nahe beieinander sind wie gerade bei den chemischen Schädlingsbekämpfungsmitteln. Für die einen sind sie Wegbereiter für eine bessere Zukunft, als eine der wirksamsten Waffen im Kampf gegen Krankheit und Hunger; für andere wiederum sind es Produkte eines teuflischen Erfindergeistes, der einzig durch Profit- und Machtstreben angefacht wird und der darauf ausgeht, die vermeintlichen Gegner des Menschen in der Natur, verächtlich Schädlinge genannt, zu vernichten. Um es gleich vorwegzunehmen: Auch die Insektizide, mögen sie noch so giftig sein, sind als Produkte der chemischen und biologischen Forschung an sich weder gut noch böse. Es kommt doch wohl ganz darauf an, was der Mensch aus ihnen macht, vor allem wie er sie einsetzt.

Die sich hier ergebende Problematik sei an einem Beispiel, am heute viel zitierten DDT (=Dichlor-Diphenyl-Trichloraethan) erläutert 19. Die gegenüber vielen Insekten hohe Toxizität dieses Kontaktgiftes wurde 1939 vom Basler Chemiker Müller erstmals beobachtet, nachdem diese Substanz bereits 67 Jahre zuvor erstmals in Strassburg vom Doktoranden O. Zeidler synthetisiert worden war. Zu den nachteiligen Eigenschaften dieser Substanz gehören die Unspezifität, das heisst es werden nicht nur Schädlinge betroffen, sowie die chemische Beständigkeit, das heisst die biologische Wirkung bleibt praktisch unbeschränkte Zeit erhalten. Dies hat bei wiederholter Anwendung eine Anhäufung (Kumulierung) zur Folge. Vor allem aber ist es die gute Fettlöslichkeit, welche das Persistieren in der Fettphase pflanzlicher und tierischer Organismen so sehr begünstigt. Die weltweite Anwendung dieses Insektizids hat es mit sich gebracht, dass auch der Mensch, zumeist über die natürlichen Futterketten, in zunehmendem Ausmass mit DDT kontaminiert worden ist. Bei jedem Übergang auf das folgende Glied in der Futterkette kommt es nämlich auf Grund der bestehenden Fettlöslichkeit zu einer weiteren Anreicherung dieser Rückstände. Nur so

ist es zu erklären, dass im Depotfettgewebe von Menschen sogenannter zivilisierter Völker Rückstandsmengen von 2 bis 10 mg/kg gefunden worden sind. Am meisten betroffen werden jedoch die gleichfalls am Ende der Futterkette stehenden Raubvögel. Im Organismus dieser Tiere häuft sich der Grossteil der in den Beutetieren enthaltenen DDT-Menge derart stark an, dass Störungen im Kalkstoffwechsel auftreten. Die Tiere sind z. B. nicht mehr fähig, normale Eier zu produzieren; entweder wird gar keine oder nur eine sehr dünne Schale gebildet. Die unweigerliche Folge ist, dass der Fortbestand dieser Arten ernstlich gefährdet ist 20.

Für die Menschheit als Ganzes ergibt sich nun ein folgenschwerer Interessenskonflikt. Die hochindustrialisierten Nationen fürchten eine weitere Zunahme der Verseuchung; sie schicken sich daher an (in Europa hat Schweden den Anfang gemacht), die Verwendung von DDT über weite Strecken oder gar vollständig zu verbieten. Ungewissheit über die Wirkung dieser Rückstände auf lange Sicht und echte Sorge um die Zukunft der belebten Natur dürften die beiden wichtigsten Motive sein, die zu diesen Verboten geführt haben 21. Diese Entwicklung lässt sich von den Befürwortern eines sinnvoll praktizierten Insektizideinsatzes um so eher verschmerzen, als DDT ohnehin bereits vor mehreren Jahren durch eine neue Generation von spezifischeren, leicht abbaubaren Schädlingsbekämpfungsmitteln und von neuartigen biologischen Bekämpfungsmethoden (z. B. Aussetzen unfruchtbarer Männchen) abgelöst zu werden begann. Ganz andere Sorgen haben die vielen Völker der Entwicklungsländer. Ihnen sind diese geringfügigen Rückstände in den Fettdepots (falls solche vorhanden sind) gleichgültig. Für sie ist die Steigerung der Produktion das einzig Massgebende. Sollten sie die Wahl zu treffen haben zwischen insektizidbehandelter Nahrung und gar keiner Nahrung — eine leider sehr realistische Alternative —, wird ihnen der Entscheid nicht schwer fallen. Die Insektizide, besonders das heute viel geschmähte DDT, haben bei der Bekämpfung der Malaria und anderer durch Insekten übertragener Krankheiten, wie z. B. Fleckfieber, dem Menschen grösste, unschätzbare Dienste geleistet. Die Zuerkennung des Nobelpreises

an Müller erfolgte wohl nicht zuletzt in Würdigung der Tatsache, dass DDT mitgeholfen hat, die Malaria in einer ganzen Reihe von Ländern vollständig auszumerzen 20 22. Somit steht die Menschheit vor der überaus schwierigen und heiklen Aufgabe, zwischen diesen beiden, über weite Strecken entgegengesetzt gerichteten Tendenzen, einen vernünftigen, allen Beteiligten zumutbaren Kompromiss zu finden. Dieses Ziel zu erreichen, wird nicht leicht sein. Die Grosszahl der Experten glaubt nämlich, dass auf diese hochwirksamen Insektizide nicht verzichtet werden kann, sofern die Menschheit gewillt ist, den Kampf gegen krankheitsübertragende Parasiten und um grösstmögliche Ernteerträge fortzusetzen. Sie fordern aber auch mit allem Nachdruck, dass der ungezielten, hemmungslosen Spritzerei ein Ende gesetzt werde. Behörden und Produzenten haben dafür zu sorgen, dass die Anwendung streng gezielt erfolgt und sich auf Fälle mit zwingender lndikationsstellung beschränkt. Kurz, dass mit einem Minimum an Verseuchung ein Maximum an Wirkung erzielt werde 20.

III. Versuch einer Lagebeurteilung

Welche Gefahren drohen Mensch und Tier von seiten dieser vielen Immissionsprodukte in der Luft, die wir atmen, im Wasser, das wir trinken, und in der Nahrung, die wir uns zuführen? Bevor auf die verschiedenen Möglichkeiten einer Gesundheitsschädigung eingegangen wird, sind zwei Vorbemerkungen am Platz:

Einmal ist festzuhalten, dass die uralte Regel von Paracelsus «Sola dosis facit venenum» (=allein die Dosis macht es, ob ein Ding Gift ist oder nicht) nach wie vor gilt; dies allerdings mit der Einschränkung, dass es letzten Endes nicht auf die Dosis, sondern auf die Gesamtmenge der im Organismus, bzw. im empfindlichsten Organ oder Gewebe resultierenden Konzentration ankommt. Ein kritischer Zustand kann somit auch dadurch erreicht werden, dass über längere Zeit kleinste Mengen aufgenommen und fortlaufend gespeichert werden. An drastischen Beispielen für diese Regel fehlt es wirklich nicht: So wurden in gewissen Kriegsgefangenenlagern Menschen durch fortwährendes

Eingiessen von Wasser zu Tode gefoltert. Langdauernde Einatmung von reinem Sauerstoff kann zu schweren Keimschädigungen führen. Sogar Kochsalz kann, wenn im Überschuss zugeführt, besonders für den Säugling, lebensgefährlich sein. Je nach Dosis kann es sich somit bei ein und demselben Stoff um eine lebenswichtige Substanz, ein Arzneimittel oder um ein lebensgefährliches Gift handeln.

Ferner ist es Zeit, sich vom tiefverwurzelten Vorurteil frei zu machen, wonach alle in der Natur gebildeten Substanzen als gottgegeben, somit als gutartig zu betrachten sind; allen Stoffen dagegen, die uns die Chemie liefert, das Odium des Suspekten anhaftet. Die gefährlichsten Gifte, wie sie gelegentlich in Nahrungsmitteln vorkommen können, z. B. Botulinustoxin oder Aflatoxin, werden von Mikroorganismen gebildet. Anderseits lehrt die Erfahrung der modernen Medizin, dass synthetisch hergestellte Heilmittel und Vitamine den mühsam aus Naturprodukten isolierten Stoffen bezüglich Wirkung in keiner Weise nachstehen.

a) Drei Gefahren

Die gesundheitsschädigende Wirkung aller dieser Stoffe kann auf verschiedene Art zustande kommen:

1. Es kommt nach kurzer oder eventuell erst nach längerer Zeit zu einer Funktionsstörung in einem bestimmten Organ oder Gewebe. Eine derartige akute oder chronische Giftwirkung ist im Grossteil der Fälle auf eine mehr oder weniger gezielte Schädigung von Enzymen zurückzuführen, das heisst derjenigen Riesenmoleküle in den Zellen, welche die Stoffwechselvorgänge auslösen und steuern. Besonders verhängnisvoll ist die Wirkung dann, wenn ein für den Stoffwechsel wichtiges Schlüsselenzym, z. B. die für die Signalübermittlung in den Nerven unbedingt nötige Acetylcholinesterase, blockiert wird. Dies ist bei den organischen Phosphorverbindungen (Insektizide, Nervengifts) bereits in geringster Konzentration der Fall. Je nach eingenommener Dosis und individueller Empfindlichkeit kommt es zu geringfügigen, unklaren Beschwerden, zu einer manifesten Erkrankung oder zum

raschen Tod. Die Problematik der Erforschung dieser Wirkungen besteht darin, dass Beobachtungen am Tier nur mit Vorbehalt auf den Menschen übertragen werden dürfen 23. Schon geringfügige Änderungen in der Enzymausrüstung oder in der Ansprechbarkeit von Regulationsvorgängen haben nämlich zur Folge, dass die Giftigkeit einer Substanz, bzw. die Wirksamkeit eines Heilmittels, um Grössenordnungen verschieden sein kann. Dazu kommt, dass sich die Menschen nicht nur hinsichtlich Aussehen, Konstitution und Blutgruppenzugehörigkeit, sondern auch in ihrer Enzymausrüstung nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Diese ausgeprägte biochemische Individualität ist denn auch der tiefere Grund dafür, dass ärztliches Handeln nie Konfektionsarbeit werden kann, sondern stets Behandlung nach Mass sein muss 24.

2. Substanzen mit mutagener Wirkung sind für den Organismus selbst nicht von Nachteil, bewirken jedoch in den Keimzellen eine sprunghafte Veränderung der Erbeigenschaften. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es in den Keimzellen zu einer Veränderung im Bereich des Informationsträgers, der Desoxyribo-Nukleinsäure des Zellkernes kommt. Mutagene Substanzen finden sich in unserer Umwelt in beträchtlicher Zahl. Galt früher die Hauptsorge, wenn es um die Vermeidung einer Schädigung der Erdmasse ging, den ionisierenden Strahlen, bzw. der Radioaktivität, hat sich der Akzent in den letzten Jahren auf die mutagenen Substanzen verschoben 25 26 27. Da Mutationen beim Menschen praktisch immer Missbildungen oder nachteilige Stoffwechseldefekte zur Folge haben oder gar mit dem Leben unvereinbar sind, müssen solche Substanzen unter allen Umständen vom Menschen ferngehalten werden.

Nun ist es aber ausserordentlich schwierig, mit Sicherheit auszusagen, ob eine Substanz für den Menschen mutagen sei oder nicht, denn auch hier bestehen relativ grosse Speziesunterschiede. Zwei in der Nahrung vorkommende Substanzen stehen heute im Vordergrund des Interesses, Koffein, das vom Intellektuellen hochgeschätzte Stimulans, sowie Nitrit, das als zweiprozentiger Zusatz zum Pökelsalz zur Behandlung von Fleischwaren Verwendung findet, um die schöne Rotfärbung

zu erhalten. Beide Substanzen erzeugen in Kulturen ausserhalb des Körpers gezüchteter Zellen Chromosomenbrüche. Dieser Befund ist zwar für eine Veränderung der Erdmasse nicht beweisend, aber jedenfalls verdächtig. Bevor man sich nun unnötig ängstigt, ist zu bedenken, dass diese Wirkung im Organismus unter den üblicherweise herrschenden Bedingungen nur eine überaus geringe ist. Sie dürfte jedenfalls vermutlich wesentlich kleiner sein als die spontane Mutationsrate. Jedenfalls darf der Aspekt der Verhältnismässigkeit nicht ausser acht gelassen werden. Resigniert stellen wir zudem fest: Wäre die Nahrung des Menschen von allem Anfang an denselben strengen Bedingungen unterworfen gewesen, wie dies heute der Fall ist, dann hätte der Genuss von Kaffee wegen des darin enthaltenen Koffeins oder auch das Braten von Fleisch wegen der bei diesem Vorgang entstehenden kanzerogenen Kohlenwasserstoffe verboten werden müssen. Ob hier eine tatsächliche Gefährdung besteht oder nicht, wird erst die weitere Erforschung der chemischen Mutagene, die noch in den Anfängen steckt, zeigen 25.

3. Wohl die grösste Furcht empfindet der Mensch gegenüber dem Krebs, nach den Herz- und Kreislaufkrankheiten die häufigste Todesursache. Viele Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die krebsige Entartung des Gewebes die Folge einer fundamentalen Störung im Zusammenleben der Zellen darstellt und vermutlich auf ein Versagen der Steuerung von Zellwachstum und Zellvermehrung zurückzuführen ist. Viele Ursachen können diese Störung auslösen, nicht zuletzt krebserzeugende Substanzen, die Kanzerogene. Es gibt eine grosse Zahl von chemischen Substanzen, mit denen man im Tierversuch Krebs erzeugen kann. Einige von ihnen, z. B. 3,4-Benzpyren, finden sich allerdings in sehr geringer Konzentration, auch in unserer Umwelt, so in Partikeln von Strassenstaub, im Rauch, inbegriffen dem Rauch, den viele Menschen persönlich erzeugen 28. Die in allen zivilisierten Ländern festgestellte beträchtliche Zunahme der Häufigkeit der Erkrankung an Lungenkrebs dürfte damit zusammenhängen. Der Mensch ist offenbar bereit, sich hier einem einkalkulierten Risiko auszusetzen, um «in» zu sein. Der Wille des Gesetzgebers

in fast allen Ländern verlangt, dass Substanzen, die unter irgendwelchen angemessenen Versuchsbedingungen als krebserzeugend erkannt worden sind, vom Menschen ferngehalten werden. Dies verlangt z. B. das «Delaney Amendment», eine 1958 eingeführte Ergänzung der Gesetzgebung der USA. Bei deren Auslegung scheiden sich die Geister, besonders wenn es darum geht, was unter «angemessenen Versuchsbedingungen» zu verstehen ist.

Der Grund ist folgender: Ratte und Maus, die heute in grosser Zahl für derartige Studien eingesetzt werden, zeigen wie der Mensch eine gewisse Tendenz zur Bildung spontaner Tumoren, das heisst es können auch bei den unbehandelten Kontrolltieren Geschwülste auftreten. Ist nun die kanzerogene Wirkung des zu untersuchenden Stoffes gering, so bedarf es zur eindeutigen Feststellung dieser Wirkung nicht nur breit angelegter, langdauernder und aufwendiger Versuche, sondern es stellen sich auch bei der Auswertung und Interpretation heikle Probleme. So kann das Auftreten einer einzigen Geschwulstbildung in der Kontrollserie und die Beurteilung des Tumors als gutartige Neubildung oder als Krebs die gesamte Beweisführung wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen. Es gibt Grenzfälle, in denen der Forscher, wenn er wirklich ehrlich sein will, die Frage nach der krebserzeugenden Wirkung beim Menschen offen lassen muss. Ich glaube, die beruhigende Feststellung machen zu dürfen, dass heutzutage bei der Einführung neuer Heilmittel, von Zusatzstoffen oder anderer dem Menschen dienenden Chemikalien, auf keine Nebenwirkung so eingehend geprüft wird wie gerade auf Krebserzeugung.

b) Erbe und Umwelt als prägende Faktoren

Wie ist bei dieser Sachlage die Gefährdung der Gesundheit des Menschen durch die Errungenschaften der Technik zu beurteilen? Trotz der vielen aufgezählten Gefahrenmomente — gleichsam der Preis, der für all die Annehmlichkeiten unserer Zeit zu erlegen ist — wäre es falsch, sich nun der Schwarzmalerei hinzugeben. Zunächst sei auch auf die positiven Aspekte hingewiesen: Die vor hundert Jahren aufgekommene Industrialisierung hat uns zusätzliche Verdienstmöglichkeiten

und damit vermehrten Wohlstand gebracht. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat um Jahre zugenommen; ein Beweis dafür, dass Lebensbedingungen und ärztliche Betreuung viel besser geworden sind. Wen wundert es, dass auch die junge Generation von diesem Wandel erfasst worden ist: Sie erlangen die körperliche Reife früher, werden grösser; in geistiger Hinsicht zeigen sie sich kritischer; allen Aktivitäten, die das Leben zu bieten hat, gegenüber sind sie experimentierfreudiger und wohl auch sozial aufgeschlossener. Die Hinweise zeigen auch, dass die Beeinflussung eine durchaus wechselseitige ist: Der Mensch verfügt heute über Mittel, seine Umwelt tiefgreifend zu verändern. Es ist aber ebenso offensichtlich, dass der Mensch nicht allein durch sein Erbe, sondern in weit grösserem Ausmass, als man dies früher geglaubt hat, auch durch die Umwelt geprägt wird. Ein recht erhebliches Mitspracherecht der Umwelt gegenüber der Erdmasse besteht nun nicht allein bezüglich Wachstum und dem äusseren Habitus, sondern ebensosehr in bezug auf die verschiedenen Leistungen des Stoffwechsels. So hat z. B. die eiweissreiche Ernährung, der wir huldigen, einen erheblichen Stimulationseffekt auf Hormonbildung und Enzymsynthese 29. Der zeitlebens durch äussere und innere Reize zu grösstmöglicher Aktivität angetriebene weisse Mann pflegt sich gerne seiner Leistungen und seines Arbeitseinsatzes zu rühmen. Dies geschieht heute oft mit einem eher verächtlichen Seitenblick auf die grossen Menschenmassen, die in zahlreichen Ländern, in denen der Hunger regiert, in Passivität verharren und resigniert dahinvegetieren. Dies ist falsch und ungerecht, eben gerade, weil heute bekannt ist, dass Unterernährung in den ersten drei Lebensjahren die normale Gehirnentwicklung in nicht wieder gutzumachender Weise schädigt 30.

Selbst das Erbgut, die konservative Komponente der den Menschen prägenden Faktoren ist heute noch in Bewegung. So hat die biochemische Forschung auf dem Gebiet der Paleogenetik ergeben, dass Änderungen im Bauplan der Zellbausteine in allen Phasen der Evolution vorgekommen sind. Dafür lässt sich die Natur jedoch Zeit. Im Falle des roten Blutfarbstoffes, des Hämoglobins, werden z. B. 22 Mio

Jahre für eine solche Konstruktionsänderung (das heisst die erfolgreiche Retention einer Aminosäuresubstituierung) benötigt. Daraus folgt, dass sich der Mensch von heute mittels hormonaler und metabolischer Steuerungsmechanismen an das Leben im technischen Zeitalter anpassen kann. Zu einer Anpassung durch Veränderung des Erbgutes (Mutation und Selektion) reicht ihm die Zeit dagegen nicht. In dieser Hinsicht ist der Mensch gegenüber den sich rasch vermehrenden Bakterien und Insekten sehr im Nachteil. Ihnen wird es auf Grund der viel rascheren Generationsfolge, verbunden mit dem Auftreten resistenter Mutanten, vermutlich immer wieder gelingen, sich dem Zugriff des Menschen — und seien die entwickelten Antibiotika und Schädlingsbekämpfungsmittel im Moment auch noch so wirksam — zu entziehen.

IV. Der Therapieplan: Neue Gesetze, mehr Forschung und Einsicht, zusätzliche Mittel

Die obige Feststellung bringt uns zurück zur entscheidenden Frage: Was ist zu tun? Eine Verbesserung der Situation kann durch Schaffung entsprechender Gesetze und Ausführungsbestimmungen, durch Intensivierung der Forschung, durch technische Massnahmen sowie durch eine geeignete Städte- bzw. Landesplanung erreicht werden. Möglichkeiten und Problematik gesetzgeberischer Massnahmen seien am Beispiel der Insektizidrückstände in Nahrungsmitteln diskutiert, In der «Verordnung über den Verkehr mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen» (LMV) vom Jahre 1936 findet sich die lapidare Feststellung: «Lebensmittel dürfen gesundheitsschädliche Stoffe nicht enthalten 31. » Seither sind von der analytischen Forschung Methoden entwickelt worden, welche bis tausendmal empfindlicher sind als die damaligen. Die Fiktion einer «Nulltoleranz» hat sich daher nicht länger aufrechterhalten lassen 32, Durch Bundesratsbeschluss vom 3. März 1969 wurde dieser Entwicklung durch eine entsprechende Ergänzung von Artikel 6 der LMV Rechnung getragen. Die auf Grund dieser Ergänzung erlassenen Verfügungen enthalten eine Liste der

gesetzlich zugelassenen Höchstkonzentrationen. Diese Grenzwerte, die sich auf die von WHO und FAO erarbeiteten Grundlagen stützen, sind überaus streng angesetzt. Für die meisten der hochwirksamen Insektizide liegen sie im Bereich von 1 bis 100 ppb (=parts per billion) 33.

Die Berner Regierung hat ihrerseits am 11. März 1969 eine «Verordnung über das lnverkehrbringen und die Anwendung von Schädlingsbekämpfungsmitteln», insbesondere von persistenten, chlorierten Kohlenwasserstoffen erlassen. Darin wird über die bundesrätlichen Toleranzen hinaus jegliche Verwendung persistenter, chlorierter Kohlenwasserstoffe in Betrieben, Räumen und an Materialien, die in irgendeiner Weise mit der Herstellung, Gewinnung, Lagerung, Verarbeitung, Zubereitung und Verkauf von Lebensmitteln im Zusammenhang stehen, verboten 34. Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass es trotz dieses klaren, vor 1 1/2 Jahren ausgesprochenen Verbotes recht schwer hält, die vom Bund bewusst streng angesetzten Toleranzen auch wirklich einzuhalten. Sie bringen die kantonalen Instanzen, welche den Gesetzen und Verordnungen Nachachtung zu verschaffen haben, in eine gewisse Zwangslage. Die Kantonschemiker suchen von der heutigen Kontaminationslage ein möglichst präzises Bild zu erhalten, indem sie die Erzeugnisse zahlreicher Produzenten und Importgüter laufend prüfen. Das sich abzeichnende Gesamtbild ist leider nicht erhebend 35.

Bevor man resigniert, ist zu bedenken, dass noch mehrere Jahre verstreichen dürften, bis sich die erwähnten Gesetze und Verordnungen voll auszuwirken beginnen. Die Toleranzwerte wurden auf Grund experimenteller Befunde aufgestellt, und zwar unter Einsetzung eines Sicherheitsfaktors von 1:100. Dies geschah in der Überzeugung, dass — wenn es um die Gesundheit des Menschen geht — nur ein derart hoher Grad von Sicherheit als «sicher genug» betrachtet werden darf. Das Dilemma ist nun folgendes: Sollen diese strengen Normen («Prestige-Toleranzen»), die am grünen Tisch aufgestellt worden sind, beibehalten werden, obgleich es sehr schwierig ist, sie in der Praxis durchzusetzen, oder darf man sie vorübergehend erhöhen, indem man

z. B. den Sicherheitsfaktor von 100 auf 30 herabsetzt? Diese und andere Gewissensfragen, wie sie heute dem Wissenschafter unterbreitet werden, zeigen mit aller Deutlichkeit, dass es zur Lösung des Rückstandproblems noch grosser Anstrengungen aller Beteiligten bedarf.

Ob es sich um Nahrungsmittelrückstände oder um Immissionen in Luft und Wasser handelt; stets wird eine lückenlose, alle Immissionsherde erfassende und realistische Gesetzgebung Grundlage für unsere Abwehrmassnahmen sein müssen. Einschneidende Strafbestimmungen werden nicht zu vermeiden sein; im Mittelalter war schliesslich Brunnenvergiftung eines der schwerwiegendsten Delikte. Der Sache ist indessen am besten gedient, wenn Behörden und Vertreter aus Wissenschaft und Wirtschaft eng zusammenarbeiten 36. Die energische Durchsetzung zweckmässiger Massnahmen wird wohl allseitig begrüsst werden. Andererseits ist mit der Veranstaltung von Hexenjagden im Stile der Nadergruppe, bei denen Affekte die Vernunft ersetzen und Vermutungen an die Stelle von Tatsachen treten, niemandem gedient 37. Den Behörden fällt die nicht leichte Aufgabe zu, zwei Forderungen von fundamentaler Bedeutung unter einen Hut zu bringen: Der Mensch im technischen Zeitalter hat ein Recht auf saubere Luft, sauberes Wasser und ein Recht auf giftstofffreie Nahrung. Andererseits braucht die Industrie annehmbare Fabrikationsbedingungen, denn die Produktionstätigkeit bleibt trotz allen Immissionen Grundlage unseres Wohlstandes.

Die Probleme, die sich bei der Auseinandersetzung zwischen Technik und Natur in zunehmender Zahl stellen, erheischen gebieterisch eine Intensivierung der Forschung, und zwar von Grundlagen- und Zweckforschung auf allen Gebieten, die von dieser Auseinandersetzung tangiert werden. Die Probleme verlangen eine ganzheitliche Betrachtung, das heisst sie erfordern multidisziplinäre Zusammenarbeit. Die Wissenschaft wird nur dann in der Lage sein, das erforderliche Wissen zu erbringen, wenn Fachleute aus Naturwissenschaft, Landwirtschaft und Medizin eng zusammenarbeiten. Aus diesem Zusammengehen ist eine neue Disziplin, die Ökologie oder Umweltforschung, entstanden 38 39 Wird davon ausgegangen, dass alle Disziplinen, die geeignet sind,

die Lebensbedingungen des Menschen zu verbessern, zu fördern sind, ist der Umweltforschung ein hohes Mass an Priorität einzuräumen. Sie ist gesellschaftsbezogene Forschung im besten Sinne des Wortes. Der Ruf nach Intensivierung der Forschung ertönt stets dann, wenn es darum geht, an irgendeinem Frontabschnitt unseres Lebensbereiches eine prekäre Lage zu klären. In dieser Absicht werden zurzeit in den Vereinigten Staaten — in wissenschaftlichen Belangen oft als Vorbild gepriesen — neue Institutionen geschaffen und ansehnliche Summen bereitgestellt, um alle Anstrengungen auf dem Gebiet der Umweltsforschung zu intensivieren und zu koordinieren 40 41

Es sei nicht in Abrede gestellt, dass vermehrte Anstrengungen auch unserem Land gut anstehen würden. Was nützen aber wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn ihnen die praktische Anwendung versagt bleibt oder es an Mitteln oder am Entschluss fehlt, die sich aufdrängenden Konsequenzen zu ziehen? 42 Im Prinzip pflichte ich jenem Kollegen bei, der kürzlich erklärt hat, dass zur ersten Sanierung unserer bedrohten Umwelt es nicht so sehr vermehrter Forschung bedürfe, als vor allem Mut und den Willen, die vorliegenden Forschungsergebnisse in die Tat umzusetzen 43. Die Verwirklichung vieler Projekte erfordert Einsicht, Kompromissbereitschaft und vor allem viel Geld. Durch entsprechende Aufklärung und Orientierung muss beim Stimmbürger dasjenige Mass an Opferbereitschaft erreicht werden, das Voraussetzung zur Aufwendung der grossen, für den Umweltschutz benötigten Summen ist. Es muss heute jedermann klar sein, dass nicht nur das Bruttosozialprodukt für die Beurteilung des Lebensstandards massgebend ist, sondern ebenso die Höhe der Mittel, die für soziale Zwecke aufgewendet werden, wie z. B. für die Reinhaltung der Umwelt. Der Mensch hat somit letzten Endes selbst darüber zu bestimmen, wieviel ihm saubere Luft, reines Wasser und Freiheit von Lärm und Schmutz wert sind 40. Es müssen neue Leitbilder geschaffen werden: So gehört eine zentrale Abwasserkläranlage oder eine zeitgemässe Kehrichtbeseitigung ebenso zum Image einer fortschrittlichen Gemeinde wie etwa moderne Schulhäuser oder schöne Sportanlagen. Der Mensch der Industriegesellschaft muss sich daran gewöhnen,

dass nicht nur der Erwerb all der erstrebenswerten Güter, sondern auch deren Beseitigung mit Kosten verbunden ist.

V. Der Mensch: Besitzer oder Treuhänder?

Besonders der jungen Generation gegenüber, die uns ohnehin kritisch mustert, werden wir überzeugend darzutun haben, dass die jetzige Generation sich nicht als Besitzerin eben dieser Umwelt wähnt, sondern als Treuhänderin dafür besorgt sein will, sie der nächsten Generation so zu übergeben, wie wir sie übernommen haben möchten 44. Um die Mitmenschen von der Dringlichkeit und Bedeutung eines zeitgemässen Umweltschutzes zu überzeugen, bedarf es weder des aufgehobenen Drohfingers noch romantischer Schwarzmalerei. Tatsachen und vorsichtig formulierte Prognosen sowie der heute so bereitwillig gewährte Anschauungsunterricht genügen vollauf. Was denkt etwa die Jugend von ihren älteren Zeitgenossen und Vorfahren, wenn Schüler klassenweise oder Wehrmänner zugsweise daran gehen, Seeufer, Wälder und Bachläufe von Büchsen, Flaschen, Autobestandteilen und vielen anderen Leitfossilien des 20. Jahrhunderts zu befreien? Auch wenn es um die Bewahrung der uns bis jetzt erhalten gebliebenen Erholungsgebiete geht, machen wir es den jungen Kritikern oft unnötig leicht, den Hebel anzusetzen. Auch sollte es nicht mehr nötig sein, dass unser Bewusstsein gegenüber den Umweltproblemen durch Sensationsmeldungen in Radio und Presse in regelmässigen Abständen wachgerüttelt werden muss. War früher der Mensch gegenüber den Naturgewalten in der Defensive und musste er um sein Überleben kämpfen, steht der moderne Mensch nun im Begriff, die Natur vollständig zu beherrschen. Seine Rolle im kommenden Jahrhundert, das von der Technik noch viel mehr beherrscht sein wird, soll nicht die eines kühnen, raubbauenden Eroberers, sondern die eines weisen, umsichtigen Regenten sein.

VI. Rolle der Universität

In der sich immer deutlicher abzeichnenden, weltweiten Auseinandersetzung zwischen Technik und Natur darf die Universität nicht abseits stehen. Sie hat auch im Zuge der Bewusstseinsbildung gegenüber der bedrohten Umwelt eine massgebende Rolle zu spielen. Deshalb ist der bedrohten Umwelt in Lehre und Forschung volle Beachtung zu schenken. Der Wert eines Forschungsprojektes hängt somit nicht allein von der Qualität der Forscher und vom wissenschaftlichen Wert und dessen Ausstrahlung auf andere Wissenschaftszweige ab, sondern ebensosehr vom sozialen Wert dieser Studie für die Gesellschaft und ihres potentiellen Nutzens für die Wirtschaft.

Andererseits bieten sich heute im akademischen Unterricht, vor allem im Bereich der Medizin, Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften, viele Gelegenheiten, die akademische Jugend nicht allein zu Vielwissern, sondern vor allem zu selbständig und kritisch denkenden Menschen zu erziehen; zu Menschen, die in ihrem Fachgebiet bestens beschlagen, aber auch ihrer Verpflichtungen gegenüber ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt bewusst sind. Genau so wie man heute im Geschichtsunterricht nicht bei der Behandlung des Ersten Weltkrieges aufhören sollte, wäre ein zeitgemässer Biologieunterricht eine unverzeihliche Halbheit, würde nur von bestechenden molekularbiologischen Gegebenheiten berichtet und die Hintergründe des Existenzkampfes vieler Arten oder gar Biotope verschwiegen 45.

So wie es das höchste Ziel des Arztes ist, Gesundheit zu erhalten und wieder zu schenken, ist es das Streben aller an der Umweltforschung beteiligten Wissenschafter die Natur, soweit sie uns noch erhalten geblieben ist, lebensfähig zu erhalten. Sie bedarf der Schonung: Raubbau durch Übernutzung muss verhindert werden. Die durch Immissionen aller Art gestörten Gleichgewichte müssen durch entsprechende Korrekturen wiederhergestellt werden. Das Ziel kann aber nicht sein, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, eine Utopie, die unseren Interessen zuwiderlaufen würde. Das Ziel muss heissen: Gesunde Menschen in einer zwar veränderten, aber in ihrem Fortbestand nicht

gefährdeten Umwelt. Es ist die hohe Pflicht aller verantwortungsbewussten Menschen, dafür einzustehen, nötigenfalls dafür zu kämpfen, dass alle Menschen — ob sie nun der modernen Industriegesellschaft angehören oder in Entwicklungsländern leben — am technischen Fortschritt unserer Zeit teilhaben. Dazu braucht es nicht nur wirtschaftliches Wohlergehen, gepaart mit sozialer Gerechtigkeit, sondern auch die Erhaltung einer Umwelt, die das Leben für alle Menschen unserer Gesellschaft lebenswert macht.

Literaturhinweise