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Organische Chemie: Gegenwart und Zukunft

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 25. November 1977
Verlag Helbing &Lichtenhahn • Basel 1977

©1977 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG, Basel
ISBN 37190 0712 X

Hochansehnliche Versammlung!

Im Jahre 1750 erschien ein Büchlein eines unbekannten Autors mit dem geheimnisvoll klingenden Titel: «Die Neu-auffgehende Chymische Sonne, samt ihrem Glantz und Schein, weiset alle GOTT-ergebene Sucher auf den rechten Pfad, subjectum ac primam materiam Lapidis Philosophorum et omnium rerum zu suchen, zu finden, und zu elaboriren; wie dann das nöthigste aus wahrer Philosophorum Schriften extrahiert beygefügt zu finden. Von einem Treu-meinenden Freunde zusammen getragen, und allen Bekümmerten zum Trost herausgegeben». Diese Schrift ist bezeichnend für die alchemische Denkweise, die während beinahe 2000 Jahren vorherrschte. Es ist nicht einfach, das Wesen der Alchemie zu erfassen und zu beschreiben, da die Originaltexte schwer verständlich sind. Zudem bereitet es uns Mühe, sich in ihre mystische Gedankenwelt zu versetzen und ihre Überlegungen nachzuvollziehen. Die Alchemisten betrachteten die chemischen Vorgänge nicht nur als solche, sondern versahen sie mit einem symbolischen Gehalt. Ihre Ausdrucksweise war oft dunkel und beschränkte sich auf Andeutungen. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich die Alchemie zu einer Geheimwissenschaft, deren Schutzgott der Hermes trismegistos war. Zu ihren berühmtesten Vertretern gehörte Paracelsus. In der heutigen Zeit interessieren neben den historischen vor allem die psychologischen Aspekte der Alchemie. So hat C. G. Jung in seinem Werk «Psychologie und Alchemie» versucht, ihren Symbolgehalt zu deuten.

Viel wirklicher erscheinen uns indessen die Anschauungen des antiken Griechenlands. Die Griechen gewannen ihre Erkenntnisse über das Wesen der Materie auf Grund von realen

Betrachtungen und vernünftigen Überlegungen. So hat bereits der Vorsokratiker Melissos von Samos im 5. Jahrhundert v. Chr. das Axiom der Erhaltung der Materie formuliert, wenn er sagt: «Immer war, was war, und es wird immer sein. Denn wenn es entstanden wäre, so müsste es nichts gewesen sein. Nun kann aus Nichts unmöglich etwas werden.» Und es war Demokrit (460-371 v. Chr.), einer der umfassendsten und einflussreichsten Gelehrten vor Platon und Aristoteles, der erstmals den Begriff des Atoms postulierte: «Das wahrhaft Wirkliche ist der leere Raum mit den sich darin bewegenden Atomen. Die Atome sind untereinander gleichartig, nur nach Grösse , Lage () und Anordnung () verschieden. Sie bringen unendlich viele Welten in unendlichem Wechsel hervor. Indem die Atome zusammenkommen, erzeugen sie das Werden. Das Vergehen ist die Folge ihrer Trennung.» Diese fortschrittlichen Vorstellungen der Vorsokratiker wurden durch die Lehre von Aristoteles wieder verdrängt, der, zurückgreifend auf die Kosmogonie von Empedokles, als Grundstoffe die vier Elemente, Feuer, Erde, Wasser und Luft, nannte. Bei Aristoteles standen die Qualitäten, d. h. Empfindungen wie trocken, feucht, warm und kalt, im Vordergrund. Gewogen oder gemessen wurde nicht, obwohl schon Archimedes die Waage benützt hatte. Später fügten die Alchemisten als fünften Stoff noch den Äther, die quinta essentia, bei. Sie verstanden sie als das keinen Gesetzen unterworfene immaterielle, in sich vollkommene, erhaltende Moment des Weltalls —letztlich als die absolute Erkenntnis.

Der erste ernsthafte Kritiker der Alchemie war der Engländer Robert Boyle (1627-1691), der Entdecker des Gasgesetzes. In seinem Buche «The Sceptical Chymist» kam er zur entscheidenden Erkenntnis: «Die Existenz der vier Elemente der Alten ist durch kein Experiment bewiesen. Bevor das nicht geschehen ist, kann die alchemische Elementarlehre nicht als wahr anerkannt werden. Nur der Versuch ist schlüssig, niemals aber die unbewiesene Behauptung.» Hier wird erstmals eine bewusste

Trennung von innerer und äusserer Erfahrung vorgenommen. Damit sind die Substanzen von ihrem Symbolgehalt befreit.

Endgültig gebrochen wurde die Herrschaft der Alchemie aber erst durch den Franzosen Antoine-Laurent Lavoisier (1743-1794), der seine Experimente sehr genau und vor allem quantitativ durchführte, indem er die Gewichtszahlen vor und nach den Versuchen bestimmte. Spekulationen verabscheute er. Alle Versuche mussten reproduzierbar sein! Lavoisier war Direktor der Salpeterfabriken des französischen Staates und Generalpächter (fermier général) zur Zeit des Ancien Régime. Er wurde von der Revolutionsregierung unter Robespierre der Erpressung angeklagt und trotz der Fürbitten seiner Freunde durch die Guillotine hingerichtet. Die Richter hatten das Begnadigungsgesuch mit den berühmt gewordenen und auch uns nicht unvertrauten Worten «La République n'a pas besoin de savants» abgelehnt. Lavoisier begründete mit seinen Experimenten die Chemie als exakte Wissenschaft. Nach ihm setzte eine stürmische Entwicklung ein, die schliesslich zur heutigen modernen Chemie führte.

Was verstehen wir nun 200 Jahre später unter der Wissenschaft Chemie? Welches ist ihr gegenwärtiger Stand? Welche Probleme hat sie in Zukunft zu lösen? Im folgenden versuchen wir, auf diese Fragen näher einzugehen.

Die Chemie ist definiert als die Wissenschaft, die sich mit der Zusammensetzung und Struktur der Materie sowie ihrer Eigenschaften und Umwandlungen befasst. Wir beobachten Stoffveränderungen in der Natur und im Laboratorium, beschreiben und ordnen sie als makroskopische Erscheinungen der erlebten Sinnenwelt Ein grosser Teil der chemischen Vorgänge, deren Gesetzmässigkeiten wir erkennen wollen, verlaufen aber in Dimensionen, die der unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich sind. Deswegen müssen oft indirekte Argumente zur Beweisführung benutzt werden. Wir deuten und formulieren alle Wahrnehmungen auf der Ebene atomarer Dimensionen und bedienen uns

einer speziellen Formelsprache, in welche die Eigenschaften der Substanzen und die chemischen Reaktionen übersetzt werden. Abgesehen von den wenigen elementaren Stoffen, die nur gleichartige Atome enthalten, handelt es sich um Kombinationen von oft sehr vielen und verschiedenen Atomen; sie werden Moleküle genannt. Die abstrakte Formelsprache versucht heute, unsere Anschauungen über die mikroskopische, molekulare Struktur der Stoffe möglichst präzis und naturgetreu in Form von Raumstrukturen wiederzugeben. Sie ist den Chemikern ein notwendiges Hilfsmittel, damit sie sich in ihrer Wissenschaft kurz und einfach ausdrücken können. Diese Dualität von Erkenntnis und Ausdruck ist einer der Gründe, warum auch der gebildete Laie den Zugang zum eigentlichen Wesen der Chemie nur schwer findet, obwohl er sich gerade in Basel unter Chemie durchaus etwas vorstellt.

Wenn wir unter der Natur die Gesamtheit der Erscheinungen, die durch die Sinnenwelt gegeben ist, verstehen, so ist es nach Max Planck Aufgabe der wissenschaftlichen Arbeit, Ordnung und Gesetzlichkeit in diese erlebte Sinnenwelt zu bringen. Naturgesetze beruhen auf der gleichartigen Wiederholung eines zeitlichen oder räumlichen Verhaltens. Sie sind eine unerbittliche Notwendigkeit, gemäss dem Prinzip «Gleiche Ursachen, gleiche Wirkung». Das Auffinden eines allgemeinen Gesetzes ist ein komplexer Prozess, der in allen exakten Naturwissenschaften prinzipiell gleich abläuft. Er geht in der Regel von einer bestimmten Erfahrung oder experimentellen Beobachtung aus, die auch in analogen Fällen zutreffen und reproduzierbar sein muss. Aus solchen Regelmässigkeiten zieht der Forscher Schlüsse, die zu neuen Hypothesen, Modellen oder Theorien führen und die anhand weiterer Experimente auf ihre Richtigkeit zu prüfen sind. Oft ergeben sich aus einfachen qualitativen Modellvorstellungen komplizierte mathematisch-physikalische Theorien. Dabei dürfen wir nicht verkennen, dass wir häufig idealisierende Vorstellungen und Definitionen benützen müssen; denn die Aussagen

und Beschreibungen experimenteller Befunde liefern in der Regel keine absoluten Werte, sondern lediglich Näherungen. Dies ist eine Einschränkung, die für jede Naturbeschreibung, gleich ob kompliziert oder einfach, zutrifft. Dennoch hat die wissenschaftliche Chemie allgemeine Konzepte und Grundprinzipien entwickelt, auf denen letztlich ihre technischen Anwendungen beruhen.

Seit jeher haben sich die Chemiker nicht nur für die tote, sondern auch für die lebende Materie interessiert. Dass sich die aus pflanzlichen und tierischen Organismen gewonnenen Stoffe prinzipiell nicht von den Mineralien in ihrer molekularen Struktur und Gesetzmässigkeit unterscheiden, war schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts klargeworden. Später hat man erkannt, dass die Lebensvorgänge zu einem guten Teil auf einem komplexen Synergismus von chemischen Reaktionen sowie von physikalischen Strukturen und Topologien in hochorganisierten Systemen beruhen. Die Chemie ist also nicht nur mit der Physik und den Erdwissenschaften, sondern auch mit der Biologie und der Medizin eng verflochten.

Wenden wir uns nun der Frage nach dem heutigen Stand der chemischen Forschung, insbesondere auf dem Gebiete der organischen Chemie, meines eigenen Faches, zu. Unter organischer Chemie wollen wir die Chemie der Kohlenstoffverbindungen verstehen. Eine schärfere Abgrenzung gegen die anorganische Chemie —übrigens das Thema einer vor 45 Jahren gehaltenen Rektoratsrede — erscheint heute wenig sinnvoll, da Überschneidungen immer häufiger werden. Ich denke z. B. an die Komplexe und metallorganischen Verbindungen und vor allem auch an die Gesetzmässigkeiten der Kinetik und Thermodynamik. Letztere gelten unabhängig vom Verbindungstyp für das gesamte Gebiet der Chemie. Wenn wir den Begriff organische Chemie dennoch beibehalten, so hat dies eher didaktische und praktische Gründe. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die meisten von der

Basler chemischen Industrie erzeugten Produkte organische Verbindungen sind.

Die Forschung in der Chemie lässt sich in vier Problemkreise gliedern: 1. Molekulare Struktur oder Konstitution, 2. Dynamik, 3. Synthese und 4. Analyse oder Analytik. Es ist klar, dass diese Gliederung keine absolute sein kann, da die Gebiete oft ineinander übergreifen.

Zum ersten Problemkreis: Unter der Konstitution oder Strukturformel einer chemischen Substanz verstehen wir die Art und Sequenz der Bindungen der Atome, die das Molekül zusammensetzen, sowie ihre gegenseitige Anordnung im Raume. Die molekulare Struktur beruht auf der klassischen Valenzlehre, die vor rund 100 Jahren konzipiert, in der Folge bestätigt und ständig verfeinert worden ist. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg standen zur Ermittlung der Konstitution eines Moleküls fast ausschliesslich chemische Methoden zur Verfügung. Sie bestanden in oft langwierigen, zeitraubenden Abbaureaktionen. Objekte der Strukturaufklärung sind neben Syntheseprodukten vor allem pflanzliche und tierische Wirkstoffe. Ihre Moleküle gleichen der Architektur eines komplizierten Gebäudes, dessen Bausteine man früher mühsam abtragen und identifizieren musste. Aus der Natur der erhaltenen Fragmente und deren gedanklicher Rekombination konnte man auf die ursprüngliche Zusammensetzung des gespaltenen Moleküls schliessen. Fehlschlüsse aufgrund der Bildung von unerkannten Artefakten oder unerwarteten reaktiven Verhaltens waren dabei nicht immer auszuschliessen. Heute steht dem Chemiker dank den Fortschritten in der Elektronik und in der Entwicklung von Halbleitern ein ganzes Arsenal zusätzlicher physikalischer Hilfsmittel für die Strukturaufklärung zur Verfügung. So benützen wir die Spektroskopie im ultravioletten, sichtbaren und infraroten Bereich, die Massenspektrometrie, magnetische Kernresonanz und vor allem die Rouging von Röntgenstrahlen an Kristallgittern, deren Auswertung

durch Computer unterstützt wird. Die Methode der Röntgen-Diffraktion liefert uns wie eine photographische Kamera in oft erstaunlich kurzer Zeit ein vollständiges Bild einer molekularen Struktur. Die Entwicklung von noch empfindlicheren Geräten und neuartigen Messverfahren dürfte kaum abgeschlossen sein. Die Kombination der chemischen und physikalischen Methoden ermöglicht die Untersuchung von kleinsten Substanzmengen, wie sie oft aus biologischen Materialien anfallen. Dies eröffnet der Forschung neue Dimensionen. Die grosse Zeitersparnis sowie die Gewinnung von neuen prinzipiellen Erkenntnissen, etwa über die Natur der chemischen Bindung und deren Energiezustände, rechtfertigen die oft hohen Anschaffungs- und Betriebskosten solcher Geräte.

Dank der Vielfalt der neuen Methoden ist es möglich gewesen, das relativ junge Gebiet der mikrobiellen Stoffwechselprodukte, zu denen die Antibiotica zählen, während kürzester Zeit zu entwickeln. Auch heute gehört die Isolierung und Ermittlung der molekularen Struktur von Pilzmetaboliten noch immer zu einem der aktuellsten Gebiete der organischen Chemie. Oft weisen sie neuartige chemische Strukturen auf und zeigen bisher unbekannte biologische Aktivitäten, die zu medizinischen Anwendungen führen können. Ich denke an Substanzen, die antimikrobielle, antivirale, tumorhemmende, neurophysiologische oder immunosuppressive Eigenschaften besitzen.

Ebenfalls aus Mikroorganismen stammen mehrere Verbindungen, welche die Transporteigenschaften von Membranen verändern. Von ihnen verspricht man sich neue Einsichten in die Vorgänge, die sich abspielen, wenn anorganische Ionen die biologische Membran (Zellhaut) durchqueren. Die mikrobiellen Substanzen sind fettlöslich und besitzen eine makrocyclische Struktur, etwa in der Gestalt eines Armbands oder Gürtels. In ihren Hohlraum passt gerade ein bestimmtes Metallion, z. B. ein Natrium-, Kalium- oder Calcium-Ion. In den biologischen Flüssigkeiten sind diese Ionen vollständig von Wassermolekülen umhüllt;

sie sind wasserlöslich. Deshalb ist ihnen der Durchtritt durch die wasserabstossende lipophile Zellmembran verwehrt. In Gegenwart des cyclischen Makromoleküls streift das Ion seine Wasserhülle ab und schlüpft in dessen Höhlung. Dieser «Umkleidevorgang» vollzieht sich innert 10 -9 Sekunden, also ausserordentlich rasch. Die Bildung des lipoidlöslichen Komplexes ermöglicht es nun dem Metall-Ion, die Zellmembran zu passieren. Diese natürliche Ionophore (oder «Carriers») haben die Chemiker angeregt, analoge Modelle nach Mass zu synthetisieren.

Steigendes Interesse finden die Untersuchungen an Giftstoffen, die von Schimmelpilzen produziert werden, welche häufig Futter- und Nahrungsmittel befallen und Mycotoxicosen verursachen Eines der bekanntesten Beispiele sind die Aflatoxine. Ende der sechziger Jahre starben in England plötzlich über 100000 Truthähne an einer unbekannten Krankheit, «Turkey X Disease» genannt. Sie liess sich auf die Verfütterung von Erdnussmehl, welches vom Schimmelpilz Aspergillus flavus befallen war, zurückführen. Die in ihm enthaltenen Toxine besitzen hohe cancerogene Aktivität.

Schon lange kennt man die Giftstoffe des Knollenblätterpilzes, welche die Leber- und Nierenzellen zerstören und dadurch tödlich wirken. Auch vom Schimmel befallener Käse kann nicht ungefährlich sein, wie das kürzlich in Penicillium roqueforti entdeckte neurotoxische Roquefortin zeigt.

Überblickt man die Vielfalt dieser kompliziertesten chemischen Strukturen, die oft auch durch ihre Ästhetik bestechen, so ist man erstaunt, zu welch ausserordentlichen synthetischen Leistungen selbst die niedersten Lebewesen befähigt sind.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden hauptsächlich die Inhaltsstoffe von höheren Pflanzen (Alkaloids, Glykoside, Pflanzenwuchsstoffe, pflanzliche Pigmente) chemisch untersucht. Dabei wurde ihre Bedeutung für die botanische Taxonomic erkannt. Von den ca. 600000 Pflanzenspezies der Erde sind erst fünf Prozent chemisch oder pharmakologisch erforscht. Neuerdings

hat sich das Interesse der Chemiker auch marinen Organismen, wie Algen, Korallen, Schwämmen, Mollusken und Fischen, zugewandt. Bei den aus mariner Flora und Fauna tropischer Gewässer isolierten Stoffen sind eine Vielfalt neuartiger Strukturen aufgetreten. Sie unterscheiden sich beträchtlich von denen terrestrischen Ursprungs.* In ihren Verbindungen findet man häufig Halogenatome, was angesichts der zwei Prozent Chlor-Ionen, die das Meerwasser enthält, nicht erstaunt. Da viele dieser Substanzen ausgeprägte biologische Eigenschaften zeigen, sieht man in ihnen vielversprechende Möglichkeiten, neue Heilmittel zu gewinnen.

In Zukunft wird man den Stoffen, welche die Kommunikation zwischen den Individuen einer Art vermitteln (Pheromone) vermehrte Aufmerksamkeit schenken müssen. Es sind dies besonders die Häutungs- und Juvenilhormone, Sexuallockstoffe und Abwehrstoffe von Insekten. Die Verwendung solcher Substanzen könnte den umweltbelastenden Masseneinsatz von Insektiziden eindämmen, da sich das Sexualverhalten der Schädlinge bereits mit geringsten Mengen steuern lässt.

Wenig weiss man auch über die Chemie natürlicher Stoffe, die Reaktionen des Immunsystems herausfordern oder Allergien verursachen.

Diese Beispiele zeigen, dass in der Natur noch unzählige interessante Wirkstoffe verborgen sind, die der Entdeckung harren. Ihre Isolierung setzt allerdings einen einfachen biologischen Test voraus, der es dem Chemiker gestattet, die Anreicherung genau zu verfolgen.

Der Chemiker richtet seinen Blick nicht nur in die Zukunft, sondern spürt auch den ältesten Lebensformen nach und sucht Zeichen eines ausserirdischen Lebens. Dies geschieht durch den Nachweis organischer Substanzen in Sedimentgesteinen, Fossilien

und Meteoriten und ihren Vergleich mit den Bestandteilen heutiger Pflanzen und verwandter Fossilien. Aus diesen Versuchen entwickelt sich der neue Zweig der organischen Geochemie.

Bisher war die Rede von niedermolekularen Naturstoffen, doch stellen sich im weiten Feld der Strukturbestimmung der hochmolekularen Wirkstoffe (Biopolymere) noch sehr viele ungelöste Probleme. Ich denke an die Nucleinsäuren, Polypeptide und Eiweissstoffe (Proteine), die im Ablauf der Lebensvorgänge eine zentrale Funktion ausüben. Es liegen linear gebaute kettenartige Moleküle vor, deren Bausteine wie die Perlen in einer Perlenkette aneinander gereiht sind. Während wir bei den Nucleinsäuren nur vier Sorten von Perlen (Nucleotide) finden, können bei den Proteinen bis zu zwanzig verschiedene Perlenarten (Aminosäuren) auftreten. Aufgabe der Chemie ist es nun, die Sequenz dieser Bausteine zu bestimmen. Es ist einleuchtend, dass sich in Strukturen, die aus einigen hundert bis zu mehreren tausend Perlen bestehen, eine gigantische Zahl unterschiedlicher Anordnungen ergeben. Bei den Polypeptiden, deren Bausteine 20 verschiedene Aminosäuren sind, gibt es bereits für das aus zwei solchen Einheiten zusammengesetzte Produkt 20² =400 Kombinationsmöglichkeiten. Bei drei Aminosäuren können wir 8000 Kombinationen erwarten und bei einer Kette aus hundert aufgereihten Perlen würde sich die unvorstellbare Zahl von 20 100 = 10 130 möglichen Makromolekülen ergeben. Die lebende Zelle synthetisiert jedoch nur eine verschwindend kleine Anzahl aller möglichen Strukturen. Dieses Beispiel führt uns eindrücklich die ungeheure Selektivität der Natur vor Augen. Ein solches Riesenmolekül darf man sich nicht als ein gestrecktes Perlencollier vorstellen. Durch Knäuelung nimmt die Kette eine definierte dreidimensionale Orientierung an. Ausserdem sind häufig zwei oder mehrere Ketten miteinander verbunden und ineinander verwickelt Daraus ergeben sich äusserst komplexe Strukturen, deren Erforschung nur durch die sinnreiche Kombination von chemischen, physikalischen und biologischen Methoden möglich ist.

So hat vor einigen Monaten eine britische Forschergruppe in Cambridge, England (F. Sänger) zum ersten Mal die Sequenz der Nucleinsäure des gesamten Genoms oder Erbgutes eines Virus (Bacteriophage 174) lückenlos bestimmt. Sie besteht aus nicht weniger als 5375 Nucleotid-Bausteinen. Die genaue Reihenfolge im mikroskopischen molekularen Bereich bestimmt das gesamte makroskopische Verhalten des Organismus, seine Fähigkeit, gewisse Stoffe umzuwandeln, sich zu erhalten und sich fortzupflanzen.

Nach der Aufklärung des Baus von Molekülen stellt sich die Frage nach deren Dynamik oder ihrer chemischen Reaktivität. In welcher Weise erfolgt die Kombination von Atomen zu Molekülen? Wie und warum reagieren verschiedene Moleküle miteinander? Worauf beruht die Stabilität einer chemischen Verbindung?

Die Antwort auf diese Fragen des Zusammenhangs von Struktur und Reaktivität sind nicht leicht erhältlich, da es letztlich um das Wesen der chemischen Bindung zwischen den Atomen geht. Man versucht Ordnung in die Vielfalt der Reaktionen zu bringen und die Energiezustände und -bilanzen von Molekülen samt ihren Umsetzungen möglichst quantitativ zu erfassen. Diese Ergebnisse sowie die quantenmechanische Behandlung von Molekülen dienen theoretischen Berechnungen und lassen sich zu neuen Modellen weiterentwickeln. Sie sollten möglichst präzise Voraussagen für analoge Fälle ergeben.

Nachdem in den vergangenen Jahren hauptsächlich die Kinetik und Thermodynamik von Elementarprozessen, die auf dem thermischen Stoss zwischen den Molekülen beruhen, studiert worden sind, hat sich in jüngster Zeit die Photochemie stark entwickelt. Es geht hier um die Wechselwirkung von Licht mit Materie, wie wir sie von der Photosynthese im Blattgrün der Pflanze oder von Veränderungen in der Atmosphäre her kennen. Das Licht und nicht die Wärmebewegung liefert die Energie für die

chemische Transformation. Die lichtinduzierten Reaktionen erlauben es, organische Verbindungen herzustellen, die mit Hilfe der konventionellen Methoden nicht zugänglich waren.

Von grosser Bedeutung in der technischen Chemie — beispielsweise in der Herstellung von Kunststoffen — ist die Reaktionsbeschleunigung durch Katalysatoren. Ihre Wirkung ist einem Skilift vergleichbar, der den Aufstieg der Skifahrer von der Tal- zur Bergstation beschleunigt, wobei der Katalysator die Rolle des Brigels übernimmt. Nacheinander transportiert er eine Vielzahl von Personen. Nach Abschluss des Transportes ist er unverändert. Ein Katalysator wirkt deshalb bereits in kleinsten Mengen. Ohne seinen Einsatz würden viele Reaktionen nicht innert nützlicher Frist ablaufen. Über die Wechselwirkung von Katalysator und Substrat sind wir nur mangelhaft orientiert.

Die Synthese als angewandte Dynamik gehört zu den differenziertesten und kreativsten Zweigen der Chemie. Sie hatte in den letzten zwei Jahrzehnten ausserordentliche Erfolge zu verzeichnen, indem es gelungen ist, auch äusserst kompliziert strukturierte Moleküle aufzubauen. Insbesondere gilt dies für Naturstoffe, von denen man noch vor 20 Jahren gedacht hatte, dass ihre Synthese nur in der lebenden Zelle möglich sei. Gegenwärtig zeichnen sich drei Richtungen ab:

Erstens die Synthese ungewöhnlicher, nicht in der Natur vorkommender Moleküle, die für die Strukturchemie und das Studium der chemischen Dynamik, d. h. für die Abklärung von detaillierten Reaktionswegen, Energieverhältnissen und Stabilitäten, interessant sind.

Eine zweite Richtung sucht Verbindungen mit neuen Eigenschaften, die dem Menschen nützlich sein könnten, herzustellen. Ich denke an Arzneistoffe mit neuen Indikationen und an Substanzen, die unsere Kenntnisse über den Zusammenhang von chemischer Struktur und biologischer Wirkung erweitern. (Um heute ein Medikament in die Praxis einführen zu können, sind

etwa 10000 Verbindungen herzustellen und pharmakologisch auszuwerten!) Im weiteren erwähne ich die Agrochemikalien, die der Landwirtschaft als Insektizide und Herbizide dienen, die Textilfarbstoffe, Waschmittel und Detergentien, die Herstellung photographischer Schichten, die Kunststoffe wie synthetische Fasern, Follen für Verpackung, Klebstoffe, Werkstoffe für die Technik, Halbleiter, Kühlflüssigkeiten usw.

Ein drittes Ziel hat sich die synthetische Chemie in der Herstellung von Naturstoffen gesetzt. Hier interessieren vor allem Verbindungen, die eine ungewöhnliche Struktur besitzen oder biologische Funktionen ausüben, wie Hormone, Vitamine, Riech- Aromastoffe, natürliche Pigmente, Antibiotica, Nucleinsäuren und Proteine.

Da uns die Natur von manchen Wirkstoffen nur sehr geringe Mengen zur Verfügung stellt, kommt ihrer synthetischen Herstellung eine besondere Bedeutung zu. Zwei aktuelle Beispiele mögen dies belegen. Die Prostaglandine und Thromboxane, die in nahezu allen tierischen Geweben vorkommen, zeichnen sich als Kontrollsubstanzen in der Zellregulierung durch Wirkungen wie Blutdrucksenkung, Stimulierung der glatten Muskulatur, Beeinflussung der Aggregation von Blutplättchen usw. aus. Die Auswertung des breiten pharmakologischen Wirkungsspektrums im Blick auf eine medizinische Anwendung erfordert grosse Substanzmengen. Im weiteren ist es gelungen, die Steroidhormone durch chemische Abwandlung in ihren biologischen Aktivitäten schärfer zu differenzieren. Das Resultat sind die entzündungshemmenden Cortisonderivate und die kontrazeptiven Steroide, die in der «Pille» Verwendung finden. Die Entwicklung einer Fertilitätskontrolle auf der Basis der hormonalen Konzeption, die als eine der grössten wissenschaftlichen Erfolge unseres Jahrhunderts betrachtet wird, ist ein Schulbeispiel für die Zusammenarbeit von Naturwissenschaftern verschiedenster Disziplinen mit den Medizinern.

Bei der Konstruktion eines kompliziert gebauten Naturstoffs

tritt ein besonders schwieriges Problem auf, dessen rationelle Lösung die Chemiker zur Zeit stark beschäftigt. Es hängt mit der dreidimensionalen Struktur des Moleküls zusammen. Dieselben Atome lassen sich in einem grösseren Molekül auf erstaunlich viele Arten räumlich anordnen, wobei im Naturstoff stets nur eine realisiert wird. Dazu kommt, dass, selbst wenn die Synthese in vitre zu den richtigen, relativen Anordnungen von Atomen im Molekül geführt hat, immer noch eine zur Natur spiegelbildliche Struktur möglich ist. Der Entscheidung, ob Bild oder Spiegelbild eines Moleküls die wahre Konstitution wiedergibt, kommt zentrale Bedeutung zu. Der Chemiker spricht hier von Chiralität, abgeleitet von Hand, also Händigkeit. Da bei vielen chemischen Reaktionen gleichzeitig Bild und Spiegelbild eines Moleküls im Verhältnis von 1:1 entstehen, aber nur das eine gewünscht wird, stellt sich das Problem, sie in einer geeigneten Etappe des Synthesewegs voneinander zu trennen. Dies ist nicht einfach, da die chemischen und physikalischen Eigenschaften der beiden spiegelbildlichen Moleküle, gewissermassen von rechter und linker Hand, identisch sind. Die Trennung gelingt mit Hilfe bereits vorhandener chiraler Verbindungen. Bleiben wir beim Vergleich mit unseren Händen, so wäre ein chiraler Hilfsstoff ein rechter Handschuh, mit dem wir unser Händepaar reagieren lassen. Er passt nur auf die rechte Hand, reagiert also mit der linken nicht. Das Resultat: die rechte Hand mit rechtem Handschuh und die handschuhfreie linke Hand verhalten sich nicht mehr wie Spiegelbilder. Sie zeigen unterschiedliche chemische und physikalische Eigenschaften und lassen sich jetzt trennen. Auf diesem Selektionsprinzip beruhen letztlich alle chemischen Reaktionen, die sich in der lebenden Zelle abspielen, denn alle Enzyme sind chirale Verbindungen. Unser terrestrisches Leben wäre ohne Chiralität undenkbar, wobei die Frage nach dem Ursprung der ersten chiralen Verbindung im Laufe der Evolution offenbleibt.

Da uns auch heute noch die Natur viele Stoffe billiger liefert,

als es die chemische Synthese in vitre vermag — denken Sie nur an die medizinisch häufig verwendeten Antibiotica —, ist der aufwendigen Totalsynthese komplizierter Naturstoffe der Vorwurf «l'art pour l'art» nicht erspart geblieben. Auch wenn dieser Einwand zum Teil berechtigt sein mag, so sind Beobachtung unbekannter Reaktionen, Entwicklung neuer Reagenzien sowie Entdeckung theoretischer Zusammenhänge als Gewinn zu buchen. Die zukünftigen Aufgaben der synthetischen Chemie sind mannigfach, besonders im Blick auf ihre industrielle Anwendung, indem die Übertragung von Reaktionen vom Labormassstab in einen Fabrikationsbetrieb nicht nur chemische, sondern auch technische Probleme aufwirft. Abgekürzte, vereinfachte und sicherere Verfahren müssen entwickelt werden, um der Knappheit der Rohstoffe zu begegnen, die Bildung von Giftstoffen zu vermeiden und unsere Umwelt rein zu halten.

Es verwundert nicht, dass bei der Planung einer Totalsynthese die Frage nach dem Einsatz von Computern aufgetaucht ist. Lässt sich bekanntes Wissen wirkungsvoller einsetzen? Kann der Computer mit Hilfe sinnreicher Programme dem Chemiker einen Teil seiner Planungsarbeiten abnehmen? Die Meinungen der Sachverständigen gehen, wie so oft, auseinander. Nach Versuchen mit verschiedenartigen Programmen steht fest, dass sie dem Chemiker Denkanstösse vermitteln, die zu manch origineller und überraschender Lösung führen. Die Ausarbeitung heuristischer Syntheseprinzipien und deren Computerisierung erfordern eine gründliche geistige Durchdringung des Problems. Heute klafft noch eine grosse Lücke zwischen dem, was benötigt, und dem, was möglich ist. Planung und experimentelle Durchführung eines Synthesekonzepts liegen auf sehr verschiedenen Ebenen. Oft sind es unerwartete Beobachtungen, die zu neuen Entdeckungen führen. Die schöpferische Herausforderung der organischen Synthese beschränkt sich nicht nur auf ihre Planung. Die Chemie bleibt trotz der Möglichkeit des Computers eine experimentelle Wissenschaft, in der Ausdauer und handwerkliches Geschick den

Erfolg mitbestimmen. Ob sich die Summe von individueller Erfahrung, logischem Denken und der Intuition, auf der jede intellektuelle Kreativität beruht, restlos in eine Computer-Sprache übersetzen und programmieren lässt, ist zu bezweifeln. Die Entscheidung über die Einführung der Syntheseplanung unter Beiziehung von elektronischen Rechenmaschinen erfordert jedenfalls eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse.

Zu heftigen Kontroversen führt heute die Synthese von Nucleinsäuren oder Genen. Hier sind es neben den technischen Schwierigkeiten vor allem wissenschaftspolitische und ethische Bedenken, die ihre künstliche Herstellung in Frage stellen. 1976 ist es in den U.S.A. (H. G. Khorana) gelungen, nicht nur ein nacktes Gen, sondern ein 199 Bausteine langes Desoxyribonucleinsäure (DNA)-Stück zu synthetisieren. Es enthält vor und hinter dem eigentlichen Gen auch noch die sog. regulatorischen Regionen, was seine valle biologische Aktivität garantiert. Die DNA ist bekanntlich Träger des genetischen Materials und für die Bildung der Proteine verantwortlich. Durch Manipulationen kann man heute DNA-Fragmente verschiedener biologischer Herkunft miteinander kombinieren. Sie sind nicht nur synthetisch, sondern vor allem auch durch Spaltung von natürlicher DNA mit bestimmten Enzymen erhältlich. Die Versuche mit dieser sog. «recombinant DNA» haben heftige Diskussionen über die Zulässigkeit genetischer Manipulationen (Genetic Engineering oder Genchirurgie) ausgelöst. Es werden verlockende Versprechungen gemacht, beispielsweise Insulin oder Wachstumshormone mit Hilfe von solchen DNA-Fragmenten grosstechnisch herzustellen. Die Fragmente sollen zu diesem Zweck in den Kern schnell wachsender Bakterien implantiert und mit diesen vermehrt werden.

In ähnlicher Weise versucht man, den Stickstoff der Luft zu binden und in Ammoniak umzuwandeln. Leguminosen wie Klee, Erbsen und Bohnen besitzen an ihren Wurzeln kleine Knötchen mit stickstoff-fixierenden Bakterien. Gelänge es, die entsprechenden

Gene auf ein anderes Bakterium, das nicht zur Bindung von Stickstoff befähigt ist, zu übertragen, so könnte z. B. das Getreidewachstum vom Stickstoffdünger weitgehend unabhängig werden. Die biologischen Manipulationen von Genen sind vorderhand nicht restlos kontrollierbar. Der chemischen Synthese der Gene wäre deshalb der Vorzug zu geben; denn sie führt zu wohl definierten Produkten. Die Bindung des Luftstickstoffs durch rein chemische Verfahren, etwa unter Verwendung metallorganischer Verbindungen, wäre zwar teurer und energieaufwendiger, aber gefahrloser.

Es kann nicht eindrücklich genug auf die möglicherweise irreversiblen, unerwünschten Konsequenzen der biologischen Experimente aufmerksam gemacht werden. Als erste haben die «National Institutes of Health» (NIH) in den U.S.A. Richtlinien für die Durchführung von derartigen biologischen Experimenten erlassen, die ihre Sicherheit gewährleisten sollen. Der amerikanische Kongress wird demnächst über eine entsprechende Gesetzesvorlage beraten. Es wäre in der Neuzeit das erste Mal in der westlichen Hemisphäre, dass wissenschaftliche Grundlagenforschung durch gesetzgeberische Massnahmen gesteuert würde. Meines Erachtens ist eine gesetzliche Regelung dieser Probleme abzulehnen, da sie die Freiheit der Forschung in Frage stellt. Das Streben des Menschen nach Erkenntnis lässt sich durch keine äusseren Massnahmen unterbinden. Die Geschichte kennt dafür genügend Beispiele. Zudem würde die praktische Durchführung auf grosse Schwierigkeiten stossen. Die Gefahr, Verbote nicht nur aus wissenschaftlich-sachlichen, sondern aus politischen und anderen Gründen auszusprechen, wäre sehr gross. In unserem Land hat man kürzlich die NIH-Vorschriften übernommen und sich auf eine freiwillige Registrierung der Experimente geeinigt. Dies stellt hohe Anforderungen an die Selbstdisziplin und an das Verantwortungsbewusstsein des einzelnen Forschers. Die Zukunft wird zeigen, ob er dieser Herausforderung gewachsen ist.

Wenn wir die schier unermessliche Zahl von molekularen Strukturen, die wir in den Naturstoffen antreffen, überblicken, ergibt sich zunächst ein verwirrendes Bild. Heute wissen wir aber, dass die lebende Zelle sich einiger weniger synthetischer Grundprinzipien bedient, aufgrund derer sich die Mannigfaltigkeit der Strukturformeln zwanglos erklären lässt. Diese Kenntnis verdanken wir den Untersuchungen über die Entstehungsgeschichte (Biogenese) der Naturstoffe. Die Etikettierung von Molekülen durch radioaktive oder -inaktive Isotopen erlaubt es, sie als Bausteine zu erkennen und ihren Weg zum Endprodukt genau zu verfolgen. Die lebende Zelle benützt dazu keine «mystischen» Reaktionen. Auch die Mechanismen, nach denen sie ablaufen, kennt der Chemiker. Wenig erforscht sind indessen die an den Biosynthesen beteiligten Enzyme. Dennoch hat man gelernt, die in den Mikroorganismen enthaltenen Enzyme für die chemische Umsetzung von Stoffen, die diese selber nicht produzieren, zu verwenden. Sie ermöglichen Reaktionen, die man mit gewöhnlichen chemischen Reagenzien nicht ohne weiteres durchführen kann. Ohne sie stände die neue Generation von wirksamen Penicillinderivaten nicht zur Verfügung. Die Anwendungsbereiche der mikrobiellen Enzyme sind noch längst nicht ausgeschöpft.

In der Möglichkeit, durch Synthese beliebig viele künstliche Verbindungen herzustellen — zur Zeit werden pro Jahr etwa 360000 neue Substanzen bekannt, der Anteil organischer Substanzen einschliesslich der Koordinationsverbindungen und metallorganischen Verbindungen beträgt etwa 93% —, unterscheidet sich die Chemie von den deskriptiven Naturwissenschaften. In dieser Hinsicht erinnert sie an die Mathematik, wo es ebenfalls ein «Unendlich plus Eins» gibt. An ein Molekül lässt sich immer noch ein weiteres Kohlenstoffatom anfügen. Mathematische Aspekte sind auch in der Topologie und im Spiel der Formen molekularer Strukturen erkennbar. Sie zeichnen sich häufig durch grosse Schönheit aus.

Nun noch einige wenige Bemerkungen zum vierten Themenkreis, der Analytik. Sie führt uns zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück. In Zukunft wird sie im Zusammenhang mit den Umweltproblemen, besonders mit der Toxikologie, an Bedeutung gewinnen. Die Überwachung von Luft, Wasser, Futter- und Lebensmitteln verlangt die quantitative Bestimmung winziger Mengen verschiedener Stoffe. Dazu kommt die Erfassung von Spuren endogener Wirkstoffe und ihrer Metabolite in menschlichen und tierischen Geweben sowie von Körperflüssigkeiten. Auch die Erforschung der an den Regulationsvorgängen beteiligten Substanzen — denken wir an die Chemie des Sehens durch das Auge oder an die in den Gehirnfunktionen beteiligten Neurotransmitter — erfordern empfindlichste Nachweismethoden. Leistungsfähige analytische Trennverfahren, wie Flüssigkeits- Gaschromatographie, Ionenaustauscher, Dialyse, Elektrophorese, Ultrazentrifuge, stehen zur Verfügung. Ferner begegnen wir wieder den spektralanalytischen Methoden, die wir bereits im Zusammenhang mit der Strukturaufklärung organischer Moleküle erwähnt haben. Auflösungsvermögen und Handhabung müssen noch verbessert, die Anwendung im Bereich der hochmolekularen Substanzen erweitert und neue Methoden der Trennung entwickelt werden. Fortschritte in dieser Richtung sind, abgesehen von unerwarteten physikalischen Entdeckungen, besonders stark von der Technologie des Gerätebaus abhängig.

Meine Damen und Herren! Die wissenschaftliche Forschung ist eine der grossen intellektuellen Tätigkeiten des Menschen, ein Teil seines kulturellen Lebens, wie die Musik, die Dichtung oder die bildenden Künste. Sie sollte um der Erkenntnis willen und nicht nur aus Gründen der Nützlichkeit betrieben werden. Die Ergebnisse der chemischen Forschung haben indessen zu technischen Anwendungen geführt, die der Chemie eine zentrale Stellung in unserem heutigen Leben zuweisen. Die zivilisierte Welt ist von den Produkten der Chemie und den aus ihnen hervorgegangenen

Technologien abhängig geworden. Nur wenige von uns dürften bereit sein, auf diese Errungenschaften und den entsprechenden Lebensstandard zu verzichten. Da es kaum einen Weg zurück gibt, müssen wir unsere Kraft dafür einsetzen, die negativen Auswirkungen unserer verbesserten individuellen Lebensqualität zu bewältigen. Dazu brauchen wir die Hilfe der Naturwissenschaften und insbesondere die der Chemie. Vor allem müssen die Eingriffe in die Natur rechtzeitig erkannt und kontrolliert werden. Die technische Anwendung von Ergebnissen der Grundlagenforschung muss sinnvoll bleiben, nach dem Grundsatz, nicht das Machbare, sondern das Verantwortbare zu realisieren. Für die Entscheidung, was sinnvoll ist, sind nicht nur technische und wirtschaftliche Überlegungen zu berücksichtigen, sondern auch ethische Gesichtspunkte müssen massgebend sein. Dazu gehört eine sachliche und emotionsfreie Information der Öffentlichkeit sowie der entscheidenden Gremien und Behörden durch die Wissenschafter.

Ich hoffe, mit dieser flüchtigen Skizze der organischen Chemie Sie überzeugt zu haben, dass, wenn auch der Glanz und Schein der eingangs zitierten «chemischen Sonne» heute manchmal durch Wolkenfelder verhüllt ist, sie ihre Strahlungskraft nicht eingebüsst hat.