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Zur Aufgabe der Geisteswissenschaften

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 29. November 1991
Verlag Helbing &Lichtenhahn Basel 1991

Die Deutsche Bibliothek —CIP-Einheitsaufnahme
Pestalozzi, Karl:
Zur Aufgabe der Sozialwissenschaften: Rektoratsrede, gehalten
an der Jahresfeier der Universität Basel am 29. November 1991 /
Karl Pestalozzi. —Basel; Frankfurt am Main: Helbing und
Lichtenhahn, 1991
(Basler Universitätsreden; H. 87)
ISBN 3-7190-1210-7
NE: Universität <Basel>: Basler Universitätsreden

Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 3-7190-1210-7
Bestellnummer 2101210
© 1991 by Helbing &Lichtenhahn Verlag AG, Basel

Wie steht es heute mit den Geisteswissenschaften? Worin kann, angesichts der vielen Fragen, die uns heute bedrängen, ihre Aufgabe bestehen?

Den ersten Anstoss zur Wahl dieses Themas gaben drei verwandte Beobachtungen:

Wenn heute in der öffentlichen Diskussion zustimmend oder kritisch von der Wissenschaft oder den Wissenschaften die Rede ist, sind in aller Regel stillschweigend die Naturwissenschaften und die Medizin gemeint, allenfalls noch die Wirtschaftswissenschaften. Die Geisteswissenschaften werden nicht mehr selbstverständlich darunter gezählt. "Wissenschaft" ist offensichtlich in seiner Bedeutung auf diejenige von englisch 'science' eingeschränkt.

Das findet in der Forschungspolitik des Bundes, die neuerdings so erfreulich rege geworden ist, seinen Niederschlag. Die letztes Jahr ausgeschriebenen Schwerpunktprogramme sind wesentlich naturwissenschaftlich und technologisch ausgerichtet. Die Geisteswissenschaften bleiben am Rande. Und das Konzept der Schwerpunktprogramme überhaupt orientiert sich an naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen.

An der Universität Basel hat sich das um 1960 bestehende Gleichgewicht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, vor allem natürlich durch die Gründung des Biozentrums vor 20 Jahren, zugunsten der Naturwissenschaften verschoben. Das liesse sich zum Beispiel am Zufluss der Mittel und der Zahl der Abschlüsse belegen, gilt aber vor allem auch, was das internationale Renommée betrifft. Mit dem Zurücktreten der Geisteswissenschaften liegt Basel in einem allgemeinen Trend, wenn wir beim Soziologen Wolf Lepenies lesen: "Die Geschichte der deutschen Universität liesse sich auch als die Geschichte des Bedeutungsverlustes der Philosophie und des Funktionsverlustes der Philosophischen Fakultät schreiben."

Diese Beobachtungen liessen es geboten erscheinen, im Gegenzug dazu die Aufmerksamkeit für einmal auf die Geisteswissenschaften zu lenken, denen ich mich selbst zurechne; ich spreche also pro domo.

Und doch nicht nur; der Horizont soll weiter sein. Immer wieder haben in den letzten Jahren gerade Vertreter der Naturwissenschaften das Gespräch mit den Geisteswissenschaften gesucht, eher als umgekehrt. Das ist am offenkundigsten, wo es um die verantwortbare Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse geht, die in den Zuständigkeitsbereich der theologischen und philosophischen Ethik fällt. Es gilt aber auch in anderen Fragen, etwa solchen des Naturverständnisses, der Erkenntniskritik, der Begriffsbildung, der Wissenschaftsgeschichte und so weiter.

Auf das Bedürfnis eines Brückenschlages zwischen den Wissenschaften hat Werner Arber 1986 an dieser Stelle mit der Ankündigung transdisziplinärer Lehrveranstaltungen geantwortet, die seither jedes Semester angeboten werden. Auch die vom Kanton Basel-Landschaft errichtete Stiftung "Mensch —Gesellschaft —Umwelt" will ausdrücklich fächerübergreifend sein. In Teilen der Öffentlichkeit besteht, meist nur vage und diffus, die Hoffnung, von den Geisteswissenschaften müsste ihnen Orientierungshilfe kommen.

Die Geisteswissenschaften selbst reagieren auf solche Ansprüche mit zahlreichen, oft interdisziplinär konzipierten Projekten, man denke etwa an die nationalen Forschungsprogramme. Aber gesamthaft gesehen scheint auf ihrer Seite solchen Erwartungen gegenüber eine merkwürdige Zurückhaltung, wenn nicht gar eine gewisse Verlegenheit zu bestehen, als seien sie dafür nicht so recht gewappnet oder gar nicht zuständig. Niemand wagte heute mehr ein Buch vorzulegen mit dem Titel "Die geistige Situation der Zeit" wie Karl Jaspers 1931. Das ist nicht einfach das vielgescholtene Elfenbeinturmdenken, sondern auch selbstauferlegte Askese, die aus der historischen Erfahrung des ideologischen Missbrauchs stammt.

Die folgenden Überlegungen wollen kein umfassendes Plädoyer für die Geisteswissenschaften sein. Sie sollen vielmehr der speziellen Frage gelten, wie diese, von ihren eigenen Gegenständen und Methoden her, die ihnen neu erwachsenden Aufgaben angehen, oder,

vorsichtiger, wie sie sich solchen Aufgaben gegenüber aufgeschlossen erweisen können.

Nun bin ich nicht der erste, der sich auf dieses Problemfeld begibt. In Deutschland wird darüber unter Bildungspolitikern und Philosophen seit Mitte der 80er Jahre öffentlich gesprochen, bei uns hat diese Diskussion, sporadisch und mit der üblichen Verspätung, vor kurzem eingesetzt. Ich habe die mir erreichbaren Äusserungen nach Möglichkeit konsultiert. Ebenso wichtig ist eine andere Informationsquelle: Wenn ein Geisteswissenschaftler über die Geisteswissenschaften Auskunft bekommen will, kann und muss er auch in sich selber hineinhören. Das geschieht hier, auf die Gefahr hin, dass diese Innensicht sogar überwiegt und die geisteswissenschaftlichen Schwesterfächer nicht so zu ihrem Recht kommen, wie es ihnen gebührt; dafür muss ich um Verständnis bitten.

I.

Die Verlegenheit mit den Geisteswissenschaften beginnt damit, dass man nicht mehr so recht versteht, weshalb sie so heissen. Das Wort "Geist", ein grosses Wort, hat in unserer Umgangssprache kaum mehr einen Platz. Und der Gegensatz Natur und Geist stimmt so nicht mehr. Wer wagte es, den Naturwissenschaften und gar der Natur selbst, deren weitsichtiges Funktionieren sie entdecken, nachzusagen, es mangle ihnen an Geist. In dieser Lage hilft nur, dorthin zurückzugehen, wo die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften herkommt, zu Wilhelm Dilthey. Dilthey, der übrigens kurze Zeit auch ausserordentlicher Professor für Philosophie in Basel war, 1866-68, sah sich bereits zu seiner Zeit den Naturwissenschaften als einem klaren System gegenüber, das Einzelfächer zusammenfasste, aufgrund ihres gemeinsamen Gegenstandes, der durch die Sinne beobachtbaren äusseren Natur, und gemeinsamer Methoden (Kausalitätsdenken, Experiment, Vergleich

etc.). Dilthey lag daran, auf analoge Weise auch die übrigen Wissenschaften zusammenzufassen, die er zunächst noch als "moralisch-politische Wissenschaften" bezeichnete, im Anschluss an englisch 'moral sciences', Theologie, Jurisprudenz, Philosophie, Geschichtswissenschaften, Philologien und Kunstfächer. Dass er sie schliesslich "Geisteswissenschaften"nannte, entsprang folgenden methodischen Überlegungen. In seinen Augen verband diese Wissenschaften der Umstand, dass zwischen ihren Gegenständen und den sie erforschenden Menschen zum vornherein ein innerer Zusammenhang bestehe. Wir alle tragen für Dilthey die geistigpsychischen Vermögen in uns, aus denen Religion, Recht, Gesellschaft, Philosophie, Kunst hervorgegangen sind. Deshalb kann ihre wissenschaftliche Erforschung so erfolgen, dass der Forscher sich mit seinem Gegenstand identifiziert, ihn in sich selber nacherlebt. Ein solches Erlebnis —der Ausdruck wurde durch Dilthey populär — wird der Schlüssel zum Verstehen. Der Forscher braucht sich nun nur noch selber zu beobachten, um zur Erkenntnis seines Gegenstandes zu gelangen. "Die inneren Vorgänge", sagt Dilthey, "bezeichnen wir als geistige. Von ihnen tragen die Geisteswissenschaften ihren Namen..." Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich somit für Dilthey darin, dass die Naturwissenschaften von äusseren Erfahrungen ausgehen und ihre Gegenstände erklären, die Geisteswissenschaften dagegen von inneren Erfahrungen her, aus eigenem Nacherleben, ihre Gegenstände verstehen. Zur grundlegenden Wissenschaft wurde für das letztere die Psychologie.

Diese komplexen Überlegungen kennt und teilt heute kaum mehr jemand, der von "Geisteswissenschaften"spricht. Geblieben sind der anspruchsvolle Name und das Bedürfnis, den so übersichtlich strukturierten und renommierten Naturwissenschaften etwas Analoges an die Seite zu stellen. Dabei ist heute unklar, was noch zu den Geisteswissenschaften gezählt werden soll: Nur die Fächer der traditionellen philosophisch-historischen Fakultät? Oder auch Theologie und Jurisprudenz? Und was ist mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften?

Diese Unklarheiten hängen damit zusammen, dass Diltheys Zusammenfassung der Nicht-Naturwissenschaften deren Selbstverständnis, und durchaus auch deren starkes Selbstbewusstsein, etwa bis in die Mitte unseres Jahrhunderts prägte, zugleich aber die einzelnen Fächer mehr und mehr ihre spezielle Methodik entwickelten. Nationalökonomie, Soziologie, Psychologie und Pädagogik emanzipierten sich zum Beispiel von der Philosophie, zu der sie für Dilthey gehört hatten, und bildeten als "Sozialwissenschaften" eine eigene dritte Gruppe.

In den Geisteswissenschaften im engeren Sinne, worunter ich hier und im folgenden vor allem Philosophie, Geschichte, Philologien und Kunstwissenschaften, Volks- und Völkerkunde verstehe, nahm der Einfluss der Naturwissenschaften ebenfalls zu, und zwar in verschiedener Hinsicht:

Diltheys Konzept hatte Generationen kongenialer Ausleger die Chance gegeben, mit ihrer Intuition, Begabung und Sensibilität die grossen Persönlichkeiten und Werke der europäischen Vergangenheit zu verstehen, ohne sich über ihr eigenes Tun genauere Rechenschaft zu geben. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann eine Bewegung ein, die man als "Verwissenschaftlichung" bezeichnete. Wer seither interpretiert, ist genötigt, zu reflektieren, was er tut, seine Erkenntnisinteresse und Methoden offenzulegen. Die Ergebnisse sind strenger, exakter, nachprüfbarer geworden. Das hat diesen Fächern durchaus gut getan.

Die Diltheyschule hatte ferner einen Hang zum grossen Ganzen, zu umfassenden Synthesen. Epochenstile, Gattungen, Kulturen suchte sie auf wenige Grundbegriffe zu bringen. Im Gegenzug dazu setzten nun kleinräumigere Fragestellungen ein, der Hang zur genauen Einzelanalyse und zum Spezialistentum. Statt umfassender Monographien wurde der Einzelaufsatz zur gewöhnlichen Publikationsform, oder auch Aufsatzsammlungen, sogenannte Buchbindersynthesen.

In jüngster Zeit treten auch wieder Tätigkeiten in den Vordergrund, die die Diltheyschüler als positivistisch eher geringgeschätzt

hatten: Das Erstellen von Werkausgaben, die Herausgabe von Lexika, Wörterverzeichnisse und Konkordanzen und so fort. Es versteht sich, dass diese für die Wissenschaft grundlegenden Arbeiten durch die Möglichkeiten, die die elektronische Datenverarbeitung eröffnete, grossen Auftrieb erhalten haben. Der Computer ist für die meisten Geisteswissenschaftler zum unentbehrlichen Arbeitsinstrument geworden, was ihr öffentliches Renommée spürbar hebt.

Alle diese Neuerungen lassen sich als "Verwissenschaftlichung" verstehen im Sinne einer Annäherung an die Exaktheitsforderung und Methodik der Naturwissenschaften. Das hatte auch seinen Preis: Er besteht darin, dass geistesgeschichtliche Arbeiten weitgehend aufgehört haben, für ein fachfremdes Publikum verständlich, ja interessant zu sein. Damit verloren diese Fächer die Chance, anregend und bildend in eine breitere Öffentlichkeit zu wirken, wie das die Bücher der von mir aus gesehen oberen Generation vielfach getan hatten. Die Geisteswissenschaften wurden unzugänglicher, auch diejenigen, die es wie die Kunstwissenschaften und die Geschichte von ihren Gegenständen her nicht sind. Die Vermittlung über die Fachgrenzen hinaus übernehmen im besten Falle andere, gegenüber dem breiten Publikum tun das die Medien. Kurz: Die Geisteswissenschaften arbeiten heute bewusster und genauer, haben aber darüber viel an öffentlicher Resonanz eingebüsst.

Es stand mit dieser Verwissenschaftlichung in Zusammenhang, dass schon in den 60er Jahren die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Geisteswissenschaften aufkam. Die 68er-Bewegung gab darauf eine aktivistische Antwort: ihre Funktion sei "Bewusstseinsveränderung" mit dem Ziele sozialer Umwälzungen, zum Slogan wurde das Wort des Novalis: "Die Phantasie an die Macht." Das erwies sich als Illusion. Nach dem Scheitern der 68er trat das Problem der gesellschaftlichen Relevanz der Geisteswissenschaften in den Hintergrund, bis es sich in jüngster Zeit erneut zu Wort meldete.

Unter den jüngsten Antworten auf die Frage "Wozu Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft?" löste besonders

eine lebhafte Kontroversen aus, die sogenannte Kompensationsthese. Verfochten wurde sie schon in den 60er Jahren von Joachim Ritter, neuerdings von den Philosophen Hermann Lübbe und, besonders brilliant, von Odo Marquard. Ihr Grundgedanke ist der folgende: Es ist kein Zufall, dass sich die Geisteswissenschaften historisch gesehen erst nach den Naturwissenschaften etabliert haben; denn sie antworten auf die durch Naturwissenschaften und Technik bewirkte Modernisierung unserer Welt. Diese lösen den Menschen aus seinem Herkommen und machen ihn geschichtslos, bestimmt wird er nur noch durch die jeweils aktuellen Anforderungen der Sachwelt. Diese Modernisierung und die dadurch bewirkte Entwurzelung würde der Mensch nicht aushalten können, wenn ihm die verlorene Tradition nicht auf indirekte Weise gegenwärtig gehalten würde. Und eben das sei die Leistung der Geisteswissenschaften, sie seien, so Marquard, "modemisierungsermöglichend". Indem sie die Werke der kulturellen Vergangenheit verwalteten, kompensierten sie den durch die Modernisierung bewirkten Verlust an Tradition und Geschichte. "Je moderner die moderne Welt, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften", lautet die Grundthese. Damit wäre auch erklärt, weshalb die Naturwissenschaftler, nicht ihre Wissenschaft, die Geisteswissenschaften brauchen, gegen ihre persönliche Geschichtslosigkeit. — Man sieht, Marquard verwendet als sein Argument einen paradoxen Zusammenhang, den wir aus unserem Alltag kennen: Je technischer und standardisierter unsere Umgebung wird, Wohnungen, Häuser, Städte etc., umso wertvoller wird für uns, was aus älterer Zeit stammt, es braucht nicht einmal mehr schön zu sein. Der Flohmarkt verdankt sich dieser Paradoxie ebenso wie das Nostalgietram oder der Neubau von Riegelhäusern. Die Geisteswissenschaften gehörten somit in diese Reihe. Wenn wir, um Beispiele zu geben, Homer erforschen, ein Haydn-Quartett analysieren, Rubens Stil beschreiben, den Verlauf der Reformation rekonstruieren, geschähe das, um uns und andern erträglich zu machen, dass wir von Zwängen des Berufs,

des Marktes, der Technik beherrscht sind und nicht mehr so leben können, wie es uns Eltern und Grosseltern vorgelebt haben. Wenn man die Kompensationsthese so konkretisiert, tritt ihre Unhaltbarkeit zutage. Nicht nur gilt sie bestenfalls für die historischen unter den Geisteswissenschaften, sie verwechselt den möglicherweise kompensatorischen Genuss der Kunst mit deren wissenschaftlicher Erforschung. Man muss aber nur moderne Künstlernamen einsetzen, Barnett Newman, György Ligeti, James Joyce zum Beispiel, zu denen die Wissenschaften dem Publikum überhaupt erst Zugang eröffnen, indem sie traditionelle Lese-, Hör- und Sehgewohnheiten in Frage stellen. Dann erkennt man, dass die Geisteswissenschaften ebenfalls an der Modernisierung beteiligt sind. Nicht weniger, nur auf anderem Felde als die Naturwissenschaften, tragen sie zur Auflösung und Veränderung des scheinbar Natürlichen und Selbstverständlichen bei. So trifft die Kompensationsthese zwar eine richtige Diagnose der Gegenwart, aber dem, was die Geisteswissenschaften auszeichnet, wird sie nicht gerecht.

II.

Ob man überhaupt noch von "Geisteswissenschaften"sprechen sollte? Das Wort ist eine sehr deutsche Prägung, die sich kaum in andere Sprachen übersetzen lässt. Die Engländer haben dafür "humanities" oder "human studies", die Franzosen sagen dafür "sciences humaines". Das wiederum lässt sich nicht auf deutsch wiedergeben, so schön es wäre und richtig, einfach von Humanwissenschaften sprechen zu können. Aber auch die Humanmedizin und die Mikrobiologie befassen sich mit dem Menschen. Ein neuer Vorschlag, der freilich auch einen aus der Jahrhundertwende aufgreift, geht dahin, von "Kulturwissenschaften" zu reden. Das hat viel für sich. "Kultur" meint als Gegenbegriff zu "Natur"die vom Menschen gestaltete Welt insgesamt, nach dem schönen Wort von Hofmannsthal: "Im

Innern wohnt euch allen treu ein Geist / der diesem Chaos toter Sachen /Beziehung einzuhauchen heisst /und euren Garten draus zu machen...". Der Garten als domestizierte Wildnis ist das Modell aller Kultur. Allerdings ist auch der Begriff der Kultur mehrdeutig und Missverständnissen ausgesetzt. Kultur, wie sie hier in Frage käme, meint die Gesamtheit der gemachten Lebensformen eines Volkes, einer Völkergruppe oder einer Zeit. "Zivilisation"steht dazu nicht im Gegensatz, sondern ist inbegriffen. Im engeren Sinn und alltagssprachlich bezeichnet Kultur aber nur eine Teilmenge: Schule, Kunst und Wissenschaft, neben Wirtschaft, Technik, Staat, Religion, die dem weiteren Kulturbegriff untergeordnet sind. Dieses gängige engere Verständnis von Kultur ist auszuschliessen, wenn im folgenden der Vorschlag aufgegriffen wird, dass und wie die Geisteswissenschaften Kulturwissenschaften, das heisst Wissenschaften von unserer Kultur insgesamt, anderen Kulturen und Kultur überhaupt sind, beziehungsweise sein könnten.

Eine Tendenz in dieser Richtung scheint sich seit einiger Zeit abzuzeichnen. Unter den Geisteswissenschaften hat meist eine die Rolle einer Leitdisziplin inne. Lange war es die Philosophie, in den 60er Jahren trat die Soziologie ihre Nachfolge an. Diese wurde von der Psychologie in Gestalt der Psychoanalyse und ihrer Verzweigungen abgelöst. Ohne dass diese Ausrichtungen einfach überholt worden wären, bekam darauf die Kulturgeschichte eines Norbert Elias stärkeren Einfluss, zusammen mit der französischen Diskursanalyse oder der Mentalitätsgeschichte. Wichtig ist an diesen Richtungen, dass es nicht mehr ihr erstes Ziel ist, Einzelnes zu verstehen, ein Werk, einen Künstler, sondern eine dem Einzelnen zugrundeliegende kollektive Struktur, die es erst ermöglicht. Mit dieser grundsätzlichen Verschiebung der Betrachtungsweise vom Einzelnen aufs Allgemeine, die gleich noch deutlicher werden soll, ist wie ich meine, ein entscheidender Schritt der Geisteswissenschaften hin auf Wissenschaften von Kultur getan; denn Kultur meint ja eben einen Gesamtzusammenhang, der einzelnes nicht nur ordnet,

sondern hervorbringt und trägt. Die Verdeutlichung dieser noch sehr abstrakten Überlegung möchte ich so angehen, dass ich an Beispielen herauszuarbeiten suche, in welcher Weise die Geisteswissenschaften oder doch diejenigen, mit denen ich es zu tun habe, zur Reflexion unserer Kultur beitragen, ihrer Genealogie, ihrer Gegenwart und allenfalls ihrer Zukunft.

Unter den geisteswissenschaftlichen Fächern im engeren Sinne haben die historischen besondere Bedeutung erlangt, die Geschichte mit all ihren Ausfächerungen. Auch was heute Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft heisst, nannte sich bis vor kurzem -geschichte. Wo sie Geschichte erzählen, können diese Disziplinen noch immer auf ein lebhaftes Interesse rechnen. Das ist wohl die Nachwirkung des oft schon totgesagten historischen Sinnes des 19. Jahrhunderts. Für andere freilich tragen diese Fächer gerade deshalb den Geruch des Antiquarischen an sich, des Nicht-Wissenswerten, den schon Nietzsche so scharf kritisiert hat. Worin kann der Beitrag der Geschichte —im weitesten Sinne — zum Verständnis unserer gegenwärtigen Kultur bestehen?

Darauf gibt es verschiedene Antworten. Lange galt der Leitsatz des Cicero "Historia magistra vitae", die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens, das heisst, aus der Vergangenheit kann ich erfahren, wie ich mich heute zu verhalten habe. Das ist richtig, solange man annimmt, dass sich die Menschen zu allen Zeiten gleich sind, ihre Erfahrungen sich somit wiederholen. Gymnasialaufsätze verwenden denn auch gern zur Legitimation einer Behauptung den Satz: "Schon die alten Griechen...". Im Gegensatz dazu hat in jüngerer Zeit die Auffassung an Terrain gewonnen, wonach die jeweiligen besonderen historischen Bedingungen, unter denen Menschen leben, sie so sehr prägen, dass sie unvergleichbar werden und die Vergangenheit uns nichts mehr zu sagen hat. Damit wäre umgekehrt auch unser Verständnis der Vergangenheit in Frage gestellt. Neben diesen beiden Alternativen gibt es ein drittes Konzept, das der deutsche Historiker Reinhart Koselleck und der französische

Kulturphilosoph Michel Foucault unabhängig voneinander entwickelt haben. Es besagt, dass es innerhalb der europäischen Geschichte Umbruchszeiten — ruptures — gab, in denen sich in kurzer Frist das kulturelle Gesamtgefüge neu formierte, neue Grundlagen bereitstellte, die die folgenden Generationen noch ausbauten, differenzierten, aber nicht mehr von Grund auf veränderten. Der Begriff "Paradigmenwechsel" aus der Geschichte der Naturwissenschaften stützte diese These. Die letzte solche gesamtkulturelle Weichenstellung ereignete sich nach den genannten Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, etwa 1750-1770. Koselleck spricht von dieser Zeit als "Sattelzeit". Er war von begriffsgeschichtlichen Untersuchungen her dazu gekommen. Viele Begriffe, die wir heute verwenden und die geschichtsmächtig geworden sind, Geschichte, Freiheit, Nation, Demokratie, Arbeit, Fortschritt etc. nahmen damals die Bedeutung an, die sie für uns haben. Die französische Revolution, das beginnende Maschinenzeitalter, Kants Erkenntniskritik, die Säkularisation des Christentums, die Herausbildung der modernen Familie sind die spektakulärsten Neuerungen, die damals einsetzten, so dass man sagen kann: damals begann unsere Gegenwart. Für die deutsche Literaturwissenschaft heisst das, dass Klassik und Romantik, die sogenannte Goethezeit, ihre weiterwirkende Kraft dem Umstand verdankt, dass sie dieses neuzeitliche Kulturkonzept in vielen Aspekten darstellt und diskutiert. Gewiss, man muss sich hüten, diese Sattelzeit so radikal zu denken, als wirke nicht auch Früheres bis heute weiter. Aber wir machen eben doch die Erfahrung, dass literarische Werke, die weiter zurückliegen, solche des 17. Jahrhunderts zum Beispiel, unserem Verständnis grösseren Widerstand entgegensetzen als spätere.

Aus dem Konzept der Sattelzeit um 1750-1770 ergibt sich, dass wir die Genealogie, die Herkunft unserer Gegenwart erforschen, wenn wir uns mit Persönlichkeiten, Ereignissen, Kunstwerken aus dieser und der seitherigen Zeit befassen. Wenn sie das ausdrücklich tun, leisten auch die "nur"historischen Wissenschaften somit einen

Beitrag zur Reflexion unserer gegenwärtigen gesamtkulturellen Situation.

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Eine neuere literaturwissenschaftliche Publikation (von Gerhard Kaiser, Freiburg i. Br.) trägt den provokanten Titel "Mutter Natur und die Dampfmaschine". Darin wird einleitend ausgeführt und dann in Einzelstudien gezeigt, dass sich in der Sattelzeit zwei Naturauffassungen gegenübertraten, die bis heute bestimmend geblieben sind. Die 1765 von James Watt erfundene Dampfmaschine, die die Industrialisierung ermöglichte, verdankte sich der wissenschaftlichen Naturerkenntnis seit Galilei und ihrer Indienstnahme im Sinne der technischen Beherrschung der Natur durch den Menschen. Gleichzeitig bildete sich der Mythos "Mutter Natur" heraus: "Schön ist Mutter Natur Deiner Erfindungen Pracht", dichtete Klopstock auf dem Zürichsee, und Goethe am selben Ort, 25 Jahre darauf: "Wie ist Natur so hold und gut /die mich am Busen hält."Später jubelte der Naturforscher Goethe über seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen, weil für ihn damit der Mensch aus seiner Sonderstellung befreit und in den grossen Reigen der Naturgeschöpfe aufgenommen war. "Mutter Natur" ist sichtlich die Nachfolgerin einer religiösen Vorstellung, die Gott und schaffende Natur gleichsetzte. Diese beiden Konzepte sind seither real geworden: als Steigerung der technischen Naturbeherrschung bis zur Ausbeutung, als gleichzeitige Kritik daran im Namen der Ressourcen, die uns und unsere Nachkommen am Leben erhalten, aber auch als ehrfürchtig-staunende Bewunderung, zum Beispiel für die Steuerungsprogramme, die die Molekularbiologie entdeckt. Unsere Kultur baut auf beiden Prinzipien auf. Heute kommt es, wie wir alle wissen, darauf an, die Ehrfurcht vor der "Mutter Natur" als gleichberechtigtes Prinzip gegen das der Naturbeherrschung und -ausbeutung zur Geltung zu bringen. Goethe erhält dabei —nicht nur in der Anthroposophie —die Rolle eines Kronzeugen, einerseits als Naturforscher, aber auch als Dichter. Das Wissen um diese doppelte Tradition des Naturverhältnisses

löst unsere Probleme nicht. Aber es kann dazu beitragen, beide Standpunkte ernstzunehmen und sie nicht zu Parteiparolen zu bagatellisieren. Die Entscheidung wäre, bei jedem Baum, der gefällt und jedem Stück Autobahn, das gebaut wird, nicht so schwierig, wenn es sich nicht um einen grundlegenden und damit berechtigten Konflikt handelte.

Aufgabe der geschichtlichen Fächer ist es ferner, an jene Ereignisse zu erinnern, die unsere Kultur in jüngerer Zeit traumatisiert haben, den Nationalsozialismus und den Holocaust. Man halte sie nicht für erledigt. Viele unserer kollektiven und individuellen Reaktionen und Ängste haben dort ihren Grund. Und der moralische Imperativ "Nie mehr Auschwitz" muss über unserer Zukunft stehen bleiben. Nicht abstrakt, sondern durch die Interpretation der Zeugnisse, denen er eingeschrieben ist, wie etwa dem Gedicht "Todesfuge" von Paul Celan oder, ganz anders, manchen Werken Rolf Hochhuths.

Die Geisteswissenschaften haben in den letzten 30 Jahren die Meinung gründlich revidiert, erst was der Vergangenheit angehöre, könne ihr Gegenstand werden. Das ist am deutlichsten in den Philologien zu beobachten, wo die synchrone Linguistik und die Analyse der Gegenwartssprache der historischen Sprachwissenschaft weitgehend den Rang abgelaufen haben. Das hat die Sprachwissenschaft zu neuen Nachbardisziplinen hin geöffnet, Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Anthropologie, Neurologie und Gehirnphysiologie, mit der Philosophie hat sie Sprachtheorie und Sprachkritik gemeinsam. — Die Sprachwissenschaften kommen somit dem, was Geisteswissenschaften heute als Kulturwissenschaften leisten können, besonders nahe. Das hängt aufs engste damit zusammen, dass eines ihrer Untersuchungsfelder, die Kommunikation mittels Zeichen, sprachlichen und anderen, zum fundamentalen Kulturphänomen geworden ist, das alle Bereiche durchdringt, vom persönlichen Gespräch bis zu den Medien. Würden die Kommunikationswissenschaften bei uns tatsächlich und entschiedener als bisher zu

Medienwissenschaften, auch der Filmwissenschaft, entwickelt, könnte die wissenschaftliche Kulturreflexion wohl wirksamer auf diesen unser Leben so unheimlich bestimmenden Sektor ausgedehnt werden. Es ist erstaunlich, welche Genauigkeit linguistische Medienanalysen erreichen. Sie entdecken auch, welche Faktoren ein Gespräch stören oder gar verhindern können. Das macht die Kommunikationswissenschaften hilfreich auch beim Dialog der Wissenschaften untereinander und zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Als Kulturwissenschaften werden die Geisteswissenschaften indirekt jetzt schon von jenen aufgefasst, welche ihnen vorwerfen, sie seien eurozentrisch, auf das europäische Denken beschränkt und darin befangen, ohne es zu merken. Tatsächlich kommt es darauf an, uns selbst in unserer Bedingtheit so betrachten zu lernen, als wären wir Angehörige einer fremden Kultur. Das Erkenntnisinstrument dafür ist der Kulturvergleich, wie ihn die Ethnologie verwendet, freilich einer, der ebenso auf das Eigene zielt wie auf das Fremde. Neben der Ethnologie kann sich dieser Kulturvergleich, wie mir scheint, auch auf die Altertumswissenschaften stützen; denn diese erforschen gewiss ihrer Herkunft nach die Antike primär als "Wiege des Abendlandes", daneben aber doch immer auch als Kultur eigenen Rechts, am Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, mit fremdartigen Kulten und Sitten und einem ganz anderen Sozialsystem. Und Ähnliches gilt vom Mittelalter. Wie wenig im allgemeinen das Bewusstsein unserer eigenen kulturellen Prägung im Unterschied zu fremden und vergangenen Kulturen ausgebildet ist, zeigt sich etwa daran, dass man uns die japanische industrielle Effizienz als Vorbild anpreist, ohne zu bedenken, welch grundlegend anderem kulturellem Gesamtsystem und welcher für uns unzugänglichen Mentalität sie sich verdankt. Dass wir uns im übrigen selber von aussen sehen lernen, ist von unmittelbar praktischer Bedeutung für die Toleranz im Zusammenleben mit Angehörigen anderer Kulturen, die zu uns kommen, aus Not oder, immer mehr,

durch Heirat. Da geht es dann noch nicht einmal um Reflexion auf den Euro-, sondern, dringender, auf den Helvetozentrismus.

Auf einem Feld scheinen mir die Geisteswissenschaften die Forderung, Kulturwissenschaften zu sein, bereits jetzt auf beispielhafte Weise zu erfüllen. Die Regelung der Verhältnisse zwischen den Generationen und den Geschlechtern, die Kanalisierung des darin liegenden Konfliktpotentials durch Konventionen, Sitten, Bräuche, gehört zu den vordringlichen Aufgaben jeder Kultur. Die unsere hat in der "Sattelzeit" diese Bereiche neu geordnet, mit der "Geburt der modernen Familie"(Shorter) und der Rollenverteilung von Mann und Frau vor und innerhalb der bürgerlichen Ehe. Rousseau war für letztere ein einflussreicher Propagator, dessen Echo noch aus dem Munde der Prinzessin in Goethes "Tasso"erklingt: "Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte."Diese Rollenverteilung ist gegenwärtig bekanntlich im Begriffe, neu definiert zu werden. Der unsere ganze Gesellschaft betreffende lebenspraktische Versuch wird wissenschaftlich reflektiert, als Frauen-respektiv Geschlechtergeschichte, in Untersuchungen zur Darstellung von Frauen in Literatur und Kunst, mit Analysen des Sprach- und Gesprächsverhaltens und so fort. So wurde herausgearbeitet, wie stark die bisherigen Frauenbilder männlichen Köpfen und Bedürfnissen entsprangen, und daraus der Anspruch abgeleitet, die Frauen sollten selber bestimmen, wie sie zu sein hätten. Das führt zu intensivem Nachdenken über die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur, ferner darüber, wieweit die Sprache und die Rationalität männlich oder menschlich seien. Es ist wichtig, dass diejenigen Geisteswissenschaften, die daran beteiligt sind, sich gemeinsam dieser Problematik annehmen, in einem Raum, wo sachlich, ohne Fanatismus und von Forscherinnen und Forschern gemeinsam argumentiert werden kann. Im Lichte der Sattelzeittheorie handelt es sich bei der Frauenbewegung, innerhalb und ausserhalb der Wissenschaften, um ein gesellschaftliches Experiment von grundsätzlicher Bedeutung. Es geht darum, ob das Kultursystem, das sich im ausgehenden

18. Jahrhundert etabliert hat und immer noch wirkt, ein Gehäuse ist, in dem wir gefangen sind, bis ein neuerlicher Umbruch eintritt, oder ob wir auch grundlegende Voraussetzungen in Frage stellen und neu definieren können. Die Geisteswissenschaften dürfen sich davon nicht dispensieren, wenn sie dieses Feld nicht allerhand irrationalen oder doch nicht-rationalen endzeitlichen Heilsversprechen überlassen wollen.

Das Bedürfnis, die Geisteswissenschaften als Wissenschaften von unserer Gesamtkultur zu verstehen, hat insgesamt das entscheidende Motiv darin, dass unsere Kultur an einem Punkt angelangt ist, an dem sie vor so vielen ungelösten Fragen steht, dass die Sorge allgemein geworden ist, wie es mit ihr —mit uns —weitergehen soll. Dafür ist bezeichnend, dass immer häufiger jene philosophische Disziplin zu Rate gezogen wird, von Naturwissenschaften und Öffentlichkeit, die traditionellerweise auf die Frage: Was sollen wir tun? antwortet, die Ethik. Diese steht vor der Aufgabe, die Probleme, die Naturwissenschaften, Technik, Industrie und nicht weniger die kollektive Mentalität bei der Beförderung des allgemeinen Wohlergehens geschaffen haben, einerseits an den Normen und Werten zu messen und zu beurteilen, die unserer Kultur zugrunde liegen, und andererseits, das ist das Neue, im Hinblick auf die Solidarität mit den kommenden Generationen neue Kriterien zu entwickeln.

In dieser kritischen Situation ergeht oftmals an die Geisteswissenschaften der Ruf nach neuer Sinnstiftung, also darnach, unserer pluralistischen, von vielen divergierenden Interessen bestimmten Kultur wieder eine einheitsstiftende, für alle bindende Idee zu geben, die — so scheint es dem Fernblick —bis zur "Sattelzeit" in der christlichen Überlieferung bestanden hatte, eine Idee, von der aus auch wieder eine deutliche Scheidung von Gut und Böse möglich würde. Darauf ist mit Entschiedenheit zu erwidern, dass die Geisteswissenschaften damit überfordert sind. Sie können keine neue Heilsidee hervorbringen, ja sie dürfen es nicht einmal wollen. Es gilt, die "transzendentale Obdachlosigkeit"auszuhalten, so schwer

uns das fallen mag. Dieser Ausdruck wurde 1916 von Georg von Lukács geprägt, der dann später, auf der Suche nach neuem Sinn, zu einem der führenden marxistischen Denker wurde. Es darf uns auch nicht aus dem Gedächtnis kommen, wie anfällig gerade manche Vertreter der Geisteswissenschaften für den Nationalsozialismus waren, Germanisten, Volkskundler, Historiker, weil sie glaubten, nun würden ihre Wissenschaften zu sinnstiftenden Lenkkräften des Lebens. Gegen alle solche Versuchungen besteht der Einwand, dass jedes Erkennen und jeder Sinn perspektivisch und damit partikular ist. Keine Einsicht darf den Anspruch auf letzte Verbindlichkeit erheben, wo das geschieht, lauert der Totalitarismus. Das Abrücken vom Ausdruck Geisteswissenschaft kann gerade auch den Sinn haben, solche Heilserwartungen abzubauen.

Wo es um die Formulierung von Erwartungen gegenüber den Geisteswissenschaften geht, taucht sehr oft ein bescheideneres Wort auf, "Orientierung". Das deutet, wie jeder so häufig gebrauchte Ausdruck, auf einen akuten Mangel des damit Bezeichneten hin, auf eine desorientierte Welt. Das mag jetzt zusätzlich auch damit zusammenhängen, dass das "Universum des Kalten Krieges" zusammengebrochen ist, das jahrzehntelang unser Denken "orientiert" hat.

Wie aber können die Geisteswissenschaften Orientierung geben, da diejenigen, die sie vertreten, ja ebenfalls der in so vieler Hinsicht ratlosen Welt angehören? Wie können sie einen positiven Beitrag leisten, obwohl sie gegenüber Proklamationen allgemeinverbindlicher Ziele für die gesamte Kultur unbedingte Abstinenz üben müssen?

Was sie geben können, ist lediglich, aber immerhin, was ihre Gegenstände an strukturierender Kraft enthalten, die Texte- und Kunstwerke zumal, deren Auslegung nach wie vor zu ihren vornehmsten Aufgaben gehört. Dem Begehren nach Orientierung können wir diejenige vermitteln, die in den bedeutenden Werken enthalten ist, aus Philosophie, Dichtung, bildender Kunst, Architektur, Musik. Sie wirken allein schon durch das, was Jacob Burckhardt die Königsmacht

des Formulierten über das Nichtformulierte genannt hat. Nicht, dass das Formulierte einfach akzeptiert werden müsste. Aber in der Auseinandersetzung damit kann das Ungeordnete Richtung und Klärung gewinnen.

Nun ist allerdings nicht unbestritten, ob die Geisteswissenschaften legitime Sachwalter der grossen Werke sind. Ein vehementer Kritiker (Georges Steiner) sprach jüngst geradezu vom "Untergang des Humanismus in den Geisteswissenschaften". Den Grund dafür sieht er darin, dass die grossen Werke durch die unübersehbare Sekundärliteratur zerredet, zugeschüttet und um ihre letztlich —wie er meint —göttliche Präsenz gebracht werden. Er entwirft dagegen das utopische Bild einer Gesellschaft, "in der jedes Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten" wäre "als illegales Geschwätz". Von den Kunstwerken selbst, nicht von ihrer wissenschaftlichen Interpretation hätte allein jene orientierende Wirkung auszustrahlen. Es bliebe dann freilich beim stummen Betroffensein.

Es trifft zu, dass keine Interpretation je das Werk, dem sie gilt, ausschöpfen oder gar ersetzen kann. Deshalb ist die Auslegung selbst eines kurzen Gedichts ein unabschliessbarer Prozess, kann es immer aufs neue Gegenstand der Forschung werden. Aber die Auslegung hat zum Ziel, es nicht bei der stummen Betroffenheit zu belassen, sondern diese in geordnete Sprache zu übersetzen und damit kommunizierbar zu machen. So eben wird die orientierende Kraft entbunden und weitervermittelt, die in den Werken steckt. Erst recht über das blosse Ergriffensein hinaus führt die Anstrengung, das Ausgelegte auf die Lebenswirklichkeit des Auslegers zu beziehen, es anzuwenden.

Das soll ein einfaches Beispiel verdeutlichen, eine Interpretations- und Anwendungsskizze von Dürrenmatts allbekanntem Stück "Der Besuch der alten Dame", auch als kleine Hommage an diesen grossen Autor. Diese "tragische Komödie" handelt davon, dass eine reiche Frau, Claire Zachanassian, in ihre Heimatstadt Güllen zurückkehrt, um sich an ihrem früheren Geliebten zu rächen, der

sie mitsamt ihrer beider Kind hatte im Elend sitzen lassen, um einer besseren Partie willen. Die verarmten Güllener wehren sich mit hochtönenden Worten dagegen, für eine Subvention von einer Milliarde Ill zu töten, wie Claire Zachanassian es ihnen anbietet, fangen aber doch alle an, jeder auf seine Weise, auf Kredit zu leben. Schliesslich machen sie sich, verschuldet wie sie sind, kein Gewissen mehr daraus, Ill, im Beisein des Fernsehens, umzubringen und die Milliarde entgegenzunehmen.

Anhand dieser grotesken Handlung baut das Stück eine Modellwelt auf, ein auf wesentliche Züge reduziertes Bild der grossen. Drei Schichten lassen sich darin unterscheiden: Zum einen diejenige der tragenden europäischen Werte, die die Güllener im Munde führen: Humanität, soziale Gesinnung, Mitgefühl mit allem Kreatürlichen, Rechtsstaatlichkeit, Christentum. Diese Ideen treten zunehmend in Widerspruch zu einer zweiten Schicht, dem Streben nach Wohlstand, Wohlergehen, Glück und Schönheit, die schliesslich dominiert. Der auslösende Handlungskonflikt aber geht von einer dritten Schicht aus: auf Seiten der Frau sind es Liebe, Verzweiflung, schliesslich Rache von urtümlicher Macht, auf der Seite des Mannes Liebesverrat, Angst, Schuld und Anerkennung einer innersten göttlichen Instanz.

Die Orientierung, zu der uns diese erdichtete Modellwelt verhilft, besteht zunächst darin, dass sie unseren Blick schärft für die Widersprüche und Interferenzen, die in unserer Realität zwischen diesen drei Sphären bestehen. Das Stück sät Misstrauen gegenüber den grossen Worten von uns Festrednern, sensibilisiert aber auch für die Widersprüche mit uns selbst, in die wir, als einzelne und insgesamt, unversehens geraten. Wie sie zu vermeiden wären, sagt es nicht. Dabei tut das Stück durch seine formale Gestalt alles, damit man es nicht mit der Realität verwechselt, sondern als hypothetisches Modell nimmt. Die in der "Alten Dame" dargestellte Modellwelt ist schliesslich ihrerseits orientiert, und zwar christlich. Aber das Heil hat sich ganz aus dieser Welt zurückgezogen, der Pfarrer lässt

sich ebenso korrumpieren wie alle andern Güllener. Und in Claire Zachanassian siegt schliesslich eine an die antike Medea gemahnende archaische Rache. Einzig darin, dass Ill nicht flieht, sondern eine Umkehr durchmacht und schliesslich als gerechtes Urteil für seine ihm bewusst gewordene Schuld annimmt, was die Güllener aus reinem Opportunismus ihm antun, ist noch ein christlicher Schwundrest erkennbar. Die in dieser Modellwelt steckende orientierende Hypothese geht also dahin, dass in unserer Welt das Christentum als verlorenes, verbrauchtes, aber in uns selbst nachwirkendes weiterlebt, was es uns erlaubt, die Widersprüche zwischen Moral und Realität zu erkennen. Dürrenmatts Welt ist insgesamt eine nachchristliche Welt. Man braucht die hier diesem Stück zugeschriebene Hypothese nicht zu übernehmen, aber auch der Widerspruch dazu, ja schon das Nachdenken darüber ermöglicht Orientierung in den Lebensbereichen, auf die es anspielt.

So etwa meine ich, und höchstens so, kann die Orientierung aussehen, die die Geisteswissenschaften zu leisten im Stande sind. Aber damit sorgen sie dafür, dass wir nicht in den Alltäglichkeiten den Kopf verlieren.

III.

Die gegenwärtige Diskussion um die Aufgabe der Geisteswissenschaften erfolgt unter einem Legitimationsdruck, der von drei Seiten herkommt: von den Naturwissenschaften, die darnach verlangen, die Ergebnisse ihrer Forschungen und deren mögliche Konsequenzen in grösseren Zusammenhängen diskutieren zu können; von den hochschulpolitischen Instanzen verschiedener Stufe, die ihre Mittel zielgerecht einsetzen wollen; schliesslich, wenn auch meist unausgesprochen, von der Öffentlichkeit. Damit ist zugestanden, dass die betroffenen geisteswissenschaftlichen Fächer selbst bisher die Frage nach ihrer Relevanz seit längerem nicht mehr als dringlich empfunden

haben. Sie waren und sind sicher, dass, was sie tun, in Lehre und Forschung, sinnvoll ist.

Das hat wohl damit zu tun, dass sich, inselhaft, in manchen Geisteswissenschaften, tatsächlich und nicht nur als Ideologie, das Universitätskonzept hat halten können, das wir mit Wilhelm von Humboldt und der Berliner Universitätsgründung von 1810 verbinden. Im Mittelpunkt dieses Konzeptes stand der später vielumstrittene Begriff der "Bildung" als Ziel des Universitätsstudiums, ein Begriff übrigens, der ebenfalls aus der "Sattelzeit" stammt, wie der eng zu ihm gehörige der "Individualität". Er besagt, dass der einzelne in seiner Besonderheit seine Anlagen entfalten soll durch die zweckfreie Beschäftigung mit Gegenständen der Wissenschaft. Zweckfrei — das heisst, dass das Studium nicht in erster Linie auf bestimmte Berufe vorbereiten soll. Ziel ist mehr die Aneignung von Fähigkeiten anhand von Kenntnissen und, wie man zusammenfassend gesagt hat, "das individuell geprägte, in der Beschäftigung mit Kulturgütern entwickelte Vermögen der wertenden Unterscheidung und der ordnenden Synthese" (Rudolf Vierhaus). Dazu kommen Selbständigkeit des Urteils, Unabhängigkeit des Entscheidens, Flexibilität in der Einstellung auf Neues.

Reste des Humboldtschen Konzepts mit seinen Leitwörtern "Einsamkeit und Freiheit" haben sich in manchen Geisteswissenschaften auch erhalten in der im Vergleich mit anderen Fächern grösseren Freiheit zu individueller Studiengestaltung, sowohl im Zusammenstellen wie in der Dauer des Curriculums. Selbstorganisation und Selbstdisziplin, die das vom einzelnen Studenten und der einzelnen Studentin verlangt, erweisen sich als wichtige Bildungsfaktoren. Geisteswissenschaftliche Fächer werden von vielen, die sie studieren, gerade wegen dieses für die Eigengestaltung offenen Freiraums und wegen der Möglichkeit, mit der eigenen geistigen Kreativität zum Zuge zu kommen, gewählt. Der von diesen Fächern ausgehende Bildungsanspruch bewirkt wohl auch, dass die Studierenden oft kritischer sind, sensibler für Einschränkungen der noch

verbliebenen Studienfreiheit. Das oft erhebliche Leiden, das damit einhergeht, soll aber auch nicht verschwiegen werden.

Seit Humboldt steht "Bildung" in Spannung zur "Ausbildung" auf bestimmte Berufe. Dass manche Geisteswissenschaften auch Lehrer ausbilden, ist höchst sinnvoll, doch ihre Existenzberechtigung als Wissenschaften leitet sich nicht von da her. Das heisst auf der anderen Seite keineswegs, Bildung sei Selbstzweck. Für Humboldt sollte sie, in der Krisensituation, in der sich Preussen damals nach seinem Zusammenbruch befand, junge Leute dazu befähigen, Staatsämter zu übernehmen und sie verantwortungsvoll zu führen. Das findet heute darin eine Entsprechung, dass die Absolventinnen und Absolventen eines geisteswissenschaftlichen Fachstudiums oftmals Tätigkeiten übernehmen, wo die allgemeinen Fähigkeiten des Abwägens, Konzipierens, Entscheidens, die sie sich erworben haben, Verwendung finden, meist nach einer kurzen berufsspezifischen Zusatzausbildung. Wer Geisteswissenschaften studiert hat, sollte sich zum Generalisten eignen.

Das Konzept der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften steht dazu nicht im Widerspruch. Wohl aber könnte es geeignet sein, in diesen Fächern eine klarere und weitere Ausrichtung zu geben. Es beantwortet die Frage nach ihrem überpersönlichen Sinn, für sie selbst, für die anderen Wissenschaften und vor der Öffentlichkeit; auch der Planung und Förderung gibt es zusätzliche Gesichtspunkte an die Hand. Die aktuelle Aufgabe der Geisteswissenschaften bestünde demnach darin, von ihren Einzeldisziplinen her und im Gespräch mit den anderen Wissenschaften, erinnernd, problematisierend, weiterfragend beizutragen zur denkenden Erhellung der Situation der Zeit. Denn was sonst vermöchte uns weiterzubringen als, in seiner vielfältigen Gestalt, das Denken.

Literatur

Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, hrsg. von Bernhard Groethuysen. Stuttgart/Göttingen 1959 4. Gesammelte Schriften Bd. 1.

Iso Camartin, Die Geisteswissenschaften — Relikt der Vergangenheit oder Rezept für die Zukunft? in: Wissenschaft und Forschung, Wissenschaftspolitik 1991 (Beiheft 50).

Manfred Eigen et al., Die Idee der Universität. Versuch einer Standortbestimmung. Berlin/Heidelberg 1988.

Rüdiger Gast (Hrsg.), Rolle und Zukunft der Geisteswissenschaften. München 1988.

Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. in: O.M., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986 (Reclam UB 8351).

Jürgen Mittelstrass, Glanz und Elend der Geisteswissenschaften. Oldenburg 1989 (Oldenburger Universitätsreden 27).

Wolfgang Prinz/Peter Weingart (Hrsg.), Die sogenannten Geisteswissenschaften. Innenansichten. Frankfurt a.M. 1990.

Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. in: J.R., Subjektivität. Frankfurt a.M. 1974 (Bibliothek Surkamp 379)

Andre Schneider et al., Die Zukunft der Geisteswissenschaften /L'avenir des sciences humanes. Wissenschaftspolitk 1989 (Beiheft 45).

Beat Sitter, Stunde der Geisteswissenschaften? in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 183, S. 19, 10. August 1991.

Wozu Geisteswissenschaften? Kursbuch 91, Berlin 1988.