SACERDOTIUM —IMPERIUM —STUDIUM
Die Universität im Spannungsfeld der Kräfte
Welches ist der Ort der Universität im Spannungsfeld der Kräfte und
Institutionen, die die menschliche Gemeinschaft prägen und bestimmen?
Die Frage ist so alt wie die Universität selbst, und die Antworten, die im
Laufe der Geschichte gegeben wurden, sind unterschiedlich, je nach dem
Weltbild und den Interessen derer, die sie formulierten.
Ein eindrückliches Bild hat gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Italien
der Kölner Kanonikus Alexander von Roes entworfen. Er beschrieb das
christliche Abendland als ein Haus. Als Fundament galt ihm das sacerdotium,
das Papsttum, das den katholischen Glauben verwaltet. Die Wände sah
er im imperium, dem Kaisertum, das den Glauben beschützt. Und das Dach
bildete das studium, das Studium der Wissenschaften, das die Gründe des
Glaubens bedenkt.
Auffällig an diesem Bild ist nicht das Streben nach einer übergreifenden
Ordnung der Welt —oder zumindest Europas —, auch nicht die Gründung
dieser Ordnung im römischen Glauben. Beides entspricht den Grundzügen
des Denkens im Mittelalter. Auffällig ist vielmehr, welch hoher Rang in
diesem Weltgebäude dem studium zugemessen wird, und dies schon bald
nach der Entstehung der ersten Universitäten in Bologna und Paris: Als
Dach liegt das studium über Kirche und Staat, über jenen beiden Gewalten,
die die Geschichte des Mittelalters bisher ausschliesslich bestimmten, oft
genug auch im gegenseitigen Streit um die Vorherrschaft in der Welt. Und
Alexanders Konzept machte Schule: Für den ganzen Rest des Mittelalters
wurde die Trias von sacerdotium, imperium und studium zur prägenden
Formel für die entscheidenden Kräfte des christlichen Abendlandes, für das
geistige Haus Europas.
Diese herausragende Positionierung des Studiums setzte der Universität
nicht nur ein hohes Ziel, sie stellte sie auch mitten hinein in das Spannungsfeld
der Kräfte.
Was besagt diese Sicht der Dinge, und was ist aus ihr im Laufe der
Geschichte geworden? Welches war das weitere Geschick der Universität
im Spannungsfeld der Kräfte? Ich lade Sie ein zu einem kurzen Gang durch
die Geschichte dieser Thematik, mit einem besonderen Blick auf die markantesten
Wendepunkte.
I.
Die Sonderstellung, die Alexander von Roes der Universität gegenüber dem
Staat und der Kirche zumass, hatte durchaus ihren historischen Grund.
Bekanntlich wurden die ersten Universitäten, in Bologna und Paris, wie
auch diejenigen von Oxford und Cambridge, nicht eigentlich «gegründet»,
weder von der Kirche noch vom Staat. Sie erwuchsen vielmehr, auf der
Grundlage bereits bestehender Gelehrsamkeit und früherer Schulen, aus
dem freien Zusammenschluss von Magistern und Scholaren zur gemeinsamen
Exegese und Disputation prominenter Lehrmeinungen. Auch wenn ihr
erstes Ziel nicht die Berufsausbildung war und sie Studien betrieben, die nur
begrenzt von praktischem Nutzen waren, wurden sie doch bald zu dem Ort,
an dem sich Juristen, Theologen und Mediziner ihr Rüstzeug holten. Obwohl
auf Kirche und Staat angewiesen, organisierten sie sich, ihrer spezifischen
Zielsetzung entsprechend, in bewusster, auch kritischer Unterscheidung
von Kirche und Staat, als eigenständige, korporativ strukturierte
Einheit, als universitas, als Gemeinschaft von Magistern und Scholaren, als
Universität.
Damit trat die Universität schon in ihren Anfängen in ein eigenartig
dialektisches Verhältnis zu den beiden dominierenden Gewalten jener Zeit.
Das zeigte sich sehr bald an der Universität Paris.
1229 kam es in Pans zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der
Universität und der Bürgerschaft. Die Magister und Scholaren verliessen
die Stadt. Der Papst, Gregor IX., griff ein und mahnte den französischen
König zur Beilegung des Konfliktes. Denn Frankreich bedürfe neben der
Macht seiner Ritterschaft und der Güte seiner Fürsten auch der Weisheit und
Gelehrsamkeit des Klerus. Ohne diese Weisheit würden sowohl Macht wie
Güte ihre Wirksamkeit verlieren. Und Ludwig IX. bewog die Universität,
wieder nach Paris zurückzukehren.
In diesem Pariser Universitätsstreit erwiesen sich Papst und König als die
Schirmherren gerade der selbständigen Universität, als die Garanten dafür,
dass sich das Studium der Wissenschaften ungestört entfalten kann. Das
studium ist nicht nur das Dach über Papsttum und Kaisertum, es ist gleichzeitig
ein Schatz, der selbst der Protektion bedarf, weil es dem Staat und der
Kirche dient und beiden zugutekommt.
Erste UniversitätenDas ist der Grund dafür, dass Staat und Kirche für die Universität sorgten,
ihre eigenständige Organisation anerkannten und sie mit kaiserlichen und
päpstlichen Privilegien ausstatteten, mit eigenem Recht und eigenen Ressourcen.
Doch was gilt, wenn das Studium bei Staat oder Kirche Anstoss erregt?
1210 wurde in Paris die Lektüre des «heidnischen» Aristoteles untersagt,
und 1277 erliessen die kirchlichen Instanzen ein Verdammungsurteil über
219 Thesen, zahlreichen Quellen entnommen, darunter auch Werken des
erst drei Jahre zuvor verstorbenen einflussreichen Thomas von Aquin.
Wo das Dach der Wissenschaften, deren Aufgabe es wäre, den Glauben
zu verteidigen und die Irrlehren der Ketzer zu bekämpfen, selber als
Gefährdung des christlichen Weltbildes erscheint, glaubten Staat und Kirche
gezwungen zu sein, einzugreifen und die rechte Ordnung zu bewahren.
Das Dilemma ist gegeben: Die Autonomie der Wissenschaft und der
Universität, die der Protektion durch Staat und Kirche bedarf, gerät mit
ebendiesen Instanzen in Konflikt über die Aufgabe und Funktion der
Universität. Dieses Spannungsfeld hat die Universität in ihrer ganzen
weiteren Geschichte begleitet.
II.
Im Unterschied zu Bologna und Paris, aber auch zu Oxford und Cambridge,
sind die ältesten Universitäten des deutschen Sprachraumes obrigkeitliche
Gründungen, durch Fürsten oder Städte errichtet. Dennoch folgten sie in
Struktur und Arbeitsweise dem Vorbild von Paris. Für sie alle wurden
päpstliche Stiftungsbriefe eingeholt. Alle wurden mit Renten und Liegenschaften
ausgestattet; weltliche und geistliche Instanzen gingen dabei Hand
in Hand. Belassen wurde ihnen, inzwischen selbstverständlich geworden,
die in Bologna und Paris gewachsene korporative Autonomie.
Die neue Trägerschaft der Universität führte zu mindestens zwei neuen
Polaritäten: Zum einen bahnt sich die Spannung an zwischen dem zunehmenden
staatlichen Interesse an der Universität und der nach wie vor
unbestrittenen Autonomie der Universität. Zum andern beginnen sich die
Wege der deutschen und der angelsächsischen Universitätstradition zu
trennen, indem die angelsächsische Universität die Form der selbständigen
Stiftung bewahrte.
Die deutsche Tradition schritt auf ihrem Weg konsequent weiter. Von der
Mitte des 15. Jahrhunderts an begann fast jeder grössere deutsche Landesherr,
eine eigene Universität zu errichten. Das Hauptinteresse galt
allerdings nicht mehr der Wissenschaft, sondern der Ausbildung der Beamten
im eigenen Land, der Juristen, Pfarrer und Lehrer, und, seit der Kirchenspaltung,
auch im eigenen Bekenntnis.
Die Zahl der Universitäten stieg, und die Universität wurde zur Schule,
eingegliedert in den frühmodernen Verwaltungsstaat. Ein engmaschiges
Deutscher Sprachraum
Netz staatlicher Aufsicht und Überwachung legte sich über sie. Eingriffe
der Landesherren in die Universität wurden zur Regel; politische, konfessionelle
und zunehmend auch fiskalische Gründe griffen zwanglos ineinander.
Die Kirche brauchte nicht eigens zu agieren; im Zeitalter des Staatskirchentums
hatte der Staat auch sie umklammert, und die Landesherren
vertraten auch deren Interessen. Die Universitäten wurden zu Provinzhochschulen,
die Ausbildung verdrängte die Wissenschaft. Die Universität war
verstaatlicht —mit einschneidend negativen Folgen für die Universität. Der
Staat hatte das ganze Haus Alexanders usurpiert.
III.
Ein nächster Schritt vollzog sich im Zeitalter der Aufklärung. Die Dominanz
der Tradition wurde verworfen —zugunsten der Autonomie der Vernunft.
Die Universitäten sprengten die bisherige Form der Wissenschaft als
Auseinandersetzung mit der Tradition und brachen auf, mit Berufung auf
das Licht der eigenen Vernunft, nun selbst Wissenschaft zu entwickeln. An
die Stelle der Disputation traten das Laboratorium, das Institut, die Klinik
und das Seminar. Die «akademische Freiheit der Lehren», seit dem Humanismus
und der Reformation gefordert, wurde zum grundlegenden Postulat,
prominent vertreten von Christian Wolff, dem «Fürsten der Aufklärung»,
von dem die deutsche Universität jener Zeit massgeblich geprägt wurde.
Wolff selbst schränkte allerdings die «Freiheit der Lehren» noch ein:
«soweit diese nicht wider Gott und den Staat sind». Dass es jedoch gerade
um diese Einschränkung zum Konflikt kommen musste, war unvermeidlich,
und dieser Konflikt war nicht zuletzt innerhalb der Universität auszutragen.
Auf den Begriff gebracht hat dies Immanuel Kant in seiner Schrift über
den «Streit der Facultäten» (publiziert 1798).
Nach wie vor entsprach der Aufbau der Universität dem ursprünglichen
Muster der Pariser Universität: Den drei «oberen» Fakultäten, der theologischen,
der juristischen und der medizinischen, stand die philosophische als
die «untere», als die propädeutisch-grundlegende Artisten-Fakultät gegenüber.
Gerade im Blick auf die zur Ausbildungsstätte gewordene Universität
deckte Kant nun auf, wie «unfrei» ausgerechnet die «oberen» Fakultäten
geworden waren. Sie hatten das zu pflegen, wofür sich der Staat direkt oder
indirekt verantwortlich fühlte: das ewige Wohl (in den Händen der Theologen),
das bürgerliche Wohl der Glieder der Gesellschaft (in den Händen der
Juristen) und das leibliche Wohl (in den Händen der Mediziner). Und der
Staat gab den Fakultäten —wie Kant formulierte: «statutarisch» —vor, was
zu behandeln war: der Theologie in der Form der Bibel, der Rechtswissenschaft
in der Form des Landrechtes, und der Medizin in der Form der
Medizinalordnung.
AufklärungMit diesen «Berufs»-Fakultäten muss die philosophische Fakultät in
Streit geraten. Denn die ersten drei Fakultäten klammern gerade das aus,
was das Grundthema der vierten ist: Die Frage nach der Wahrheit und der
Vernünftigkeit der Lehren. Um der kritischen Frage nach der Wahrheit der
Lehren willen muss die philosophische Fakultät, die ihrer Natur gemäss frei
von staatlichen Vorgaben ist, mit den ersten drei in diesen Streit eintreten.
Denn auch die sogenannt «oberen» Fakultäten haben sich dem Anspruch
der Wahrheit und der Vernunft zu stellen. «Auf diese Weise», so Kant,
«könnte es wohl dereinst dahin kommen, daß die Letzten die Ersten (die
untere Fakultät die obere) würden».
Angegriffen waren damit allerdings nicht nur die oberen Fakultäten,
sondern auch der Staat, der diese nicht nur strukturell, sondern auch
inhaltlich bestimmte. Das musste Kant sogar persönlich erfahren, indem
ihm der Staat die Publikation seiner Stellungnahme zunächst verbot.
Um ihrer Aufgabe willen muss sich die Universität auch gegenüber dem
Staat behaupten.
IV.
Nur wenige Jahre nachdem die Publikation dieser Schrift Kants doch
möglich geworden war, entwarf Wilhelm von Humboldt sein Berliner
Universitätsmodell. Doch diese wenigen Jahre hatten einschneidende Umwälzungen
gebracht: die Französische Revolution und den Zusammenbruch
des Ancien Régime. Der Staat erklärte sich als weltanschaulich
neutral. Im Zuge der nun aufbrechenden geistigen Erneuerung kam der
Neugestaltung des Bildungswesens eine hervorgehobene Bedeutung zu.
Bezüglich der Universität waren mindestens drei Probleme zu lösen:
Erstens galt es, den von Kant artikulierten Streit der Fakultäten zu überwinden,
d. h. dem aufgeklärten Denken in der ganzen Universität zum Durchbruch
zu verhelfen. Zweitens war der schulmässig erstarrte Lehrbetrieb der
Universität zu reformieren, von der Lehre im Sinne der doctrina war
definitiv Abschied zu nehmen und die Wissenschaft als Forschung zu
konzipieren. Und drittens ging es darum, die neuzeitliche, aus der Vormundschaft
des Staates entlassene Wissenschaft in einer Weise zu institutionalisieren,
dass deren sachnotwendige Autonomie nicht wieder neu
gefährdet wird, weder durch Befehle der staatlichen Obrigkeit noch durch
die vorschnelle Frage nach der unmittelbaren Nützlichkeit der wissenschaftlichen
Arbeit.
Bekannt ist, wie Humboldt die ersten beiden Probleme anging: mit dem
Konzept der Einheit von Wissenschaft und Aufklärung, der Einheit von
Wissenschaft und Bildung und, damit verbunden, der Einheit von Forschung
und Lehre. «Universität» ist die Universität nicht mehr nur als
universitas magistrorum et scholarium, sondern auch als universitas litterarum.
HumboldtDies braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Herausgegriffen sei
nur ein Aspekt, der dann zum dritten Problemkreis führt, dem Verhältnis
zwischen der öffentlichen Institutionalisierung und der inneren Freiheit der
Wissenschaft.
In Abkehr vom universitären Schulbetrieb im Zeitalter der Aufklärung
wie auch im Gegensatz zu der in Frankreich 1802 vollzogenen Auflösung
der Universitäten in staatlich gelenkte Fachschulen liegt für Humboldt das
Ziel der Universität nicht in der Ausbildung, sondern in der Bildung — in
dem von ihm entworfenen umfassenden Sinn des Wortes. Die Universität
dient nicht zuerst dem Staat oder der Kirche und ihren Beamten, sondern —
aufgrund der wahren Vernunft — der höchsten Bildung der Kräfte des
einzelnen Menschen zu einem Ganzen, und «zu dieser Bildung ist Freiheit
die erste, und unerlässliche Bedingung».
Von der Bildung seiner Bürger profitiert auch der Staat. Doch wie der
Staat zwar Religionsgesetze erlassen kann, für wahre Religiosität aber
unzuständig ist, gilt für Humboldt gegenüber der Universität Entsprechendes:
Der Staat kann geistiges Leben nicht bewirken, im Gegenteil: der Staat
ist «immer hinderlich..., sobald er sich hineinmischt». Wohl hat er die
Pflicht, die äusseren Formen und Mittel bereitzustellen, doch auch gerade
das kann der Wissenschaft schädlich werden. Darum muss der Staat —nach
den Worten Humboldts — immer das innere Wesen der Universität vor
Augen haben, «um gut zu machen, was er selbst, wenngleich ohne seine
Schuld, verdirbt oder gehindert hat». Und worin besteht das innere Wesen
der Universität? Humboldt formuliert: «Was man ... höhere wissenschaftliche
Anstalten nennt, ist, von aller Form im Staate losgemacht, nichts
Anderes als das geistige Leben der Menschen, die äußere Muße oder
inneres Streben zur Wissenschaft und Forschung hinführt.»
Dieses Ideal verwirklicht sich am reinsten in der Akademie der Wissenschaft,
die es «rein nur mit der Wissenschaft an sich zu thun» hat und die
darum vom Staat als «am meisten unabhängige Corporation festgehalten
werden» muss.
Da im Unterschied zur Akademie die Universität immer auch eine
Ausbildungsfunktion zu erfüllen hat, kommt ihr gegenüber dem Staat auch
nach Humboldt eine etwas weitergehende Rolle zu: Durch die Wahl der
Professoren hat er für Stärke und Mannigfaltigkeit an geistiger Kraft und für
die Freiheit ihrer Wirksamkeit zu sorgen. Dies darum, weil der Freiheit
nicht nur von seiten des Staates Gefahr droht, «sondern auch von den
Anstalten selbst, die, wie sie beginnen, einen gewissen Geist annehmen und
gern das Aufkommen eines anderen ersticken». Doch Humboldt unterstreicht:
Auch das muss sich in Grenzen halten. Vor allem darf der Staat
seine Universitäten weder als Gymnasien noch als Spezialschulen halten.
Er darf von ihnen nichts fordern, was sich «unmittelbar oder geradezu» auf
den Staat bezieht, er muss vielmehr «die innere Überzeugung hegen, daß,
wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von
einem viel höheren Gesichtspunkte aus erfüllen».
Bezüglich der Universität ist das Interesse des Staates dem der Wissenschaft
unterzuordnen, jener Wissenschaft, die «als etwas noch nicht ganz
Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig...
als solche zu suchen» ist. Diese Wissenschaft bedarf nicht nur der Freiheit
der Lehre, sondern auch der Freiheit ihrer inneren Organisation.
Im geistigen Haus Europas soll die Universität wieder ihren eigenen
Frei-Raum erhalten —ähnlich wie die Kirche im Gefolge des Liberalismus
aus der staatskirchlichen Umklammerung wieder in die ihr zukommende
eigene Freiheit entlassen wurde.
V.
Durchaus zu Recht gilt Humboldt als der Begründer der modernen Universität.
Dennoch steht er noch vor dem wohl einschneidensten Vorgang der
Moderne. Im Blick auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte steht er noch vor
der Industrialisierung und den mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Umbrüchen,
und im Blick auf die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte steht
er noch vor dem Übergang vom Idealismus zum Positivismus.
Diese Wende, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, war ebenso
einschneidend wie folgenreich. Nicht mehr das «reine Denken» der Aufklärung
und des Idealismus wird als die höchste Form der Erkenntnis angesehen;
nach der neuen Sicht der Dinge vollzieht sich wirkliche Erkenntnis
vielmehr aufgrund der inneren und äusseren Wahrnehmung des tatsächlich,
«positiv» Gegebenen. Das Denken wird gleichsam operationalisiert: Es hat
nicht mehr nach der ideellen Einheit der Wirklichkeit zu fragen, sondern
bekommt die Aufgabe, die «Tatsachen» zu ordnen und zu systematisieren —
um so mit der Wirklichkeit produktiv umgehen zu können.
Prägnant auf den Begriff gebracht wurde dieses neue Wissenschaftsverständnis
von Auguste Comte. Echtes Wissen ist nach Comte die
durch Erfahrung gewonnene Einsicht in die unwandelbare Gesetzlichkeit
der Wirklichkeit. Das Ziel solch positiver Wissenschaft ist allerdings nicht
die blosse Feststellung von Fakten, sondern, aus der Einsicht in die Gesetze
der Wirklichkeit, die Voraussage: «le véritable esprit positif consiste surtout
à voir pour prévoir.» Der Zweck positiver Wissenschaft ist nicht «die
Befriedigung steriler Neugier, sondern die Verbesserung der Lebensbedingungen».
An die Seite des humanistischen Konzepts von Wissenschaft, in der der
gebildete Mensch im Zentrum stand, tritt nun ein «technisches» Verständnis
von Wissenschaft, in dem die Frage nach dem produktiven Umgang des
Menschen mit der Wirklichkeit in den Vordergrund rückt. Gleichzeitig wird
dadurch die Wissenschaft auf Themen ausgerichtet, die in zunehmendem
Masse auch die Industrie und die Wirtschaft beschäftigen.
Seit dieser Zeit stellt sich der Universität auch die Frage nach ihrem
Verhältnis zu Industrie und Wirtschaft. Dass diese Frage nicht leicht zu
Industrialisierung
Positivismus
beantworten war (und ist), zeigte sich daran, dass nun für die Pflege solcher
«technischer» Wissenschaft eigene Polytechnische Schulen errichtet wurden.
Zunächst im Zwischenbereich zwischen Schule und Universität angesiedelt,
wurden sie erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts als
Hochschulen anerkannt. Strukturell wurden sie den Universitäten angeglichen,
behielten aber bis auf den heutigen Tag ihre spezifische Eigenart,
selbst da, wo sie inzwischen den Titel «Universität» übernommen haben.
Beruht dieses Nebeneinander von Universität und Technischer Hochschule
auf historischem Zufall oder verweist es auf eine grundsätzliche
Polarität zwischen humanistischern und «technischem» Weltverständnis?
Wie dem auch immer sei: Dass beides ineinandergreift, zeigen Universität
wie Technische Hochschule: Auch die Universität hat Elemente des «technischen»
Wissenschaftsverständnisses übernommen, und die ETH pflegt
auch ihre Abteilung XII. Dennoch ist das Verhältnis von «Bildung» und
«Technik» nach wie vor nicht ausdiskutiert, auch nicht in unserer eidgenössischen
Wissenschafts- und Forschungspolitik.
Unter dem Stichwort «Spannungsfeld der Kräfte» ist im Blick auf die
Wirtschaft ein Weiteres wichtig: Wie für Humboldt die Freiheit der Forschung
die Freiheit der Universität gegenüber dem Staat voraussetzte, so
waren die Vertreter der Wirtschaft jener Zeit überzeugt, ihre Aufgabe ohne
staatliche Reglementierung besser erfüllen zu können. Und wie Humboldt
überzeugt war, dass die Wissenschaft aus sich selbst heraus Bildung erzeuge,
war man sich sicher, dass das ungehinderte Fortschreiten der Wirtschaft
von selbst zum Ausgleich zwischen Einzel- und Gesamtinteressen und
damit zum Wohl der Menschheit führe.
So etablierten sich auch Wirtschaft und Industrie als eigene Kräfte der
Gesellschaft —neben dem Staat, mit dem Staat vor allem über die Gesetzgebung
zwar verbunden (und gelegentlich auch im Konflikt), aber nicht
vom Staat dirigiert und geleitet. Zur traditionellen Trias von sacerdotium,
imperium und studium traten neue Gewalten. Das Haus Alexanders wurde
umgebaut und erhielt neue Räume. Das Spannungsfeld der Kräfte wurde
noch komplexer, auch für die Universität.
VI.
Das 20. Jahrhundert begann mit einem mehrfachen Schock, mit den beiden
Weltkriegen, der Weltwirtschaftskrise, dem Nationalsozialismus und Faschismus,
der Etablierung der kommunistischen Diktatur. Wohin hatte die
staatliche Politik geführt? Wie konnte die so optimistische Wirtschaft in
eine so tiefe Krise stürzen? Wo waren die Universität, der Humanismus, die
Bildung des Menschen geblieben?
Einmal mehr erhob sich die Frage nach dem Ort der Universität im
Spannungsfeld der Kräfte; und erneut verband sich die Frage nach der
Stellung und Organisation der Universität mit derjenigen nach der «Idee»
20. Jahrhundert
der Universität. Extreme Positionen standen sich gegenüber: einerseits der
Ruf, die selbständig und korporativ organisierte Universität Humboldts zu
restituieren, wie ihn etwa Karl Jaspers wiederholt und nachdrücklich
erhoben hat; andererseits die sozio-ökonomisch und neomarxistisch orientierte
Forderung der Studentenbewegung, die Universität nach den Gesichtspunkten
des Klassenkampfes umzustrukturieren. Helmut Schelsky
plädierte für eine Modifikation der Humboldtschen Idee (womit er
allerdings scheiterte); Vertreter der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie
entwarfen ein rein funktionales Verständnis der Universität; Jürgen Habermas
schliesslich entwarf ein Konzept, das Humboldt und Sozialtheorie auf
höherer Ebene miteinander auszusöhnen versuchte.
Je verschieden bemühten sich diese Entwürfe, die Universität im derzeitigen
Spannungsfeld der Kräfte neu zu lozieren. Ihre Gegensätzlichkeit
deutet an, wie extrem komplex das Umfeld der Universität in der Zeit des
Pluralismus des 20. Jahrhunderts geworden ist.
Die Gesellschaft hat sich diversifiziert. Die politische Meinungsvielfalt
ist grösser geworden. Die Kultur hat sich auseinandergelegt in unterschiedliche
und z.T. widersprüchliche Kulturen und Subkulturen. Staat, Wirtschaft
und Technik stehen in einem neuen, ambivalenten Verhältnis zueinander.
Das Zusammenspiel der Konfessionen und Religionen hat neue
Formen angenommen, die Rolle der Kirchen im Gesamtgefüge der Gesellschaft
ist strittig geworden. Der Bedarf an Bildung und Ausbildung ist
gestiegen, was «Bildung» heisst, ist umstritten, und das Spiel von Angebot
und Nachfrage im Bildungsbereich ist vielschichtiger denn je. Labilität im
Äußeren wie im Inneren ist eines der Kennzeichen der heutigen Gesellschaft,
und allenthalben kommt es zu Spannungen und Konflikten, im
Grundsätzlichen wie im einzelnen.
Dieses nurmehr schwer zu kontrollierende Spannungsfeld der Kräfte hat
auch den Staat erfasst. Dies zeigt jeder Blick auf unsere politische Landschaft,
auf unsere Parlamente und Regierungen. Zwar beansprucht der
Staat, gerade als demokratischer Staat, nach wie vor eine Leitungsfunktion
in diesem Spannungsfeld der Kräfte, doch gleichzeitig ist er in neuer Weise
zu einer dieser Kräfte neben anderen geworden. In zunehmendem Masse ist
er darauf angewiesen, mit den anderen partnerschaftlich zu kooperieren. In
der relativen Schwerfälligkeit seiner Strukturen und angesichts des Zwangs
zu vielfältigen Rücksichtnahmen vermag der Staat vermehrt nurmehr zu
reagieren statt zu agieren, und bis er zu seinen Entscheidungen gelangt, sind
diese durch die weitere Entwicklung nicht selten bereits überholt. Das
geistige Haus Europas bangt um seine Stabilität.
Von dieser Situation ist die Universität unmittelbar betroffen. Die gesellschaftlichen
Entwicklungen haben ihr Studentenzahlen gebracht, die alle
staatlichen Vorkehrungen überrollten. Den Ansprüchen der Gesellschaft an
die Universität in Ausbildung, Forschung und Dienstleistung, vermögen die
staatlichen Massnahmen und Anordnungen nur zum Teil noch zu entsprechen.
Die noch schneller gewordene Entwicklung der Wissenschaften ist
geistig und die damit verbundene Kostenexplosion finanziell immer schwerer
zu verkraften. Der Einfluss des sacerdotiums, der Kirche, ist bis auf
kleinste Reste bei den Theologischen Fakultäten endgültig gebrochen, doch
die Frage nach den Zielen und Werten bleibt bestehen und bricht neu wieder
auf. Und dies alles vollzieht sich inmitten der Meinungsvielfalt unserer
Zeit. Die Auseinandersetzung zwischen und mit unterschiedlichen und
alternativen Konzeptionen, geistiger und kultureller Natur, vollzieht sich
nicht nur im Staat, sondern auch an der Universität.
Wie reagiert darauf, z. B. in Zürich, der Staat in seiner Funktion als
Träger der Universität? Bezüglich der Struktur der Universität vollzieht
sich dies in einer neuen Form der Verstaatlichung der Universität. Der Staat
ist nicht mehr nur Träger und Garant der Universität, auch nicht mehr nur
Aufsichtsinstanz. Die Universität wird zunehmend dem Staat und seiner
Verwaltung integriert. Dies gilt besonders für die Bereiche der Finanzordnung
und des Personalrechtes, aber auch für die Entscheidungsebenen:
Rektorat und Fakultäten werden als Inhaber einer «Linienfunktion» verstanden.
Verglichen wird die Universität mit der Schule und mehr noch mit
der staatlichen Verwaltung. Entsprechend vermehrt sucht das Parlament in
die Universität einzugreifen, in ihre Struktur, aber auch in ihre Lehre und
Forschung. Die seit den Anfängen der Universität bestehende Einsicht, dass
die Universität von der ihr eigenen Aufgabe her auch einer eigenen Struktur
bedarf, droht vergessen zu werden; das alte Stichwort der Privilegien, des
ihr angemessenen eigenen Rechts, wird ihr heute zum Vorwurf.
Diesen Entwicklungen gegenüber stehen die grossen Leistungen des
Staates für die Universität. Die Freiheit der Forschung und Lehre ist
unangetastet, die finanziellen Mittel, die der Staat in die Universität investiert,
sind beträchtlich. Der «Wille des Volkes», eine Universität zu haben —
und zwar eine gute Universität —, ist im wesentlichen ungebrochen.
Doch zwischen beidem kommt es zu Spannungen. Die Ansprüche, die
der Staat an die Universität richtet, sind grösser als die Mittel, die er ihr zur
Verfügung stellen kann. Nicht allen im Staat ist bewusst, dass die Universität
in Forschung und Lehre weit mehr ist als eine Dienstleistungsinstitution
ihres Trägerkantons. Gerade dadurch, dass sich die Universitäten der Natur
der Sache nach über die Möglichkeiten ihrer Trägerkantone hinaus entwickeln,
verändert sich auch die Rolle des Bundes gegenüber den kantonalen
Universitäten. Gleichzeitig bringen die Entwicklungen in Europa neue
Formen der internationalen Verflechtung und Verpflichtung der Universität.
Doch die Komplexität der heutigen Universität reicht noch weiter. Der
Staat ist keineswegs mehr der einzige Partner der Universität. Der Anteil
der Universitätsabsolventen, die in den Staatsdienst gehen, nimmt prozentual
ständig ab. Ein Bildungsmonopol des Staates besteht gerade im tertiären
Bildungssektor nicht mehr. Und im Bereich der Forschung muss die
Universität nicht nur international konkurrenzfähig sein, sondern sich auch
mit der sichtbar besser dotierten Forschung der Industrie messen können.
So ist denn auch die Wirtschaft in all ihren Sektoren interessiert an der
Universität, an deren Lehre und an deren Forschung, und sie ist auch bereit,
sich in bestimmten Bereichen der Universität finanziell zu engagieren.
In ähnlicher Weise steht die Universität im Austausch mit anderen
gesellschaftlichen Bereichen, die nur zum Teil mit dem Staat in Verbindung
stehen, im Bereich des Sozialen, der Kultur, der Umweltproblematik —und
nach wie vor dem der Kirche.
So bewegt sich sehr vieles in der Tätigkeit der Universität nicht nur über
die Möglichkeiten, sondern auch über den Einflussbereich des Kantonal-Staates
hinaus und lässt sich mit einer zu engen Einbettung in den Staat
nicht mehr in Einklang bringen, und schon gar nicht mit den auf die
Bedürfnisse seiner Verwaltung ausgerichteten Detailregelungen.
Die Summe des Ganzen? Sacerdotium, imperium, studium — und neu
könnten wir (neu-lateinisch) hinzufügen: industria. Diese vier Begriffe
benennen vier übergreifende Kräfte, die in der menschlichen Gemeinschaft
wirken, und unser kurzer Uberblick über deren Geschichte deutete an, in
welch komplexem Verhältnis sie zueinander stehen. Ihre formelhafte Zusammenfassung
schliesst die Universität als eine dieser Kräfte ausdrücklich
ein. Sie erinnert daran, dass dem Studium der Wissenschaften und mithin
der Universität in diesem Spannungsfeld der Kräfte ihre eigene Funktion
zukommen muss. Das Spiel der Kräfte kann nur dann zum Wohl des
Gesamten beitragen, wenn keine von ihnen die anderen zu dominieren
versucht und jede mit den anderen in partnerschaftlichem Austausch steht.
Das gilt auch bezüglich der Universität. Wo immer sie in ihrer Geschichte
von einem der anderen Bereiche dominiert worden ist, sei es von der Kirche,
dem Staat oder der Wirtschaft, da verlor sie nicht nur ihr Gesicht, sondern
immer und vor allem die ihr eigene Funktion zum Wohle des Ganzen.
Als erschreckendes Beispiel dafür, wie grundsätzlich dies gilt, mag das
Geschick der ehemaligen DDR dienen: Staat, Wirtschaft und Universität
waren gleichgeschaltet der gleichen Doktrin unterworfen. Und alle drei sind
untergegangen. Diese Bemerkung gibt nicht Anlass zu irgendeinem Triumph,
sie ist vielmehr Mahnung —und Anspruch zugleich. Es ist die grosse
Chance eines freiheitlichen Staates, hier bessere Wege gehen zu können.
Die Aufgabe, diesen Weg zu finden, wird uns weiterhin begleiten. Sie zu
bestehen, auch in einer in verschiedener Hinsicht schwieriger gewordenen
Zeit, setzt den gemeinsamen Konsens der Kräfte zu einem gemeinsamen
Weg voraus. Dieser Weg bedarf des Spiels der Kräfte, das muss jede der
Kräfte anerkennen. Jede dieser Kräfte bedarf dazu ihres Freiraums, auch
ihrer Mittel. Jede Dominanz, jedes partikulare Streben nach Macht bedroht
das Ganze. In besonderem Masse davon betroffen ist das Studium der
Wissenschaften, die Universität; sie ist im Spannungsfeld dieser Kräfte der
verletzlichste Teil. Doch wenn auch nur ein Teil verletzt ist, leidet immer
sogleich das Ganze.