SPRACHE UND NATION
Vortrag anlässlich des Dies academicus 1996
1997
UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ
Die Deutsche Bibliothek — CIP Einheitsaufnahme
Altermatt, Urs:
Sprache und Nation. Vortrag anlässlich des Dies academicus 1996 /
Urs Altermatt.
— Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl., 1996
(Freiburger Universitätsreden; N.F., Nr. 53)
ISBN 3-7278-1118-8
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz
und der Rektorates der Universität Freiburg Schweiz
© 1997 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Paulusdruckerei Freiburg Schweiz
ISBN 3-7278-1118-8
Als die Universität Freiburg i.Ue. 1889 gegründet wurde,
erwogen Staatsrat Georges Python und sein Bündner
Mentor Caspar Decurtins die Errichtung einer dreisprachigen
Hochschule. 1 Aus finanziellen Gründen
kamen die Gründungsväter von diesen Plänen ab.
Zustande kam eine zweisprachige Universität, die —
und das dürfen wir am Dies academicus 1996 mit Stolz
festhalten —die älteste funktionierende zweisprachige
Hochschule Westeuropas bildet, eine Hochschule, in
der Französisch und Deutsch gleichberechtigte Sprachen
darstellen. Gewiss: Es existiert auch die Université
Libre von Brüssel, doch sie ist in zwei Teile
getrennt. An den Universitäten Barcelonas erlangte in
den 1990er Jahren das Katalanische gegenüber dem
Spanischen einen gleichberechtigten Status.
Sonst gibt es in West- und Zentraleuropa keine
wirklich zweisprachigen Universitäten mehr. 1783
ging die Prager Universität von der lateinischen zur
deutschen Unterrichtssprache über. Im 19. Jahrhundert
gewann das Tschechische an Bedeutung und drängte
das Deutsche im Kulturleben der Stadt in die Defensive.
1882 teilte sich die Universität in eine deutsche und
eine tschechische Sektion auf. Nach 1945 blieb nur
noch der tschechoslowakische, nach 1993 der tschechische
Teil übrig. In Löwen trennte sich 1970 die
altehrwürdige Universität in eine flämische und eine
französische Hochschule auf.
Wie ich in meinem Buch «Das Fanal von Sarajevo»
(1996) ausführlich dargelegt habe, ist die Entwicklung
der Universitäten ein Spiegelbild des wachsenden
Ethnonationalismus in Staat und Gesellschaft Europas. 2
Jede Nation soll einen Staat und jeder Staat nur
eine einzige Nation umfassen. So lautet die Formel,
die seit dem 19. Jahrhundert die politische Karte Europas
prägt.
Die nationale Einigung Italiens 1866 bzw. 1870
und der Zerfall der Tschechoslowakei von 1993, der
deutsch-französische Krieg von 1870/71, der Erste
Weltkrieg von 1914-1918 und der Balkan-Krieg von
1991-1995 gehören thematisch zusammen, obwohl sie
auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Ereignisse
darstellen; sie sind Etappen in der grossen Epoche der
europäischen Nationalisierung.
In Europa ist die Sprache mehr als ein Kommunikationsmittel;
sie ist Ausdruck und Symbol der verschiedenen
Kulturen des Kontinents. Der Bezug auf
die Sprache und Kultur bildet seit dem 19. Jahrhundert
den Vorwand, um Territorien zu teilen und ethnisch-kulturell
zu säubern. Was am Ende des 20. Jahrhunderts
auf dem Balkan und im Kaukasus geschieht, ist
die brutale Übersteigerung der normalen europäischen
Geschichte. In pharisäischer Selbstgerechtigkeit und
Heuchelei blicken wir Westeuropäer nach dem Südosten
unseres Kontinents, ohne dass uns bewusst wird,
dass wir in milderer Form die gleichen Konzepte der
ethnischen und kulturellen Teilung verfolgen und in
unseren Teilen Europas weitgehend schon verwirklicht
haben.
Der europäische Sprachnationalismus
Die Friedensordnungen von 1919, 1945 und
1989/90 brachten in Europa neue Grenzziehungen hervor,
die darauf abzielten, kulturell homogene Nationalstaaten
mit einer einzigen oder einer vorherrschenden
Staatssprache zu schaffen. Nach dem Ersten Weltkrieg
versuchten die Europäer, die geopolitische Karte ihres
Kontinentes nach dem Nationalitätenprinzip neu zu
zeichnen. Wie der britische Historiker Eric J. Hobsbawm
bemerkt, folgte auf den Versuch, den Kontinent
in ethnisch und sprachlich homogene Territorialstaaten
aufzuteilen, die Barbarisierung, das heisst die massenhafte
Vertreibung oder Vernichtung von Minderheiten. 3
Die ethnisch-kulturelle Karte Europas wurde im
Verlaufe der vergangenen hundert Jahren eintöniger.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert wiesen die Reiche der
Osmanen, der Habsburger und der Romanows noch
grosse Nationalitäten ohne eigenen Staat auf. 4 1910
ergab die Volkszählung in der Habsburger Monarchie,
dass in Österreich-Ungarn neben 12 Millionen Deutschen
10 Millionen Magyaren, 6,5 Millionen Tschechen,
5 Millionen Polen, 4 Millionen Ukrainer, 3,2
Millionen Rumänen, 2,9 Millionen Kroaten, 2,3 Millionen
Juden, 2 Millionen Slowaken, 2 Millionen Serben,
1,2 Millionen Slowenen und 800'000 Italiener
wohnten. Im Osmanischen Reich lebten um 1900 —
nach einer anderen Zählart, die Religion und Ethnie
vermischt — 14 Millionen Muslime, das heisst Türken,
Kurden und Araber, 2,57 Millionen Griechen, mehr als
1 Million Armenier, 830'000 Bulgaren, 215'000
Juden, 120'000 Katholiken, 32'000 Maroniten sowie
weitere Minderheiten. Auch das Deutsche Reich umfasste
um die Jahrhundertwende noch zahlreiche nichtdeutsche
Volksgruppen: 3 Millionen Polen, 200'000 Französischsprechende
und je 100'000 Dänen, Masuren,
Litauer, Tschechen, Kaschuren und Sorben.
Homogenisierung
Wo in Europa sprachliche Minderheiten lebten,
sahen sie sich in der Regel dem internen Homogenisierungsdruck
durch das sogenannte Staatsvolk ausgesetzt.
Greifen wir das Beispiel Ungarns heraus. 5
1850 machten im Königreich Ungarn die Einwohner
magyarischer Herkunft erst 41,6 Prozent aus. 1910
waren bei 18 Millionen Einwohnern schon 54,5 Prozent
ungarischer Muttersprache; 16,1 Prozent gaben
Rumänisch als erste Sprache an, 10,7 Prozent Slowakisch
und 10,4 Prozent Deutsch. In einem halben Jahrhundert
hatte sich der magyarische Anteil um fast 15
Prozent erhöht.
Hinter dem Wachstum der Magyaren stand eine
bewusste Sprachenpolitik der Regierung, die Ungarisch
ab 1879 für die obligatorische Schulsprache
erklärte, die Beamten nach sprachlichen Kriterien auswählte
und die Ortsnamen magyarisierte. Auf älteren
Bildern heisst Budapest meistens noch in deutscher
Sprache Ofen. Mit Hilfe von Begünstigungen und
Zwangsmassnahmen wurden die Volksgruppen anderer
Sprachen und Ethnien zu mehr oder weniger freiwilliger
Assimilation angehalten. Sobald ein Rumäne
oder ein Slowake im öffentlichen Raum Ungarisch
sprach, sobald er einen ungarischen Namen und Vornamen
annahm, sah er sich keiner Diskriminierung mehr
ausgesetzt. Damit wurde das Ungarische zur Sprache
des öffentlichen Lebens.
Eine weitere Zäsur in der Sprachengeschichte
Ungarns brachte die Niederlage des Königreichs im
Ersten Weltkrieg. Der Vertrag von Trianon bestimmte
1920, dass Ungarn mehr als 70 Prozent seines Vorkriegsgebietes
und über 60 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung
an die Nachbar- und Nachfolgestaaten
abzutreten hatte. Dadurch brach das multiethnische
Königreich zusammen. Als Reaktion rückten die
Ungarn fortan die sprachlich-kulturelle Identität ihrer
Nation noch mehr in den Vordergrund, was zur Folge
hatte, dass die in Ungarn verbliebenen Minderheiten
vollends unter Druck gerieten. In der Zeit von 1920 bis
1945 bekannten sich die meisten Ungaren zu einem
kulturellen Nationenbegriff, der in der Epoche des
europäischen Faschismus ethnische Züge annahm. Die
Magyarisierung schritt voran. 1990 sah die Sprachenstatistik
folgendermassen aus: über 98 Prozent
gaben Ungarisch als Muttersprache an, Deutsch, Slowakisch,
Rumänisch, Kroatisch, Serbisch, Slowenisch
sprach insgesamt kein Prozent. Über die Sinti und
Roma existieren keine zuverlässigen Zahlen.
Dem ungarischen Beispiel können unzählige
andere aus Ost- und Westeuropa angefügt werden. Die
Mehrsprachigkeit war für die europäischen Regierungen
bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine
Störung der nationalen Harmonie, ein Hindernis auf
dem Weg zur Nationalisierung von Staat und Gesellschaft.
Bekannt sind die Wechselbäder, die die Elsässer
und Lothringer zwischen 1871 und 1918 im Spannungsfeld
von Deutschland und Frankreich durchmachen
mussten. Unbekannter ist die Russifizierungspolitik
der Zaren gegenüber den Weissrussen, Litauern und
Ukrainern. 6 Diese Völker galten als Westrussen oder
Kleinrussen, also als Teile des russischen Volkes. Im
Sommer 1863 untersagte das zaristische Innenministerium
in einem geheimen Zirkular den Druck von
Büchern in ukrainischer Sprache mit Ausnahme von
Werken der Belletristik.
Schweiz und Belgien als Antithesen
Die zunehmende sprachliche Nationalisierung
konnte die kulturelle Vielfalt Europas nicht völlig
überdecken. Auch wenn die Staatssprache für die meisten
europäischen Nationalstaaten im 20. Jahrhundert
identitären Charakter annahm, blieb im Alltag die
Mehrsprachigkeit erhalten. Selbst in den klassischen
Sprachnationen wie etwa Frankreich konnten sich
Regionalsprachen wie das Korsische oder das Bretonische
ausserhalb des öffentlich-repräsentativen Bereiches
halten. 7
Die Schweiz ist insofern ein europäischer Sonderfall,
als sie die Mehrsprachigkeit schon im 19. Jahrhundert
verfassungsmässig verankert hat. Nur noch
Belgien entwickelte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
eine ähnliche Mehrsprachigkeit. 8 1830 legte die
provisorische Regierung fest, dass das Französische
Staatssprache sei; wenn es aber die Situation erfordere,
seien einzelne Texte auch auf Flämisch und Deutsch zu
veröffentlichen. Die Bevorzugung des Französischen
ist damit zu erklären, dass die Belgische Revolution
das Werk des Bürgertums war, das in seiner grossen
Mehrheit auch in den flämischen Provinzen Französisch
als Umgangssprache benutzte. Nach der Mitte
des 19. Jahrhunderts gewann die flämische Sprachenbewegung
an Gewicht. 1873 erfolgte die Gleichberechtigung
der Sprachen vor Gericht, 1878 in der
Staatsverwaltung, 1883 wurde das Flämische an den
staatlichen Mittelschulen in den niederländischen Provinzen
zugelassen. Seit 1898 wurden die Gesetze des
belgischen Staates offiziell in Französisch und Flämisch
erlassen. Flämisch erhielt den Status einer belgischen
Staatssprache und wurde dem Französischen
gleichgesetzt. Briefmarken, Banknoten, öffentliche
Gebäude mussten zweisprachig beschriftet werden,
der König legte seinen Eid in beiden Sprachen ab.
Mit den Sprachengesetzen der 1930er Jahre wurde
für Flandern und Wallonien die Einsprachigkeit in Verwaltung,
Unterricht, Rechtssprechung und Armee in
den jeweiligen Landesteilen festgelegt. Die Sprachgrenze
war damit geboren. Nur die Region von Brüssel
war zweisprachig.
Dadurch entstanden zwei Sprachenblöcke mit
eigenen Volkskulturen, Fahnen und Liedern. Dieser
sprachenseparatistische Aufbau führte Belgien nach
dem Zweiten Weltkrieg an den Rand der politischen
Lähmung. Erst die Staatsreformen von 1970-1993
brachten eine Beruhigung, indem sie das Land zu
einem föderalistischen Bundesstaat mit den drei autonomen
Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt
und den drei Landessprachen Französisch,
Niederländisch und Deutsch verwandelten.
In Luxemburg, Malta und Irland spielt das Territorialprinzip
keine Rolle. Die offizielle Mehrsprachigkeit
hat funktionellen Charakter. Die Muttersprache
der Bevölkerung Luxemburgs ist Letzeburgisch; Französisch
und Deutsch werden als Amtssprachen
benutzt. In Malta wird Maltesisch für die internen,
Englisch für die externen Belange verwendet. Irisch
und Englisch haben in Irland offiziell eine gleichberechtigte
Stellung. Allerdings sprechen die meisten
Iren kein Irisch. Diese Sprache hat als Symbol der
Nationalkultur eher ideelle denn praktische Bedeutung. 9
Minderheitenschutz
In einigen Ländern Europas kamen nach dem
Ersten Weltkrieg Minderheitengesetze zur Anwendung,
um die Sprachen der kleineren Volksgruppen zu
schützen. Zu erwähnen ist an erster Stelle Finnland,
das 1917 seine Unabhängigkeit erlangte und dabei Finnisch
und Schwedisch als National- und Amtssprachen
anerkannte. 10 Die Gesetzestexte erscheinen seit 1919
in beiden Sprachen, obwohl mehr als 95 Prozent der
Bevölkerung Finnisch sprechen. Die grosszügige Minderheitenregelung
ist darauf zurückzuführen, dass
Finnland bis anfangs des 19. Jahrhunderts dem Königreich
Schweden angehörte. Nach dem schwedisch-russischen
Krieg von 1808/09 wurde Finnland an
Russland abgetreten. Das Schwedische behielt trotz
der allmählichen Herausbildung eines finnischen
Nationalbewusstseins lange Zeit sein kulturelles Übergewicht.
Erst das Sprachengesetz von 1922 gliederte
das Land verwaltungstechnisch in ein- und zweisprachige
Gebiete ein. Als zweisprachig gelten
Gemeinden, wenn die sprachliche Minderheit 10 Prozent
oder — bei geringerer Prozentzahl — mindestens
5000 Personen umfasst. 1991 anerkannte Finnland
ausserdem das Lappische als Amtssprache für die Provinz
Lappland.
Im deutschsprachigen Südtirol, das nach dem
Ersten Weltkrieg Italien angegliedert worden war, wurden
die Spannungen 1969 mit einem Autonomiestatut
entschärft.
Den grössten Erfolg erzielte der Minderheitenschutz
in Spanien, wo in den 1970er Jahren Baskisch,
Katalanisch und Galizisch in den Regionen offiziellen
und gleichrangigen Status erlangten. Schauen wir kurz
auf das illustrative Beispiel Kataloniens. 11 Die grösste
Ausdehnung erreichte die Föderation Katalonien-Aragón
vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Erst nach
dem Spanischen Erbfolgekrieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts
verlor Katalonien seine Sonderrechte. Im
Zeichen der Romantik entstand in den 1830er Jahren
die kulturelle Aufbruchbewegung der «Renaixença».
Die Sprache wurde nun zunehmend Instrument eines
erstarkten ethnisch-nationalen Bewusstseins. In der
Folge machte die sprachliche Standardisierung des
Katalanischen Fortschritte: 1913 wurden orthographische
Normen, 1918 eine offizielle Grammatik und
1932 ein Wörterbuch publiziert.
Mit dem Sturz der Monarchie in Spanien 1932
erhielt Katalonien ein Autonomiestatut; Katalanisch
wurde Amtssprache. 1936 begann der Bürgerkrieg,
1939 die Franco-Diktatur, die alle regionalen Autonomiebestrebungen
in Spanien drakonisch unterdrückte.
Das Katalanische wurde aus Presse und Radio, von
Strassenschildern, Werbeplakaten und sogar von Grabsteinen
verbannt. Dazu kam, dass der materielle Wohlstand
Kataloniens zu einer starken Einwanderungsbewegung
sozialer Unterschichten mit andern Sprachen
Spaniens führte. Dennoch konnte sich das Katalanische
in allen Bevölkerungsgruppen halten, da es unter
der Franco-Diktatur ein Mittel des ethno-nationalen
und vielfach auch linken Protestes war.
Seit den 1950er Jahren kam eine Wende in Gang.
Ab 1965 wurde das Katalanische in der katholischen
Kirche wieder als Verwaltungs- und Liturgiesprache
anerkannt. 1967 wurde an der Universität von Barcelona
eine Abteilung für katalanische Sprache zugelassen.
In all diesen Jahren diente die Musik als Ausdrucksmittel
der katalanischen Sprache.
Ab 1969 verstärkten sich die Autonomiebestrebungen
Kataloniens. Die nach dem Tod Francos
einsetzende Demokratisierung Spaniens brachte Katalonien
kulturell wieder eine weitgehende Selbständigkeit.
Die neue Verfassung Spaniens von 1978 verwarf
dann die Vorstellung des Spanischen als einziger
Nationalsprache. Das Autonomiestatut von 1979 stellte
für Katalonien beide Sprachen gleichberechtigt
nebeneinander. Zwar blieb Spanisch weiterhin die offizielle
Staatssprache, die alle Spanier beherrschen müssen,
aber die autonomen Regionen konnten nun ihrer
eigenen Sprache einen offiziellen Status einräumen.
Die neue Sprachenpolitik veränderte tatsächlich
die Ausgangslage. Dafür spricht eine 1991 durchgeführte
Umfrage, wonach 94 Prozent der Befragten
angaben, Katalanisch zu verstehen. Zwei der fünf in
Barcelona erscheinenden Tageszeitungen sind in
Katalanisch verfasst. Auch an den Universitäten wird
wieder katalanisch gelehrt und geprüft. Und in der
Metro drohen Schilder den Schwarzfahrern unzweideutig,
aber einsprachig, d.h. auf katalanisch, mit
Bussen.
Sprachenblöcke
Eines steht fest: Im Unterschied zu Nordamerika,
wo sich die verschiedenen Einwanderergruppen miteinander
vermischten, besitzen die europäischen Völker
mit ihren unterschiedlichen Sprachen Territorien,
die sie hartnäckig verteidigen. Wo sich in einem Staat
zwei starke Sprachgemeinschaften mit festen Territorien
gegenüberstehen, entwickelt sich meist ein
System der Sprachenblöcke, das auf das politische
Gemeinwesen desintegrative Wirkungen hat.
Die Mehrsprachigkeit setzt einen föderalistischen
Staatsaufbau voraus. In einem zentralistischen Einheitsstaat
werden die Völker zentrifugal. Man gebe
ihnen eine föderalistische Verfassung und sie werden
zentripet. Das sagte schon im 19. Jahrhundert der
österreichische Politiker Adolph Fischhof. 12 Man kann
föderalistisch sein, ohne multinational zu sein; wenn
aber der Staat multinational ist, muss er föderalistisch
sein. In der Tschechoslowakei lösten die Sprachenblöcke
den Zentralstaat auf.
Unter der Mitwirkung äusserer Mächte können
aber sogar Bürgerkriege ausbrechen. Infolge des Einmarsches
türkischer Truppen zerbrach Zypern in zwei
sprachlich und religiös unterschiedliche Teilstaaten, in
Griechisch- und Türkisch-Zypern. Die politische Einheit
ist vor allem dort gefährdet, wo ethnische und religiöse
Gegensätze die kulturell-sprachlichen und die
wirtschaftlichen überlagern. Das frühere Jugoslawien
und der Kaukasus bieten illustrative Beispiele.
Da die Menschen in Zeiten raschen sozialen Wandels
ein Minimum an Rückbindung und Tradition
brauchen, produziert die Dynamik der Zeitgeschichte
fortwährend ethno-nationalistische Reaktionen. Die
Brüche und Verwerfungen der Krisenzeiten bilden den
Nährboden von Nationalismen, deren Erscheinungsformen
äusserst vielfältig sind.
Für die Europäische Union besteht die schwierige
Aufgabe darin, den angestammten europäischen Völkern
und ihren Lebensräumen die kulturelle Identität
zu bewahren und gleichzeitig den Menschen die soziale
Mobilität in der modernen Gesellschaft zu ermöglichen.
Dabei könnte das Schweizer Modell durchaus
nachahmenswerte Elemente aufweisen. Europa steht
in einem gewissen Sinne vor der Entscheidung, sich zu
balkanisieren oder zu helvetisieren. Hier stimme ich
dem Philosophen Karl Jaspers weitgehend zu.
Irritationen in der Sprachenlandschaft der Schweiz
Die Schweiz definierte sich 1798 bzw. 1848 als
multinationaler Staat von «Völkerschaften» und anerkannte
die Mehrsprachigkeit als Ordnungsprinzip. 13
Dabei lauteten die Grundregeln der schweizerischen
Sprachenordnung wie folgt:
Erstens besitzt die Schweiz keine alleinige Staatssprache
wie die meisten europäischen Länder.
Zweitens gilt der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz
der individuellen Sprachenfreiheit, die allerdings
keinen absoluten Charakter besitzt. Die Sprachenordnung
sieht Einschränkungen vor, sofern diese im
öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig
erscheinen.
Drittens ist der Sprachenschutz an territoriale Einheiten
und nicht an personale Verbände gebunden.
Dadurch besitzt jede Landessprache ihren angestammten
territorialen Bereich, dessen Umfang —und das ist
entscheidend —durch die Gemeinden und die Kantone
bestimmt ist. Die Kantone sind befugt, dafür zu sorgen,
dass die Einwohner in der Schule die offizielle
Sprache der Region erlernen und diese im Verkehr mit
den Gemeinde- und Kantonsbehörden verwenden.
Viertens kennt die schweizerische Verfassung keine
staatsrechtlichen Sprachenblöcke. Die Sprachgemeinschaften
besitzen keine staatlichen Institutionen
wie in Belgien. Die Behörden hüten sich, ihre Bürger
nach sprachlichen Kriterien einzuteilen. In den Identitätskarten
fehlt jeder Hinweis auf die sprachliche
Zugehörigkeit. Demgegenüber wurde in der Schweiz
die Religion oder Konfession aufgrund anderer historischer
Voraussetzungen jahrzehntelang in den Pässen
vermerkt.
Stabile Stärkeverhältnisse
Diesen Prinzipien ist es weitgehend zu verdanken,
dass der Sprachenfrieden in der Schweiz bisher erhalten
werden konnte. Die Stärkeverhältnisse der Sprachgemeinschaften
blieben in hohem Grade stabil,
obwohl das Land seit dem 19. Jahrhundert eine gewaltige
wirtschaftliche Entwicklung mit enormen sozialen
Mobilitäten durchmachte.
Anlässlich der Volkszählung von 1860 betrug bei
der Schweizer Bevölkerung die deutschsprachige
Mehrheit 69,5 Prozent. 14 1910 waren es 72,7 Prozent,
1950 74,2 Prozent und 1990 73,4 Prozent. Das Französische
verlor gegenüber dem Deutschen bei der
Schweizer Bevölkerung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
rund drei Prozentpunkte: 1860 23,4, 1910 22,1,
1950 20,6 und 1990 20,5 Prozent. Die italienischsprachigen
Schweizer zählten stets ungefähr 4 Prozent:
1860 5,4, 1910 3,9, 1950 4,0, 1990 4,1 Prozent. Der
Anteil der rätoromanischsprechenden Schweizer lautete
1860 1,7, 1910 1,2 und 1950 1,1 Prozent. Im Jahre
1990 gaben noch 0,7 Prozent der Schweizer Rätoromanisch
als ihre Hauptsprache an, was rund 40'000
Personen entspricht.
Bei der gesamten Wohnbevölkerung, in der die
Ausländer einbezogen sind, sieht das Zahlenverhältnis
ähnlich aus. Die Deutschsprachigen verloren zwar
wegen der starken Einwanderung aus den lateinischen
Ländern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an
Boden, während die Italiener gewannen. 1910 waren
8,1, 1950 5,9 und 1990 7,6 Prozent italienischer Sprache.
Den Höhepunkt verzeichnete die italienischsprachige
Wohnbevölkerung 1970 mit 11,9 Prozent.
Nachzutragen ist, dass in diesen Statistiken nur
die Sprachenverteilung bei den offiziell anerkannten
Nationalsprachen aufgeführt ist. Zieht man alle Sprachen
mit ein, so übertreffen einzelne Sprachgruppen
von ausländischen Einwohnern die rätoromanische
Landessprache: 1990 sprachen 117'000 Einwohner
Spanisch, 109'000 Serbokroatisch, 94'000 Portugiesisch
und 61'000 Englisch.
Die Bilanz liegt auf der Hand: Sieht man vom
Rätoromanischen ab, kann man in der Schweiz für das
19. und 20. Jahrhundert nicht von einer sprachlichen
Homogenisierung der Sprachenlandschaft sprechen.
Im Gegenteil, der politische Schutz der minoritären
Sprachgruppen gewann im 20. Jahrhundert an Bedeutung.
Trotz der aussergewöhnlichen Stabilität der Sprachenverhältnisse
stehen in der Schweiz die Sprachgruppen
in einem labilen Beziehungsnetz zueinander.
Da die Menschen im Verlaufe ihres Lebens ihre Identifikationen
verändern, bewerten sie zu verschiedenen
Zeiten ihre Sprache unterschiedlich. Es gab in der
Schweizer Geschichte Perioden, in denen das nationalpolitische
Interesse derart im Vordergrund stand, dass
die kulturellen Unterschiede der Sprachgruppen
zurückstehen mussten. So beherrschte die Ideologie
des Schweizertums die Zeitperiode von 1935 bis 1970.
Als Reaktion begannen die Sprachgemeinschaften in
den späten 1960er Jahren ihre kulturelle Identität neu
zu entdecken.
Wenn wir das Verhältnis zwischen Deutsch- und
Welschschweiz genauer anschauen, lassen sich fünf
Phasen hervorheben:
1. Die Vorherrschaft der Kulturkämpfe
1830-1880: Die Gründungsväter der Verfassung von
1848 fanden auf äusserst pragmatische Weise zur
Mehrsprachigkeit. Der Verfassungsentwurf von 1847
enthielt noch keine Bestimmungen zur Sprache. 15 Erst
in der Parlamentsdebatte brachte der Vertreter des
Kantons Waadt einen entsprechenden Antrag ein. Da
die Waadtländer gleichzeitig erklärten, man verlange
nicht die dreisprachige Abfassung der Parlamentsprotokolle,
wurde der Vorschlag ohne Gegenstimme angenommen.
Damit wurde die Mehrsprachigkeit der
Schweiz in Anlehnung an die Helvetische Republik
von 1798 zum Verfassungsgrundsatz erhoben. Grosse
öffentliche Beachtung fand dieser Entscheid nicht,
weil die Schweizer sich in den stürmischen Zeiten von
1830-1848 hauptsächlich um die föderalistische
Staatsform und die Stellung der katholischen Kirche
stritten. Dies hat der Historiker Francis Python eindrücklich
aufgezeigt. 16
Erst die nationalen Einigungsbewegungen in
Deutschland und in Italien hatten zur Folge, dass die
Schweizer ihr politisch begründetes Nationalverständnis
klar definierten, um der sprachnationalen Sogwirkung
ihrer Nachbarländer entgegenzuwirken. 17 Auf
diese Weise konsolidierte sich der junge Bundesstaat
wirtschaftlich, politisch und ideologisch, bevor die
europäischen Nationalismen im Ersten Weltkrieg eskalierten.
Dabei profitierte er davon, dass die Kulturkämpfe
der Jahre von 1830 bis 1880 die Sprachgrenzen
relativierten und über diese hinweg ein multikulturelles
Netz von weltanschaulich-politischen Loyalitäten
schufen. Als in den 1880er Jahren der Kulturkampf
abflaute, waren die weltanschaulichen Solidaritäten
derart stark verankert, dass sich die Parteienlandschaft
quer zu den Sprachgruppen bildete. Ein katholisch-konservativer
Freiburger französischer Sprache fühlte
sich einem katholisch-konservativen Luzerner deutscher
Sprache mehr verbunden als einem radikal-liberalen
Genfer französischer Zunge. Sprachsolidaritäten
spielten in der Inkubationsperiode des Nationalstaates
von 1800 bis 1880 eine geringe Rolle.
2. Von Animositäten zum Sprachengraben
1880-1918: Als Folge der industriellen Modernisierung
und Mobilität verschlechterten sich gegen die
Jahrhundertwende von 1900 die Beziehungen zwischen
den schweizerischen Sprachgruppen. Um 1900
fühlten sich vor allem die Tessiner marginalisiert und
beruhigten sich erst mit dem Eintritt Giuseppe Mottas
in den Bundesrat 1911. 18
Im Ersten Weltkrieg öffnete sich der berühmte
Graben zwischen der deutschen und der französischen
Schweiz, der ohne die aussenpolitische Neutralität das
Land gesprengt hätte. 1914 appellierte der Schriftsteller
und Literatur-Nobelpreisträger Carl Spitteler eindringlich
an die staatspolitische Neutralität der
Schweizer und bat sie, ihre gegensätzlichen Sympathien
mit den Nachbarnationen im Hinblick auf die
gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Staatsbürgerschaft
zurückzustellen. 19 Im Gefolge des Grabens
entstand auch der Begriff «Romandie», der die
Distanz zu Bem und Pans in gleicher Weise betonte. 20
Nach 1918 verlor das Malaise zwischen Deutsch
und Welsch fast plötzlich an Bedeutung, obwohl die
Schweizer Behörden kaum praktische Massnahmen
ergriffen hatten. Versöhnend wirkte die Bundesratswahl
des Genfers Gustave Ador als Nachfolger des
gestürzten germanophilen Arthur Hoffmann im Jahre
1917. Langfristig brachte der Landesstreik von 1918
die Wende, da er den sozialen Graben des Klassenkampfes
mit voller Wucht ins öffentliche Bewusstsein
trug und die sprachlich-kulturellen Streitigkeiten verdrängte.
3. Die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg
im Zeichen der geistigen Landesverteidigung:
Während die Staatstheoretiker im späten 19. Jahrhundert
die Vielsprachigkeit noch als Hemmfaktor für den
nationalen Zusammenhalt einstuften, begannen die
Politiker und Intellektuellen nun die Mehrsprachigkeit
zur eigentlichen Staatsidee emporzustilisieren. Durch
den gemeinsamen Widerstand aller vier Sprachgemeinschaften
gegen die totalitären und ethnonationalistischen
Volkstumsideologien des Nationalsozialismus
und des Faschismus formte sich in der Periode von
1920 bis 1940 das multinationale Staatsbewusstsein
der Schweizer endgültig heraus. 21 1938 nahm das Volk
demonstrativ einen neuen Sprachenartikel in die Bundesverfassung
auf, der das Rätoromanische zur vierten
Landessprache erklärte.
4. Wohlwollende Gleichgültigkeit 1945-1970:
Nach dem Zweiten Weltkrieg prägte der Ost-West-Konflikt
die geistige Landschaft der Gesellschaft. In
den langen fünfziger Jahren beherrschten Wirtschaftswachstum
und Wohlstand sowie der Ausbau des Sozialstaates
die Politik. Die Sprachenfragen wurden
überdeckt. Zwischen den Landesteilen bestand eine
wohlwollende Gleichgültigkeit; auf politischer und
sozialer Ebene dominierte bis 1965 die Konkordanzstimmung.
Selbst im Kanton Freiburg, wo die frankophone
Mehrheit jahrzehntelang ängstlich an ihrer
Hegemoniestellung festhielt und die deutschsprachigen
Freiburger faktisch diskriminierte, konnte die
deutschsprachige Minderheit ihre Stellung verbessern.
1960 erhielt die deutsche Minderheit zwei Staatsräte,
was dem kantonalen Sprachenproporz entsprach. 22
5. Der Vormarsch des Sprachenregionalismus
nach 1970: Gegen Ende der sechziger Jahre änderte
sich das einvernehmliche Klima zwischen Deutsch
und Welsch und führte zunächst zu punktuellen Konflikten.
Die Diskussionen entzündeten sich an der
Besetzung hoher Posten in der Bundesverwaltung oder
in der Armee, bei denen die Romands übergangen wurden.
Die Welschen beklagten sich auch darüber, dass
das Französische im Alltag der Bundesverwaltung eine
schwache Stellung besässe. In den achtziger Jahren
kritisierten sie den Vormarsch des Dialekts in den elektronischen
Medien der deutschen Schweiz und warnten
vor einer Hollandisierung. 23 Wenn sich die Schweizer
Mundart in Richtung einer eigenen Sprache
entwickle, drohe den Deutschschweizern eine ähnliche
Marginalisierung ihrer Sprache wie den Niederländern.
Es wäre indessen falsch, in den siebziger und
frühen achtziger Jahren von einem «welschen Nationalismus»
zu sprechen. Eine «identité romande» existierte
nicht. Allerdings nahm die «idée romande», die
früher hauptsächlich literarischen Charakter besass,
nun politische Züge an. Als 1981 die «Association
romande de solidarité francophone» eine trikoloreähnliche
Romandie-Fahne lancieren wollte, war das Echo
in der Westschweiz aber reserviert. 24 1982 erschien
von Alain Charpilloz und Geneviève Grimm-Gobat die
Schrift «La Romandie dominée», die das Vetorecht der
sprachlichen Minderheiten propagierte. 1984 lancierte
der Freiburger Georges Andrey den Neologismus
«Romandisme». 25
Den grössten Erfolg verbuchte das ethnonationale
Denken bei der Entstehung des Kantons Jura in den
siebziger Jahren. 26 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte
das separatistische «Rassemblement jurassien»
den Konflikt zu ethnisieren und den zugewanderten
Deutschschweizern das Stimrnrecht in der Abstimmung
über die Trennung des Juras vom Kanton Bern
abzusprechen. Roland Béguelin wollte die Schweiz
umbauen und die Romandie zu einer «entité intermédiaire»
zwischen den Kantonen und der Eidgenossenschaft
machen. Bemerkenswerterweise stiess der Rassemblement-Führer
mit seinen Postulaten zum
«ethnischen Föderalismus» in der welschen Schweiz
auf keine Gegenliebe.
Die Kaskade der Volksabstimmungen, die 1974
eine knappe Mehrheit für die Gründung des neuen
Kantons ergab, liess im Jura die jahrhundertealte Konfessionsgrenze
hervortreten. Die ethno-linguistischen
Thesen der Separatisten, die von einer Einheit des Jura
ausgegangen waren, wurden nicht bestätigt. Die französische
Sprache allein genügte nicht, den neuen Kanton
zu konstituieren.
Schleichende Belgisierung der Schweiz?
Am Ende des 20. Jahrhunderts befindet sich die
Schweiz in einer ähnlichen Lage wie zu Beginn des
Saekulums: Die Sprachgruppen streben auseinander.
Ohne Zweifel nimmt der Sprachenregionalismus zu
und lässt die politischen Grenzen der Kantone und die
weltanschaulichen Barrieren der klassischen Parteimilieus
in den Hintergrund treten.
Die Mehrheit der Deutschschweizer überstimmt
ohne Skrupel die Romands in den Europafragen und
schafft damit einen psychologischen Graben. Die Tessiner
schwanken zwischen einem saturierten Réduitdenken
in der Wohlstandsprovinz und einer oszillierenden
Faszination für die wiederentdeckte Lombardei.
Und die Welschen ziehen sich in den
Schmollwinkel einer künstlich stilisierten Romandie
zurück.
In der Westschweiz blieben freilich die kulturseparatistischen
Tendenzen nicht unwidersprochen. Der
Historiker Pierre du Bois schrieb 1984: «Mais existe-t-il
une conscience romande positive? Les réactions
minoritaires ne semblent pas déboucher sur une
romandisation des esprits. A l'usage, les clivages traditionnels
demeurent. Et demeurent les consciences qui
les sous-tendent. Même au moment où la question des
langues, au début du siècle, trouble la Suisse, l'idée
romande reste circonscrite à des cercles très
restreints.» 27
Auf der anderen Seite postulierte im Herbst 1992
der Genfer Staatsrat Guy-Olivier Segond anlässlich
einer vom «Nouveau Quotidien» und vom Westschweizer
Fernsehen organisierten Tagung in Glion
die Bildung eines mit Entscheidungskompetenzen ausgestatteten
Rates der französischsprachigen Kantone. 28
Die Stimmung ist ambivalent.
Fällt die Schweiz in Sprachenblöcke auseinander?
Die kulturelle Krise zwischen den Sprachgemeinschaften
ist so schwerwiegend, dass wir eine Auslegeordnung
der Probleme vornehmen müssen. Welche
Faktoren sind für die schleichende Belgisierung verantwortlich? 29
1. In dem Masse, in dem sich die traditionellen
Bindungen der klassischen Parteimilieus nach 1970
lockerten, wurden die orientierungslos gewordenen
Menschen für neue politische Heilslehren anfällig.
Dabei boten sich — scheinbar — natürliche Kategorien
wie die Sprache als Integrationselemente an. Je mehr
sich die von der Konsumwirtschaft bestimmten Moden
anglichen, desto stärker wuchs in den Menschen das
Bedürfnis, sich wenigstens in der kulturellen Identität
voneinander zu unterscheiden. Damit gewann die
Sprachenfrage an Bedeutung, ohne dass dies der politischen
Öffentlichkeit zunächst bewusst wurde.
2. Nachdem die konfessionellen Fragen des Kulturkampfes
und die sozialen Themen des Klassenkonfliktes
weitgehend aus den öffentlichen Debatten verschwunden
waren, traten zum Teil sprachenpolitische
Themen an deren Stelle. Für Quebec und Flandern wiesen
Sozialwissenschaftler nach, dass der Regionalismus
an Stärke gewann, als die Kirchen ihre gemeinschaftsbildende
Kraft verloren.
3. Die Dominanz der Deutschschweiz in Politik
und Wirtschaft schuf unter den sprachlichen Minderheiten
ein Reizklima. Minderwertigkeitskomplexe regten
sich, die Gruppenidentität wuchs.
Als Reaktion betonen die Romands ihren Minderheitenstatus
stärker und unterstreichen die kulturelle
Differenz, was in eine politische Rebellion umschlagen
kann. Der Druck aus der Deutschschweiz hat zur
Folge, dass die französischsprachigen Schweizer ihre
kulturelle Eigenart vermehrt hervorheben und zu ihrer
Verteidigung die Romandie als künstliche Einheit
erfinden.
Dieses Phänomen ist nicht neu, erhält aber neue
Facetten. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts
bestand ein welsches Inferioritätsgefühl gegenüber der
wirtschaftlich stärkeren deutschen Schweiz, das sich
damals in einem spezifisch welschen Patriotismus
äusserte. 30
Zahlreiche Politiker und Intellektuelle erklären
die Wirtschaftsprobleme der Westschweiz nicht mehr
mit sozioökonomischen, sondern mit kulturellen oder
sogar ethnischen Faktoren. Probleme wie Arbeitslosigkeit
und Wohnungsnot und die damit verbundenen
sozialen Ungleichheiten werden als Folgen ethno-linguistischer
Differenzen wahrgenommen. Die Wirtschaftsmetropole
Zürich erscheint vielen Romands als
Inbegriff der hässlichen Deutschschweiz, die die lateinische
Schweiz erbarmungslos an den Rand drängt.
Gerade im Jahre 1996 verletzten Unternehmen wie die
«Swissair», die «Novartis» und «Feldschlösschen» mit
ihren ökonomisch motivierten Entscheiden die Gefühle
der Welschen.
4. Den Massenmedien kommt in diesem Wandlungsprozess
eine Schlüsselrolle zu. Bis um 1970
besassen die Westschweizer Kantone politische
Öffentlichkeiten, die mehr oder weniger auf die kantonale
Politik ausgerichtet waren. Mit der Pressekonzentration
entstanden in Lausanne und Genf überregionale
Zeitungen, die sich an das gesamte Welschland wenden.
Dadurch entsteht im öffentlichen Raum unter dem
Druck der Medien und der Politik allmählich eine segregierte
Gesellschaft, die von Klischees und Vorurteilen
geprägt ist. Die gewöhnlichen Leute, die am Stammtisch
oder im Gesangsverein schiedlich und friedlich
miteinander zusammenleben, fangen in den Zeitungen
und in den Ratssälen an, die imaginierte Gemeinschaft
der Romands oder der Deutschsprachigen zu verteidigen.
Strassenschilder, Bahnhofbeschriftungen und
Zugsankündigungen werden zu ersten ethno-linguistischen
Schlachtplätzen.
Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass die
Schweizer lieber auf die Medien des sprachverwandten
Nachbarlandes ausweichen, als das Radio und das
Fernsehen der anderssprachigen Landsleute zu benutzen. 31
Das hat zur Folge, dass die sprachenregionale
Aufteilung und damit die latente Ethnisierung im
Bewusstsein der Menschen voranschreiten. Deutsch-,
Französisch- und Italienischschweizer betrachten die
Welt durch verschiedene Brillen. Am besten kann man
dies in der zweisprachigen Stadt Freiburg jeden Morgen
an den unterschiedlichen Presseaushängen feststellen.
5. Im Zusammenleben zwischen der deutschen
und lateinischen Schweiz erschwert der unterschiedliche
Stellenwert der gesprochenen und geschriebenen
Sprache das gegenseitige Verständnis. Ohne Zweifel:
die Dialekte der Deutschschweizer vergrössern die
Sprachenbarrieren. Dennoch dürfen wir nicht vergessen,
dass für die Deutschschweizer der Dialekt ein
wesentliches Identitätsmerkmal darstellt, um sich
von den Deutschen zu unterscheiden. Ausserdem
verkörpern die Mundarten die politische Vielfalt der
Kantone.
Für den nationalen Zusammenhalt der Schweiz
hatte dies Vorteile: Weil die Deutschschweizer bisher
ein äusserst fragmentiertes Sprachenbewusstsein
besassen, strebten sie keine kulturelle Vereinheitlichung
an. Ihre partikularistische Mentalität hatte zur
Folge, dass sie trotz ihrer zahlenmässigen Stärke keine
ernsthaften Anstalten trafen, ihre Sprache zum Merkmal
des schweizerischen Staates zu machen und sie als
Staatssprache den andern Sprachgruppen aufzuzwingen.
Es waren nicht zuletzt die Mundarten, die die Germanisierung
der Schweiz verhinderten. Wenn man
über die Nachteile der Dialektwelle spricht, darf man
dies nicht ausser Betracht lassen.
Eine gegenläufige Tendenz ist nicht zu unterschätzen:
Je mehr sich die Deutschschweizer über die
elektronischen Medien, vorab über das Fernsehen, in
den hochdeutschen Sprachraum integrieren und ein
Standarddeutsch zu sprechen beginnen, desto mehr
wächst die kulturelle Nivellierung. Auch im alemannischen
Teil bestehen sprachnationale Tendenzen, die
dazu führen können, dass kulturimperialistische
Attitüden entstehen.
An der Wurzel des Verständigungsproblems steht
nicht der Dialekt, sondern die mangelnde Sprachenkompetenz
auf beiden Seiten. Die Romands, die sich
über die Mundartwelle in Radio und Fernsehen der
deutschen Schweiz aufregen, lesen kaum Deutschschweizer
Zeitungen, obwohl diese durchaus in einem
korrekten Hochdeutsch verfasst sind. Umgekehrt
benutzen die Deutschschweizer und die Tessiner das
welsche Fernsehen und Radio nicht häufiger, auch
wenn sie dort nicht auf die Dialektbarriere stossen. In
diesem Zusammenhang könnte allerdings die Wirtschaftskrise
eine positive Wirkung auf die Beziehungen
der französischen zur deutschen Schweiz ausüben.
Durch die verschärfte Situation auf dem Arbeitsmarkt
sehen sich nämlich viele Romands und Deutschschweizer
veranlasst, sich bessere Fremdsprachenkenntnisse
anzueignen, um so ihre Chancen am
Arbeitsplatz zu verbessern.
6. Als eigentliche Bedrohung der Vielsprachigkeit
der Schweizer ist der Vormarsch des Englischen als
Kommunikationssprache in Wirtschaft, Technik und
Hochschulen anzusehen. Die Landessprachen verlieren
ihre Bedeutung als Zweitsprache. 32
Krise der schweizerischen Viersprachigkeit
Ins öffentliche Bewusstsein traten die latenten
Spannungen zwischen der deutschen und der welschen
Schweiz wie ein Donnerschlag am 6. Dezember 1992
nach der Volksabstimmung über den Beitritt zum
«Europäischen Wirtschaftsraum» (EWR). Einmal
mehr sah sich die französische Schweiz durch die
Deutschschweizer majorisiert.
Da die Medien seit 1970 dem Sprachenthema
hohe Aufmerksamkeit schenken, rücken die Resultate
der Volksabstimmungen regelmässig in den Brennpunkt
der öffentlichen Debatte. Diese Perspektive entspricht
der Tatsache, dass das Stimmverhalten der
Schweizer seit den siebziger Jahren stärker vom Sprachenfaktor
bestimmt wird.
Trotzdem bezeichnen die Schweizer die Sprachenfrage
in Umfragen nicht als vordringliches Problem.
Wir dürfen uns nicht täuschen lassen. Viele
Deutschschweizer neigen wie alle Mehrheiten dazu,
die Probleme der Minderheiten zu übersehen oder zu
bagatellisieren.
Die Krise der schweizerischen Mehrsprachigkeit
ist nicht zu bestreiten. Die viersprachige Schweiz läuft
im ausgehenden 20. Jahrhundert Gefahr, in Sprachenblöcke
auseinanderzufallen. Überall kommen ethno-linguistische
Tendenzen auf. Soziale Konflikte werden
ethnisiert und bekommen damit einen scheinbar unabwendbaren
Charakter.
Zahlreiche Deutschschweizer beginnen im Rückgriff
auf eine idealisierte Vergangenheit die Festung
Schweiz gegenüber dem Ausland abzuschotten. Auf
der andern Seite öffnen sich viele Welsche zwar dem
neuen Europa, verschliessen sich aber in einem ähnlichen
Ethnozentrismus den «confédérés» jenseits der
Saane. Xenophobie bleibt Xenophobie, auch wenn
sie sich —bloss —gegen die eigenen Landsleute richtet.
Was den einen der antieuropäische Helvetismus ist,
ist den andern der antialemannische Romandismus.
Beide Ethnozentrismen stellen eine Art von kulturellem
Populismus dar, der die Ängste der Menschen ausnutzt
und die komplexen Probleme der Gesellschaft
mit simplizistischen Klischees und Vorurteilen ethnisiert.
Hüben und drüben werden Merkmale wie Nation
oder Sprache gegen jedes Hinterfragen immunisiert und
für die eigenen Zwecke politisch instrumentalisiert.
Die Krise der helvetischen Mehrsprachigkeit ist
eine Krise der Gleichgültigkeit, in der die Formel von
der Einheit in der Vielfalt zur nichtssagenden Phrase
verkommt. 1965 schrieb Denis de Rougemont, dass die
Schweiz deshalb gut funktioniere, weil die Schweizer
durch die politischen Institutionen miteinander verbunden
seien, sonst aber in ihren eigenen Regionen
und Kantonen ohne grosse gegenseitige Kenntnisse
leben würden. 33
Am Ende des 20. Jahrhunderts ist diese These
nicht mehr gültig. Wie René Knüsel, Hanspeter Kriesi
und andere richtig feststellen, haben die wirtschaftlichen
und politischen Interdependenzen auf nationaler
und internationaler Ebene derart zugenommen, dass
eine passive Koexistenz nicht mehr ausreicht. 34 Bis
1950 reagierten die Schweizer auf interkulturelle Probleme
mit einem föderalistischen Reflex, der es den
Sprachgemeinschaften ermöglichte, ihr Leben in den
Kantonen mehr oder weniger nach eigener Façon zu
gestalten. Diese Strategie versagt am Ende des 20.
Jahrhunderts.
Und schliesslich eine letzte Bemerkung: Die Globalisierung
der Wirtschaft rückt das Englische derart in
den Vordergrund, dass die jungen Schweizer neben
ihrer Muttersprache eine andere Landessprache nur
noch halbbatzig und halbherzig lernen. Die viersprachige
Schweiz läuft Gefahr, zu einer anderthalbsprachigen
(= 1 1/2) Schweiz abzusinken. Immer deutlicher
zeigt sich, dass die Strategie des Laisser-faire-Laisser-aller
in der Sprachenfrage nicht mehr
genügt. Wenn sich der Proporz im Bereich der Politik
als Selbstverständlichkeit für den Umgang mit Minderheiten
durchgesetzt hat, muss sich das Proporzdenken
auch in der Wirtschaft ausbreiten. Von den 100
grössten Schweizer Firmen haben nur 16 ihren Hauptsitz
in der französischen und bloss eine in der italienischsprachigen
Schweiz. 35 Die Eidgenossenschaft
braucht sprachenpolitische Regeln, an die sich auch
die Wirtschaft über alles Profitdenken hinaus halten
muss.
Neue Spielregeln
Noch weist die Schweiz im europäischen Vergleich
eine hohe soziale Kohäsion auf. Die traditionellen
Institutionen der Politik halten die Sprachgemeinschaften
zusammen. Unter der Oberfläche der politischen
Stabilität sind aber Tiefenströmungen vorhanden,
die auf eine zunehmende Ethnisierung von Gesellschaft
und Politik und damit auf die Bildung von Sprachenblöcken
hindeuten. Vorläufig wirkt der Wohlstand
noch als Kohäsionsfaktor.
Noch im Jahre 1966 konnte der Historiker Herbert
Lüthy festhalten, dass die Schweiz mit Erfolg vermieden
habe, die Mehrsprachigkeit zu problematisieren. 36
Diese Haltung ist am Ende des 20. Jahrhundert anachronistisch
geworden. Die Schweiz braucht auf allen
Ebenen eine bewusste Sprachenpolitik.
Ich halte diesen Vortrag am Dies academicus 1996
der zweisprachigen Universität Freiburg. Wie keiner
andern Universität unseres Landes wächst ihr die
nationale und internationale Aufgabe der interkulturellen
Vermittlung zu. Als in Europa und der Schweiz einzigartige
Brücke zwischen dem französischen und
deutschen Sprachraum sollte die Freiburger Universität
im Hinblick auf das Bundesjubiläum von 1998
einen mutigen Schritt unternehmen und ein kulturwissenschaftliches
Institut zur Verständigung der Kulturen
und Sprachen gründen, das sich dem Verhältnis von
Mehrheiten und Minderheiten widmet.
Wenn die Eidgenossenschaft weiterhin ein
Modell für das multikulturelle Zusammenleben in
Europa bleiben will, ist es unerlässlich, dass die einzelnen
Kultur-, Sprach- und Religionsgemeinschaften
zwar ihre kulturelle Identität behalten können, darüber
hinaus aber den politischen Zusammenhalt der Staatsbürger-Nation
anstreben. Dies betonte bereits im 19.
Jahrhundert der Schriftsteller Gottfried Keller im
«Grünen Heinrich», als er die doppelte Identität der
Schweizer beschrieb —als Bürger der republikanischen
Schweiz und als Angehörige der deutschen, französischen
und italienischen Kultur.
Ein multikulturelles Gemeinwesen wie die
Schweiz kann nur existieren, wenn es sich auf die
Toleranz der politischen Kultur der Bürgergesellschaft
stützt. Ich möchte diesen Gemeinsinn in altmodischer
Weise Patriotismus nennen. Der deutsche Philosoph
Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang in
Anlehnung an Dolf Sternberger von «Verfassungspatriotismus»,
der gegenüber der Verfassung politische
Loyalität vom Bürger verlangt, aber keine Einschmelzung
der kulturellen Unterschiede in einem Eintopf
voraussetzt. 37
Was in der Schweiz notwendig ist, sind neue
Spielregeln der «political correctness», die das Zusammenleben
der Sprach- und Kulturgemeinschaften in
der Politik und Kultur, aber auch in den Bereichen der
Wirtschaft anleiten. Ohne eine bewusste Sprachenpolitik
geht es nicht mehr.
ANMERKUNGEN
in: Die Schweiz. Mit Beiträgen von Hans Elsasser u.a., Redaktion:
Hans-Georg Wehling, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988; ders., Les
rapports entre les groupes linguistiques, in: Handbuch Politisches System
der Schweiz, Bd. 3, Föderalismus, hg. von Raimund E. Germann und
Ernest Weibel unter Mitarbeit von Hans Peter Graf, Bern/Stuttgart 1986,
221-263; Iso Camartin, Nichts als Worte? Ein Plädoyer für Kleinsprachen,
München 1985: Pierre du Bois (Hg.), Union et division des Suisses.
Les relations entre Alémaniques, Romands et Tessinois aux XIXe et XXe
siècles, Lausanne 1983; Robert Schläpfer (Hg.). Die viersprachige
Schweiz, Zürich/Köln 1982; Hermann Weilenmann, Pax Helvetica. Oder
die Demokratie der kleinen Gruppen, Zürich 1951; Cyril Hegnauer, Das
Sprachenrecht der Schweiz, Zürich 1947.
minorités ethnolinguistiques autochtones à territoire: l'exemple du cas
helvétique. Lausanne 1994.