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Plädoyer für die Mathematik

Akademische Rede von

Prof. Dr. Urs Würgler, Vizerektor

Es gibt nur wenige Gebiete menschlicher Aktivität, denen eine ähnlich ambivalente Aufnahme in unserer Gesellschaft beschieden ist wie der Mathematik. Sie gehört in weiten Bereichen unseres Planeten zu den —jedenfalls vom Namen her —bestbekannten Wissenschaften, ihre Rudimente werden in unzähligen Schulstuben mit mehr oder weniger Enthusiasmus tagtäglich gelehrt und gelernt. Es wird ihr dadurch offenbar eine gewisse Nützlichkeit attestiert, vielleicht sogar ein Bildungswert, sie hat an den Mittelschulen Selektionscharakter wie Latein oder Griechisch. Trotzdem —oder gerade deshalb: Das Bild, das von der Mathematik haften bleibt, ist häufig negativ geprägt. Der Graben zwischen Schulmathematik und ihrer professionell betriebenen Schwester ist zudem tiefer als in den meisten andern Fächern, und es ist unübersehbar, dass für die Mehrheit derer, die nicht beruflich damit befasst sind, die Attraktivität aktueller mathematischer Fragestellungen und Methoden bescheiden ist. Diese werden —sofern man sie überhaupt zur Kenntnis nimmt — oft als abgehoben, fern jeglichen realen Interesses und zu abstrakt empfunden, können ohne intellektuelle Anstrengung nie und ohne weitreichende Vorkenntnisse oft kaum verstanden werden. Überdies besteht ja häufig auch keine praktische Notwendigkeit, sich um ein tieferes Verständnis der Mathematik zu bemühen.

Diese aus meiner Sicht doch recht unerfreuliche Lagebeurteilung soll mir Anlass sein, ein Plädoyer für die Mathematik zu wagen. Um so mehr scheint dies angebracht, als es heute zu Recht zur Selbstverständlichkeit geworden ist, Wissenschaft jeder Art auf ihren Gegenstand, ihre Bedeutung, ihren Nutzen und Schaden für Mensch und Umwelt ihre wirtschaftlichen

Prof. Dr. phil.-nat. Urs Würgler ist seit 1979 Professor am Mathematischen Institut der Universität Bern, dem er zurzeit als geschäftsführender Direktor vorsteht. Sein Forschungsinteresse gilt hauptsächlich der algebraischen Topologie. In den Jahren 1991 bis 1993 war er Dekan der Philosophisch-naturwissenshaftlichen Fakultät, seit 1996 ist er Mitglied der Universitätsleitung und als Vizerektor insbesondere für die Bereiche Planung, Bauwesen, Evaluation und Reporting zuständig.


Der
Satz von Fermat

Seine Vermutung stellte der französische Jurist, königliche Rat am Parlament von Toulouse und autodidaktische Mathematiker Pierre de Fermat (1601-1655) im Jahre 1635 beim Studium der «Arithmetica» des griechischen Mathematikers Diophantes von Alexandria (etwa 250 n. Chr.) auf. Diophant diskutiert in seinem Werk unter anderem ganzzahlige Lösungen der Gleichung x2+y2=z2, der Gleichung also, welche nach Pythagoras die Relation zwischen den Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks beschreibt. Diese Gleichung hat z. B. die Lösung x=3, y=4, z=5, und man kann sogar unendlich viele ganzzahlige Lösungen konstruieren. Fermat betrachtete nun die ganze Familie analoger Gleichungen xn+yn=zn, wobei n eine natürliche Zahl bedeutet, und behauptete, dass für den Fall n>2 keine dieser Gleichungen eine nichttriviale ganzzahlige Lösung zulässt. Während über 350 Jahren sind alle Versuche, diese Behauptung zu beweisen, gescheitert. 1993 kündigte Andrew J. Wiles von der Princeton University einen Beweis an, der im Herbst 1995 definitiv fertiggestellt wurde. Bei seinem Beweis konnte Wiles auf der Vorarbeit vieler anderer Mathematiker aufbauen; sein Hauptbeitrag bestand im Nachweis eines Spezialfalls einer Vermutung der beiden japanischen Mathematiker Shimura und Taniyama aus den frühen 1960er Jahren, welche von Eigenschaften elliptischer Kurven handelt, d. h. Objekten, die sich durch kubische Gleichungen der Form y2=x3+ax2+bx+c beschreiben lassen. Andere Mathematiker vor Wiles (Frey, Ribet) hatten gezeigt, dass die Vermutung von Shimura und Taniyama den Satz von Fermat impliziert. Es gibt zurzeit nicht viele Fachkolleginnen oder Fachkollegen, die das nötige Rüstzeug haben, Wiles Beweis in allen Details nachvollziehen zu können. Um so interessanter ist deshalb die Tatsache zu werten, dass Fermat in einer Randnotiz im Buch von Diophant folgende Bemerkung festhielt: «Es ist nicht möglich, einen Kubus in zwei Kuben oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in zwei Potenzen mit demselben Exponenten zu zerlegen. Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen». Der heute bekannte Beweis hat sicher wenig oder gar nichts gemein mit der Beweisidee, die Fermat vorschwebte, und es glaubt niemand ernsthaft, dass Fermat überhaupt einen Beweis für seine Vermutung hatte.

Implikationen zu hinterfragen und die an der Wissenschaft Beteiligten auf ihre Verantwortung der Gesellschaft gegenüber hinzuweisen. Fragen solcherArt muss sich auch die Mathematik gefallen lassen, und ich will hier versuchen, einige davon zu streifen und mögliche Antworten zu skizzieren.

Ein Beispiel eines mathematischen Problems

Im Gegensatz etwa zu Biologie, Physik oder Ingenieurwissenschaften hat Mathematik —gelinde gesagt — eine höchst bescheidene Medienpräsenz. Um so erstaunlicher ist deshalb die Tatsache, dass die New York Times im Juni 1993 einem mathematischen Problem eine Titelseite widmete. Der Grund für diese Aufregung war die Ankündigung, dass der englische Mathematiker Andrew Wiles die berühmte, 350 Jahre alte Vermutung von Fermat bewiesen habe, welche die Unlösbarkeit einer einfachen Gleichung behauptet. Das öffentliche Interesse, das der Vermutung von Fermat entgegengebracht wurde, beruht offensichtlich auf dem Erstaunen darüber, dass ein so elementares und allgemeinverständliches Problem derart schwierig zu lösen sein soll. Für einen Beweis der Vermutung war übrigens 1908 vom deutschen Mathematiker Paul Wolfskehl ein Preis ausgesetzt worden, der Wiles 1997 zugesprochen wurde. Wolfskehl stiftete seinen Preis gewissermassen aus Dankbarkeit: Er hatte die feste Absicht, sich aus enttäuschter Liebe an einem festgesetzten Tag Punkt Mitternacht zu erschiessen. Da er als gewissenhafter Mensch seine Abschiedsbriefe schon lange vor Mitternacht geschrieben hatte, vertrieb er sich die verbleibende Zeit in seiner Bibliothek. Hier stiess er auf eine Arbeit Kummers zur Vermutung von Fermat, die ihn dermassen faszinierte, dass ihm sein eigentliches Vorhaben erst in den frühen Morgenstunden wieder ins Bewusstsein geriet und er sich — neu motiviert durch Mathematik — entschloss. ganz davon abzulassen. Der Wolfskehl-Preis animierte eine riesige Zahl von Amateurmathematikern, sich mit Fermats Problem zu befassen, und die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, welche den Preis ausgeschrieben hatte, musste ein gewaltiges Mass an Arbeit aufwenden, um die Fehler in all den vorgeschlagenen Beweisversuchen zu finden. Arbeiten von Hobbymathematikern zu Fermats Vermutung oder auch zu andern populären mathematischen Aussagen, wie etwa dem Problem der Quadratur des Kreises, werden übrigens auch heute noch haufenweise produziert und beschäftigen mathematische Institutionen überall auf der Welt.

Ich kann nicht abschätzen, ob das Medieninteresse an der Arbeit von Wiles der Mathematik genützt hat. Es stellt sich aber mit Sicherheit die Frage, was das Wissen um die Richtigkeit der Fermatschen Vermutung der Menschheit wohl nützen könnte und was denn eigentlich während Generationen intelligente Menschen, die überdies oft zu den Besten ihres Faches zu zählen sind, dazu bringen kann, über ein solches Problem nachzudenken. Die Antwort auf die erste Frage ist einfach: gar nichts. Dass die Vermutung von Fermat richtig ist, wird wohl nicht einmal für die Zahlentheorie von grosser Bedeutung sein. Eine Antwort auf die zweite Frage kann ich Ihnen so einfach nicht geben, sie müsste auf jeden Fall die Faszination erwähnen, welche die gedankliche Auseinandersetzung mit einem mathematischen Problem erzeugen kann, eine Faszination, die in Besessenheit ausarten kann und in vielen Teilen vergleichbar ist mit derjenigen eines Künstlers in

ständiger kreativer Auseinandersetzung mit seinem Werk. Sie müsste aber auch Aspekte mit einbeziehen, die Ähnlichkeit haben zu den Motivationen eines Langstreckenläufers, der keine Entbehrungen scheut, um in seiner Disziplin zu den Schnellsten zu gehören.

Stellt man allerdings die erste Frage ein wenig anders, fragt man, was die Beschäftigung mit Fermats Vermutung der Mathematik gebracht hat, lautet die Antwort ganz klar: sehr viel. Die ungezählten Versuche, einer Lösung des Problems näherzukommen, haben der Mathematik eine grosse Zahl neuer Methoden und ganze Theorien beschert, die in vielen Gebieten innerhalb der Mathematik schon längst ihre Wirkung entfaltet haben. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Fermats Problem war eine Quelle interessanter und wichtiger neuer Fragestellungen und Konzepte, eine Art Impulsprogramm, wie sich Politiker ausdrücken würden. Solche Impulsprogramme gibt es in vielen Gebieten der Mathematik, nur sind sie meist weniger einfach darzustellen. Als Beispiele möchte ich etwa die Poincaré-Vermutung aus der Topologie nennen, welche eine Charakterisierung der 3dimensionalen Kugeloberfläche zum Gegenstand hat, oder die Riemannsche Vermutung, bei der es um die Lage von Nullstellen einer speziellen Funktion (der Riemannschen ζ-Funktion) geht. Die beiden erwähnten Probleme scheinen heute noch weit von einer Lösung entfernt und wirken stimulierend auf Gebiete der Analysis, Zahlentheorie und Topologie. Die Frage nach dem Nutzen, den die Beschäftigung mit einem solchen Problem der Gesellschaft bringen kann, ist dann letztlich gleichbedeutend mit der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Mathematik an sich. Diese Relevanz ist einmal dadurch gegeben, dass sich mathematische Theorien und Methoden, so abstrakt und entrückt sie auch scheinen mögen, dazu eignen, reale Situationen zu beschreiben und zu verstehen, wobei gerade diese Abstraktheit notwendige Bedingung für ihre vielseitige Anwendbarkeit ist. Sie hängt weiter damit zusammen, dass Mathematik für viele intellektuelle Bemühungen den Standard objektiver Wahrheit setzt und dass sie als eine der wesentlichen Errungenschaften des menschlichen Geistes ein Grundpfeiler unserer wissenschaftlich-technischen abendländischen Kultur geworden ist.

Ich will dies mi folgenden mit ein paar Beispielen und Argumenten zu belegen versuchen. Vorerst scheint es mir allerdings angebracht, ganz grob einige charakteristische Wesenszüge der Mathematik zu skizzieren.

Ein künstlerisch verfremdetes Beispiel eines topologischen Objekts: Das Möbiusband (eine nicht-orientierbare Fläche) nach C. Escher.

Gegenstände der Mathematik

Wie jede andere Wissenschaft auch definiert sich die Mathematik letztlich durch den Typ der Objekte, mit denen sie sich beschäftigt, und die Art und Weise, in der sie das tut. Zu den klassischen und wohlbekannten Gegenständen der Mathematik gehören etwa Zahlen, geometrische Figuren, Gleichungen, Funktionen. Mathematiker beschäftigen sich aber auch mit n-dimensionalen Geometrien, unendlichdimensionalen Funktionenräumen, algebraischen Varietäten, dynamischen Systemen oder partiellen Differentialgleichungen.

Ein Beispiel zur axiomatischen Methode: der Flächeninhalt von Polygonen

Man lernt früh in der Schule, wie der Flächeninhalt von Dreiecken, Vierecken usw zu berechnen ist. Für den Mathematiker stellt sich allerdings vorerst die Frage, was man unter dem Flächeninhalt von Vielecken (Polygonen) überhaupt verstehen will. Eine Antwort darauf kann als typisches Beispiel für die Methode der Definition eines Objekts durch Eigenschaften (Axiome) betrachtet werden. Bedeutet P die Gesamtheit aller Polygone in der Ebene, so will man offenbar jedem Polygon P, d.h. also jedem Element aus P, irgendwie eine reelle Zahl φ (P) so zuordnen können, dass diese Zuordnung oder Funktion φ .P->R (R bedeutet die Menge der reellen Zahlen) unserem intuitiven Verständnis dessen, was ein Flächeninhalt sein sollte, entspricht. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass eine solche Flächeninhaltsfunktion D"