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Religion und Theologie des Diesseits

Akademische Rede von

Prof. Dr. Silvia Schroer
Prof. Dr. theol. Silvia Schroer ist seit 1997 Professorin für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern. Ihr besonderes Forschungsinteresse gilt zum einen der Ikonographie und Religionsgeschichte Palästinas/Israels und des Alten Orients und deren Bedeutung für das Verständnis biblischer Texte sowie zum anderen der feministischen Exegese (unter anderem der Weisheitsschriften), die sie im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren massgeblich mitbestimmt und durch zahlreiche Publikationen bekannt gemacht hat.

Vor zwei Jahren erschien an dieser Stelle ein «Plädoyer» für die Mathematik von Herrn Prof. Dr. A. Würgler, im vergangenen Jahr eine «Kurzgeschichte der Schweizer Zahnmedizin im 20. Jh.» von Herrn Prof. Dr. U. Geering. Nun kann ich mit einer Kurzgeschichte der Schweizer Theologie nicht dienen, obwohl die sehr spannend wäre. Wenn ich nun aber ein Plädoyer für die Theologie halte, dann wird es bald eine Tradition der Plädoyers für verschiedene Fächer geben. Diese Verantwortung will ich nicht auf mich nehmen. Wenn zudem schon die Mathematik, deren Notwendigkeit sogar von Leuten anerkannt sein dürfte, die ohne Taschenrechner mit einer einfachen Addition Probleme haben, ihre gesellschaftliche Bedeutung auszuweisen gezwungen ist, wie soll dann die Defensio für die Theologie glücken, die ein Teil unserer Zeitgenossinnen zweifellos für vollkommen verzichtbar hält? Tatsächlich liegt die Theologie eindeutig nicht im Trend der modernen Wissenschaft, deren Massstäbe von Naturwissenschaften und Technik vorgegeben werden. In der universitären Landschaft geniesst sie inzwischen Artenschutz, wie eine selten gewordene Tierart, die vom WWF protegiert wird. Auch Gott scheint in unserer Gesellschaft mehr und mehr ein Fall für Verbände wie «pro specie rara». Eine solche Situation treibt in die Apologetik, auf die das Christentum von Anfang an besonders spezialisiert war, und ich könnte jetzt darlegen, dass auch in der Theologie empirisch gearbeitet wird, dass man zum Beispiel über das alte Israel durchaus etwas wissen kann, harte historische Facts. Wir sind keineswegs den ganzen Tag mit Spekulationen und reinen Glaubensfragen beschäftigt. Ich widerstehe auch dieser Versuchung und versuche stattdessen, Ihnen durch einige Informationen die Spezies Theologie näher zu bringen und damit vielleicht auch ans Herz zu legen.

Die christliche Religion hat seit ihren Anfängen in der Jesusbewegung sehr stark mit einem Leben und einer himmlischen Welt jenseits des Sichtbaren, jenseits des Todes gerechnet. Über Jahrhunderte haben ChristInnen ihr ganzes Dasein auf die andere Welt und deren Mächte ausgerichtet. Die individuelle Auferstehung, Erlösung aus und ein Leben nach dem Tod blieb in vielfältigen Variationen das zentrale Thema der christlichen Religion und damit der ganzen Kultur. Davon ist in unserer Gesellschaft nicht mehr viel übrig geblieben. Himmel, Hölle, Fegefeuer und das Jüngste Gericht interessieren die meisten modernen ZeitgenossInnen nicht mehr existenziell, wohl noch als kulturgeschichtlich spannendes Thema einer Museumsausstellung. 1 Wer rechnet heute noch mit einem Tun-Ergehen-Zusammenhang über die Todesgrenze hinaus? Immer mehr ChristInnen greifen zu missverstandenen Reinkarnationsvorstellungen fernöstlicher Herkunft, wenn sie vom Leben nach dem Tod sprechen. Offenbar hat die christliche Tradition selbst betreffs Jenseitsglauben ihr Territorium weitgehend verloren.

Als Alttestamentlerin schockiert mich diese Entwicklung als solche nicht. Die hebräische Bibel dokumentiert nämlich eine vollkommen diesseitige Religion, in der JHWH, Israels Gott, als Gott der Lebenden, und eben nur der Lebenden, gilt. Die PsalmenbeterInnen weisen diesen Gott immer wieder darauf hin, dass es in seinem eigenen Interesse liege, sie vor der Scheol und aus der Scheol zu retten, weil im Totenreich, über das JHWH nicht herrscht, das Gotteslob verstummt (Pss 6,6; 88,11-13). Auch König Hiskija von Juda betet in grösster Not zu seinem Gott:

Nicht bekennt dich mehr die Unterwelt.
Und der Tod, rühmt er dich noch?
Nicht mehr harren, die zur Grube fahren,
deiner Treuverbundenheit entgegen.
Nur wer lebt, wer lebt, der preist dich,
so wie ich es heute tue. (Jes 38,18f)
Die Hoffnung, dass die Gottesbeziehung eines einzelnen Menschen über
dessen Tod hinausgehe, wird in der hebräischen Bibel nur sehr vorsichtig
und erst spät angedeutet (Ps 73,23-26). Sie ist ein deutliches Zeichen für
die langsam einsetzende Wende von einer religiösen Identität, die durch das
Kollektiv bestimmt war, hin zum Individuum. Noch in Ezechiel 37, einem Text der
Exilszeit, geht es, wenn auch im Bild der Wiederbelebung von menschlichen
Skeletten, sinngemäss nur um die Auferweckung einer Gemeinschaft, die sich
als tot erfährt. 2 Religion war also für einen Israeliten, eine Israelitin Teil des
Lebens, sie endete radikal mit dem Tod, gegen den man zwar mit jeder Faser
rebellierte, wenn er zu früh und ungerecht kam, der aber als Grundgegebenheit
menschlicher Existenz nicht im Mindesten hinterfragt wurde. Sogar in der
erwarteten Heilszeit wird noch gestorben, allerdings erst mit weit über hundert
Jahren (Jes 65,20). Das alles ist angesichts der damals niedrigen Lebenserwartung

von vierzig Jahren bei Männern und weniger als dreissig Jahren bei Frauen erstaunlich, ebenfalls erstaunlich, weil es in Ägypten zur gleichen Zeit ausgeprägte Jenseitsvorstellungen gab, die das kurze, heiss geliebte Leben zu verlängern suchten. In Israel hat man sich durchaus auch Gedanken gemacht, wie und wo die Toten existieren —die Scheol gleicht dem homerischen Hades mit seinen Schatten (vgl. Jes 14,4b-23) —, es gab Ahnenverehrung und Totenbeschwörung (1 Sam 28), aber als Leben galt diese postmortale Weiterexistenz eindeutig nicht, sie war kein Anlass für frohe Erwartungen. Dementsprechend findet sich auch in der Anthropologie des alten Israel kein Hinweis auf unsterbliche Anteile menschlichen Lebens. 3 Der Mensch wird durch Gottes Atem oder die göttliche Geisteskraft ruach zu einer lebendigen näfäsch, d.h. einem begierigen, bedürftigen Wesen. Wenn so ein der Vergänglichkeit allen Fleisches ausgesetzter Erdling stirbt, dann geht der Leben stiftende Hauch Gottes zu Gott zurück, genau wie bei den Tieren (Koh 3,19-21), da wird wieder Erde und da bleibt nichts Wesenhaftes, nur der Name, der in der Familie weiterlebt. Die Septuaginta hat, indem sie näfäsch mit psyche übersetzte, das griechische Menschenbild der Philosophen in die israelitische Überlieferung eingetragen. Diesen galt die Seele als der wertvollere und unsterbliche Teil des Menschen gegenüber dem Leib, und schon einige Vorsokratiker waren überzeugt, dass die Seele im Leib ein Gefängnisdasein fristet und dass sie wandern muss. Solche Ideen waren Israel ganz fremd.

In diesem israelitischen Erbe liegt eine ungemein grosse Herausforderung, und ich gestatte mir, auch wenn jetzt unweigerlich die Frage nach dem Neuen Testament kommen muss, diese theologische Abteilung zugunsten der gebotenen Kürze für einmal nicht zu öffnen. Es ist möglich, gottesfürchtig zu leben, ohne sich hauptsächlich mit dem Leben nach dem Tod zu beschäftigen. Es ist möglich, wenngleich schwierig —und davon reden die alttestamentlichen Texte ehrlicherweise viel —, den Tod als radikale Grenze zu akzeptieren und dennoch, ohne Angst vor Strafe und Gericht «danach», in Gerechtigkeit zu wandeln. Allerdings hat man in Israel wie auch in den umliegenden Kulturen sehr wohl mit dem machtvollen Einfluss der Gottheit auf das Diesseits gerechnet. Segen und Fluch lagen in ihrer Hand, und es galt, Segen zu erlangen. Der erhoffte Segen für den Einzelnen wie für das ganze Land war keine spirituelle Grösse, sondern in der damaligen agrarischen Gesellschaft sehr konkret (Lev 26,3-9; Dtn 7,12-16; 28,1-14): Der Regen, der zur rechten Zeit fällt und die Saat aufgehen lässt, die gute Ernte und reichlich vorhandene Nahrung, der grünende Baum, die grösser werdende Kleinviehherde und das säugende Muttertier mit seinem Jungen, das Land, das man in Ruhe und von Kriegen verschont bewohnen darf, die Schwangere, die sich vermehrende Kinderschar, die vollen Brüste der Frau (Gen 49,25), Gesundheit und guter Schlaf (vgl. Ps 127,2), ein freundlich zugewandtes Gesicht und der Tag der Ruhe von der harten Arbeit. Fast alle diese Segnungen sind in der Bildkunst Palästinas/Israels zu Ikonen verdichtet worden, die gleichermassen als Amulette und Gebete verstanden werden

können (Abbildungen 1-3). Als Quelle oder Urheber des Segens gilt den Verfassern der biblischen Texte JHWH bzw. der Ort seines irdischen Wohnens, der Tempel. Im Grunde dient der Erlangung dieses so konkreten Segens der gesamte Kult- und Opferbetrieb, die Errichtung und Einhaltung des Rechts, die prophetische Kritik und die weisheitliche Beschäftigung mit den in der Welt erkennbaren göttlichen Ordnungen, kurz alles, was uns da überliefert wurde: Tora, Nebiim und Ketubim (Gesetz, Propheten und Schriften).

Abb. 1: Fruchtbarkeit und viele Kinder bedeuteten im Alten Orient Segen. Die in der Pressform hergestellte Terrakottafigur aus Revadim in Israel (1500-1300 v.Chr.) zeigt eine der schon in kanaanäischer Zeit verbreiteten Ikonen, die solchen Segen beschwören. Die Frau oder Göttin öffnet ihren Schoss. An ihren Oberschenkeln sind Wildziegen an Palmbäumen, ebenfalls ein Bild der Vitalität und des Gedeihens, zu sehen. An jeder Brust nährt sie einen Säugling. Am Hals trägt sie ein omegaförmiges Zeichen, Symbol des göttlichen Mutterschosses. (QD 134 S. 85 Abb. 82)

Abb. 2: Eine Malerei auf einem Vorratskrug aus Megiddo in Mittelpalästina (14.113. Jh. v.Chr.) stellt das über Jahrhunderte beliebte Motiv der Ziegen am heiligen Baum dar, hier noch erweitert um zahlreiche Vögel (vgl. noch Ez 31,3-9 und Mk 4,32 par). Der Baum ist stilisiert, ein Symbol Leben spendender Kräfte. Das ganze Ikon wiederum ist ikonographisch traditionell mit den Göttinnen des Vorderen Orients verbunden, unter deren Patronat mächtige Bäume (hebr. elah bedeutet «Baum» und «Göttin») und das Kleinvieh trotz der Entwicklung zum JHWH-Monotheismus blieben. (QD 134 S. 65 Abb. 54)

Meine alttestamentlichen Kollegen werden vielleicht finden, so einfach sei es nicht, und werden das Höhere, um das die biblischen Texte sich angeblich kümmern, verteidigen. Aber ich habe die Archäologie auf meiner Seite. In Schichten des ausgehenden 8. und des 7. Jh. v.Chr. sind in Juda an verschiedenen Orten, auch in Jerusalem, Hunderte von so genannten Pfeilerfigurinen gefunden worden (Abbildung 4), kleine, einfach gearbeitete Terrakotten von Frauen mit vollen Brüsten, die man in jedem israelitischen Haus aufstellte und manchmal als letzten Segensgruss den Toten mit ins Grab gab. Die vollen weiblichen Brüste verkörpern, wie übrigens in der biblischen Metaphorik auch, das fast unstillbare Verlangen nach einem Leben in Fülle, nach Sättigung und Erotik, und sie standen offenbar im Zentrum gelebter Religiosität. Die «pillar figurines» haben seit Jahrzehnten die Exegeten ungemein beschäftigt, vor allem weil sie nicht recht in den israelitischen Monotheismus einzuordnen waren. Die Irritation besteht aber wohl auch darin, dass die Segensikonen uns zwingen, die biblisch bezeugte Frömmigkeit vom Kopf auf die Füsse zu stellen, ihre Erdverbundenheit wahrzunehmen. 4

Radikal diesseitig an Gott glauben. Die christliche Theologie ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts damit beschäftigt, an Diesseitsbezogenheit zu gewinnen. Einst Mutter aller Wissenschaften, hat sie ihre Kinder entlassen, sie hat ihre grössere Eigenständigkeit gegenüber den Kirchen erkämpft, aber ihre

Macht zusammen mit den Kirchen eingebüsst und ist zu Bescheidenheit gekommen, ja zu Demut. Sie wurde in die geschichtliche Verantwortung genommen und ist, wenn auch wohl immer etwas zu langsam, dabei, sich ihr zu stellen. Als ich 1977 in Münster/Westf. mein Studium der katholischen Theologie aufnahm, entwickelte Johann Baptist Metz 5 dort seine politische Theologie, die vor allem eine Theologie nach Auschwitz war und ist, eine bis ins Mark erschütterte christliche Theologie, die allmählich begriff, wie viel sie zur Schoa beigetragen und wie viel sie, als es um Leben und Tod von Millionen jüdischer Menschen ging, eben nicht getan hatte. Fast gleichzeitig näherte sich die nächste massive Infragestellung, diesmal von Westen. Lateinamerikanische Theologen, sämtlich in Europa ausgebildet, erlitten mit der weitgehend auf Ideengeschichte fixierten europäischen Theologie, die sie gelernt hatten, in ihren Ländern Schiffbruch. Angesichts der Masse der armen Campesinos und der verelendeten Grossstadtbewohnerlnnen inmitten von Korruption und Gewalt begannen Gustavo Gutiérrez und viele andere von der Praxis her eine neue christliche Theologie, die Befreiungstheologie, zu entwickeln, die sich durch einen erkenntnistheoretischen Bruch, eben den Primat der Praxis, von der europäischen Theologie abgrenzte. 6 Von allen Enden der Welt kamen dann befreiungstheologische Anfragen, und die europäische Theologie musste sich ihrer Verhängung mit der Conquista und den vielen Formen des alten und neuen Kolonialismus stellen. Etwa zehn Jahre später folgte das nächste Erdbeben, ausgelöst durch die zweite Frauenbewegung, die in den 80er Jahren ausgehend von den USA auch in Europa auf die Theologie übergriff. Feministische Theologinnen stellten die herrschende Theologie mit ihren radikalen Fragen nochmals komplett auf den Kopf. «Nennt uns nicht Brüder», hiess einer der ersten ihrer Buchtitel im deutschsprachigen Raum. Hartnäckig zerrten sie die frauenverachtenden Anteile dieser Theologie ans Licht und wiesen ihr einen fast absoluten Androzentrismus nach, in den biblischen Texten und noch mehr deren Wirkungsgeschichte, in den Gottesbildern und der Ausprägung des Monotheismus, in der Kirchengeschichte mit ihren für Frauen im Mittelalter durchaus tödlichen Auswüchsen, aber auch in kyriarchalen Kirchenordnungen, in der Dogmatik oder einer die Frauen fast prinzipiell nicht mitdenkenden Ethik. 7 Die christliche Theologie und die Kirchen standen vor einem weiteren Trümmerfeld ungeheuren Ausmasses. Nicht weiter eingehen will ich hier auf die ebenfalls in diesem Zeitraum einsetzende heftige Diskussion, ob die christliche Tradition mit ihrem «Macht euch die Erde untertan» (Gen 1,28) der Plünderung der ökologischen Ressourcen und der unwiederbringlichen Zerstörung der Schöpfung Vorschub geleistet hat. 8 In jeder Hinsicht gleicht die europäische Theologie jedenfalls seit Jahrzehnten einer ewigen Baustelle, auf der ein ständiges Abtransportieren, Zuliefern, Umbauen und Aufbauen herrscht.

All die genannten Erschütterungen erfolgten im Zusammenhang mit dem politischen Tauwetter der Nachkriegszeit. Grenzen öffneten sich, die UNO wurde gegründet, der Tourismus nahm zu, und die Begegnung mit anderen Kulturen

und Religionen rückte in den Vordergrund. Die Theologie, gerade auch die katholische, hat an dieser Öffnung beherzt teilgenommen. Auf die Schocks, die sie dabei erlitt, hat sie vor allem in den 80er und 90er Jahren mit Redimensionierung und dem Rückzug von idealistischen Entwürfen reagiert. Politische und feministische Theologien, Befreiungstheologien und ähnliche Strömungen sind durch ihre konkreten Anliegen, ihre Sensibilität für machtpolitische, soziale und biologische Voraussetzungen theologischer Entwürfe gekennzeichnet. Der Triumphalismus wich der Ernüchterung und dem Bedürfnis, an den realen Verhältnissen etwas zu verändern, statt universal gültige Systeme zu diskutieren. Westliche christliche TheologInnen lernen langsam, Europa als Provinz und die europäische Theologie als provinziell, mindestens nicht mehr tonangebend einzuordnen, sie lernen vor allem, auf die theologischen Stimmen aus anderen Weltkontexten zu hören. Wie innovativ und bereichernd dieser Prozess ist, bezeugt die Evangelisch-theologische Fakultät, indem sie in diesem Jahr einem afrikanischen und einem asiatischen Exegeten den Titel eines Ehrendoktors für ihre Verdienste in kontextueller Bibelhermeneutik verleiht, während gleichzeitig der Preis der Hans-Sigrist-Stiftung an eine Exegetin aus Lateinamerika geht, ebenfalls für kontextuelle Bibelhermeneutik. Die Geste der Titel- und Preisverleihung enthält gewiss immer noch eine Reminiszenz alter Herrschaftlichkeit, aber sie sei vor allem als Zeichen der Ehrerbietung verstanden. Der Respekt vor der Bedeutung und Würde verschiedener Kontextualisierungen der christlichen Botschaft ist es auch, der unsere Fakultät sehr entschieden für die autonome Weiterexistenz unserer christkatholischen Schwesterfakultät eintreten liess, zu unserer tiefen Enttäuschung ohne Erfolg.

Abb. 3: Auf einem Skarabäus aus Megiddo (1000-900 v.Chr.) ist eine säugende Steingeiss oder Wildziege mit ihrem Jungen abgebildet (daneben ein Fruchtbarkeit symbolisierender Skorpion). Ökonomisch gründete die Existenz der lsraelitlnnen ziemlich weitgehend auf Ziegen- und Schafherden. Deren gutes Gedeihen vertraute man den «Astarten des Kleinviehs» (so noch in Dtn 7,13 und öfter) an, göttlichen Segensmächten, die die Herden schützen sollten. (QD 134 S. 167 Abb. 175b)

Diesseitsreligion — unter dem Druck der Verhältnisse scheint die Theologie zumindest in dieser Hinsicht alttestamentlicher, dem Leben und den Menschen zugewandter geworden zu sein. Das allein reicht aber nicht aus. Theologie ist eine Wissenschaft der Verknüpfungen, sie bleibt nicht beim Partikulären stehen, sie sucht nach den grossen Zusammenhängen. Ebenso wenig kann die Zuwendung zur Empirie in der Theologie auf Kosten von Ideen und Visionen gehen, und die hat das alte Israel bei aller Diesseitigkeit ja nie aufgegeben, sondern mit Begeisterung und auch kontrovers diskutiert und mit allen Reibungen überliefert. Nie haben Israel und das Judentum beispielsweise ihren ideellen Widerstand gegen jede Verabsolutierung innerweltlicher Herrschaft aufgegeben, und das Festhalten an dieser Idee hat viele Jüdinnen und Juden das Leben gekostet. So ist die nächste Herausforderung, die wir vom Alten Testament annehmen können, die, dass das Reden von Gott und den Visionen Öffentlichkeit braucht. Religion ist durchaus nicht nur Privatsache, wie die Aufklärung meinte, in deren Folge sich, nebenbei bemerkt, die längst fällige religiöse Aufklärung (analog zur sexuellen, die wir schon in den 60er Jahren hatten) einfach nicht einstellen will. Die individuelle Glaubenspraxis mag Privatsache sein, der Diskurs über Glauben aber gehört an die Universität. Theologische Fakultäten nehmen eine Brückenfunktion zwischen Diesseitigkeit und Idee wahr. Sie zwingen die (vermeintlich) Frommen, ihren Glauben in eine moderne Gesellschaft zu übersetzen, und die (vermeintlich) Säkularen, sich konstruktiv mit Religion auseinander zu setzen, bevor sie und damit sie nicht fundamentalistisch wird. Das ist für die Theologie nicht unbedingt eine dankbare Aufgabe, weil sie immer der einen Seite zu wenig fromm und der anderen zu wenig rational ist. Warnende Beispiele dafür, wie tief Gesellschaften gespalten werden, in denen die theologische Brücke nicht funktioniert, gibt es aber in der ganzen Welt in zunehmender Zahl, gleichviel, ob das religiöse Vorzeichen der jeweiligen Länder jüdisch, christlich, muslimisch usw. ist.

Nach Mt 13, 52 sind die Schriftgelehrten des Reiches Gottes mit einem Hausherrn vergleichbar, der aus seiner Vorratskammer Neues und Altes hervorholt. Das Neue sind die Fragen der Zeit, das Alte die Schriften und die Schätze der Tradition. Diesseitig an Gott zu glauben ist ein alttestamentliches Erbe der jüdischen und christlichen Religion. Die anderen Erbschätze müssen leider hic et nunc in der Kammer bleiben, wie zum Beispiel die häufig nicht gekannten oder nicht erkannten orientalischen und jüdischen Wurzeln unserer abendländischen Kultur, die sich seit dem 18. und 19. Jahrhundert — leider massgeblich aus antisemitischen, rassischen und nationalistischen Gründen — nur noch mit ihrer griechischen Vergangenheit identifizieren wollte, obwohl auch das antike Griechenland bis hin zur Entwicklung von Polis und Demokratie vom Orient vielfach beeinflusst war. Und so habe ich Ihnen vom Prisma der Theologie nur ein Fünkchen aus meinem engeren Fachgebiet gezeigt. Vielleicht hat es Sie aber für einen kurzen Moment das ganze Spektrum erahnen lassen, und das wäre mir genug und eine grosse Freude.

Abb. 4: Die betont grossen Brüste der unzähligen Pfeilerfigürchen aus Juda (8./7. Jh. v. Chr.) sind in der altorientalische Kunst und altorientalisches Denken typischen Weise Konkretum und Abstraktum zugleich. Konkret war reichlich fliessende Muttermilch damals unersetzbar und Voraussetzung für das Leben der Kinder. Darüberhinaus symbolisieren die vollen Brüste dann aber auch im umfassenden Sinn Sättigung und Überfluss, Vitalität und erotischen Lebensgenuss.

1 Vgl. zur gleichnamigen Ausstellung im Schweizerischen Landesmuseum den Katalog von Peter Jezler, Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Zürich 1994.

2 Einen kurzen Überblick gibt Klaus Bieberstein, Der lange Weg zur Auferstehung der Toten. Eine Skizze zur Entstehung der Eschatologie im Alten Testament, in: Sabine Bieberstein/ Daniel Kosch (Hg.), Auferstehung hat einen Namen. Biblische Anstösse zum Christsein heute. Festschrift für Hermann-Josef Venetz, Luzern 1998, 3-16.

3 Vgl. zur biblischen Anthropologie Silvia Schroer/Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998.

4 Zu den Entwicklungen des religiösen Symbolsystems vgl. Othmar Keel/Christoph Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg i.Br. 4 1998; Silvia Schroer, Der israelitische Monotheismus als Synkretismus. Einblicke in die Religionsgeschichte Israels/Palästinas auf der Basis der neueren Forschung, in: Anton Peter (Hg.), Christlicher Glaube in multireligiöser Gesellschaft. Erfahrungen —Theologische Reflexionen —Missionarische Perspektiven, Immensee 1996, 268-287.

5 Zur Bedeutung dieses Theologen vgl. Tiemo Rainer Peters/Johann Baptist Metz, Theologie des vermissten Gottes, Mainz 1998.

6 Die Befreiungstheologie wird umfassend dargestellt von lgnacio Ellacurla/Jon Sobrion (Hg.), Mysterium liberationis. Grundbegriffe der Befreiung, 2 Bände, Luzern 1995-1996.

7 Zur Orientierung über das immense feministisch-theologische Forschungsfeld sei auf das von Elisabeth Gössmann herausgegebene «Wörterbuch der Feministischen Theologie» (Gütersloh 1991) verwiesen; zur Einführung in die feministische Bibelforschung vgl. Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie-Theres Wacker, Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995.

8 Zur Schöpfungstheologie und ihrer Forschungsgeschichte vgl. Othmar Keel/Silvia Schroer, Verdirb' sie nicht, ein Segen ist darin. Biblische Versuche, die Welt als gelungene Schöpfung zu begreifen, Freiburg CH/Göttingen 2001.