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Die Religionswissenschaft —Zur Relevanz eines «kleinen Fachs» in der akademischen Landschaft

Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz

Die Erwartungen der Öffentlichkeit an ein Institut für Religionswissenschaft sind äusserst zwiespältig. Auf der einen Seite erhalten meine Assistierenden und ich Anfragen der Art wie «Welche religiöse Bedeutung hat der Christbaumschmuck?» oder «Waren die Azteken aus religiösen Gründen Menschenfresser?» Eine weitere Klientel, die sich an unser Institut wendet, glaubt genau zu wissen, wofür die Religionswissenschaft zuständig ist, für alles Exotische nämlich. Das sind diejenigen, die sich vor allem Auskünfte über asiatische Religionstraditionen erhoffen. Auf der anderen Seite existiert im akademischen Bereich eine grosse Erwartung, dass das Fach Auskunft gibt über anthropologische, philosophische und psychologische Fragen der menschlichen Existenz. Dies wird auch in der Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen, wie kürzlich die Anfrage eines Herrn aus dem Departement für Auswärtige Angelegenheiten zeigte, der mir in einem Blitzinterview eine möglichst umfassende Definition des Begriffs «Religion» abrang, die er zur Unterrichtung einer Gruppe angehender Diplomaten benötigte.

Ich möchte heute ein Fach vorstellen, das einer breiteren Öffentlichkeit zwar immer noch recht unbekannt ist und zudem manchmal mit einer anderen akademischen Disziplin, der Theologie, verwechselt wird, das in den letzten Jahren aber eine immer wichtigere Stellung nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch in der nichtakademischen öffentlichen Diskussion eingenommen hat. Die wachsende gesellschaftspolitische Relevanz der Religionswissenschaft macht sich seit Jahren in einer stetig steigenden Studierendenzahl bemerkbar: Inzwischen studieren am Berner Institut für Religionswissenschaft laut Studierendenstatistik für das Wintersemester 2002/2003 169 Studierende, gegenüber 84 vor zehn Jahren. Zu diesem «Boom» des Fachs und seiner vermehrten öffentlichen Wahrnehmung hat wesentlich die allenthalben vermerkte «Rückkehr der Religionen» in den öffentlichen Raum beigetragen.

Die eingangs vorgetragene Bemerkung, dass die Religionswissenschaft für alles Exotische im Bereich der Religionen zuständig sei, und das heisst präziser für alles Nicht-Christliche, ist aber gar nicht so falsch, wie es scheinen mag. Die Geschichte des Fachs ist, wie auch die Geschichte einiger orientalistischer Disziplinen, eng mit der «Mutter der Wissenschaften», der Theologie, verbunden 1, Im Gefolge der europäischen Entdeckung des Orients, besonders Indiens, zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an den grossen asiatischen religiösen Traditionen des Hinduismus und Buddhismus

bei einem gebildeten europäischen Publikum. Dies spiegelt sich auch in der romantischen Dichtung jener Zeit, z.B. bei Novalis, wider. Die Entdeckung der indischen Schriftkulturen trug wesentlich zur Etablierung des neuen akademischen Fachs der Religionsgeschichte bei, die ihre Heimat an den theologischen Fakultäten fand. Religionsgeschichte wurde damals als Hilfswissenschaft der Theologie verstanden. Ihr wurde die Erforschung der nichtchristlichen Religionen der Welt zugewiesen, die jedoch keinesfalls gelehrter Selbstzweck war, sondern vor allem Missionszwecken dienen sollte, in den Worten eines in Nordost-Tibet stationierten Missionars:

«... dass unser glorreiches Evangelium zu den dunklen, den Teufel verehrenden Bewohnern Tibets gelangt» 2.

Diesen Kinderschuhen ist die Religionswissenschaft längst entwachsen. Inzwischen ist sie als eigenständiges Fach an den Universitäten fest etabliert. Heute lässt sich als vielleicht kleinster gemeinsamer Nenner ihres Selbstverständnisses ihre Eigenwahrnehmung als kulturwissenschaftliche Disziplin nennen. Jonathan Smith, einer der bedeutendsten zeitgenössischen amerikanischen Religionswissenschaftler, hat dies wie folgt charakterisiert:

«Religionswissenschaft wird am angemessensten beschrieben in ihrem Verhältnis zu den Geistes- und Kulturwissenschaften, eher im Verhältnis zur Anthropologie als zur Theologie 3.»

Es geht der Religionswissenschaft um die Beschreibung und Analyse religiöser Traditionen in ihren kulturellen Manifestationen und öffentlichen Institutionalisierungen, aber es geht ihr nicht um ein Beschreiben und Nachvollziehen inneren religiösen Erlebens. Die subjektive Religiosität des Individuums entzieht sich der wissenschaftlichen Beschreibung. Somit bleiben der Religionswissenschaft als Forschungsgegenstände nur die öffentlichen Äusserungen, die in Texten, Bildern, Architektur, sozialen Institutionen und Äusserungen der religiösen Akteure manifest wurden und werden. Alle diese Äusserungen zusammen bilden die Linien und Punkte, aus denen die Fachvertreterinnen und -vertreter versuchen, Karten religiöser Weltdeutungen zu zeichnen.

Bis weit in das 20. Jahrhundert bildeten die Beschreibung und Analyse der nichtchristlichen religiösen Traditionen der Welt das wichtigste Forschungsfeld der Religionswissenschaft. Im Mittelpunkt stand hier die philologisch fundierte Textanalyse. Man bemühte sich vor allem um das «Verstehen» 4 und die Interpretation von Textzeugnissen der Religionen. Das Nichtbeschreibbare der eigenen Religion liess sich am besten an anderen Religionen studieren. Die regionalwissenschaftliche Ausrichtung spielt zwar auch heute noch eine wichtige Rolle in der Disziplin, jedoch nicht mehr ausschliesslich unter den angedeuteten hermeneutischen Gesichtspunkten. Vielmehr versteht sich die Religionswissenschaft

in ihren regionalwissenschaftlichen Schwerpunkten einem multidisziplinären methodischen Ansatz verpflichtet. Sie untersucht aussereuropäische religiöse Traditionen in ihren vielfältigen Verflechtungen mit den kulturellen, sozialen und politischen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaften. Die kontextuelle Erforschung aussereuropäischer religiöser Traditionen trägt daher genauso viel zur religionswissenschaftlichen Theoriebildung bei wie die Analyse der Rolle von Religionen in der europäisch-amerikanischen Moderne. Darüber hinaus hilft sie auch den eurozentrischen Horizont unserer Wissenschaftstraditionen zu öffnen auf einen globalen Wissenshorizont hin.

Die meisten Lehrstühle für Religionswissenschaft in der Schweiz pflegen auch heute einen regionalen Schwerpunkt. Das ist in Bern Zentralasien, besonders Tibet und die Mongolei.

Die Schwerpunktsetzung allein auf nichtchristliche Religionen und einen historisch-kritischen philologischen Methodenkanon ist heute obsolet geworden. In den europäisch-amerikanischen Gesellschaften der Moderne, in denen die Religionswissenschaft universitär verankert ist, sind, neben zahlreichen weiteren religiösen Gruppierungen, die christlichen religiösen Traditionen selbst zum Forschungsgegenstand geworden. Zugleich hat sich mit der Erweiterung der Gegenstände des Fachs die Religionswissenschaft als eine fachübergreifende, integrierende Wissenschaft etabliert, d.h., sie bedient sich einer Reihe von Methoden, die innerhalb angrenzender Disziplinen wie z.B. der Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Theologie entwickelt wurden. Manche mögen hier die Gefahr einer Auflösung etablierter Fächergrenzen innerhalb der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten sehen. Die öffentliche Diskussion über Religion wird jedoch nicht von akademischen Fächergrenzen bestimmt, sondern von den Gegenständen, die Teil dieser Diskussion sind und unterschiedliche methodische Zugänge erfordern.

Bevor ich im Folgenden einige der zurzeit relevanten und wichtigen religionswissenschaftlichen Forschungsbereiche skizziere, gestatten Sie mir einige Bemerkungen allgemeiner Art zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Die Relevanz von Religion in einer so offensichtlich säkularisierten Gesellschaft wie der schweizerischen mag vielleicht nicht von vornherein einleuchten. Hier hat die These von der «Entzauberung» der Welt, die seit Max Weber eine wesentliche Rolle in der Diskussion über das Verhältnis von moderner Gesellschaft und Religion spielt, immer noch ihre Nachwirkungen. Die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in einzelne Teilsysteme wie z.B. Politik, Wirtschaft, aber auch Wissenschaft 5, brachte ein übergeordnetes normatives, von öffentlichen Institutionen wie den Kirchen getragenes Sinndeutungssystem zum Zusammenbruch. Damit wurde der Weg bereitet zur De-Institutionalisierung von Religionen und Individualisierung von Glaubensvorstellungen.

Dieser Prozess konnte — so herrschte lange Zeit Konsens unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen — nur in einen vollständigen Rückzug der Religionen aus der öffentlichen in die Privatsphäre des Einzelnen münden. Umso grösser war das Erstaunen, als seit der Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts Religionen in den modernen Gesellschaften wieder in den öffentlichen Raum zurückdrängten, und ihre Akteure ihre normativen Vorgaben lautstark und des Öfteren mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Sowohl die These von der Bedeutungslosigkeit der Religion in der modernen Gesellschaft wie auch die ihrer vollständigen Individualisierung haben sich damit als falsch erwiesen. Neue religiöse Organisationsformen im öffentlichen Raum haben sich herausgebildet, und Religion wurde wieder zu einem Gegenstand des öffentlichen Diskurses.

Aus der Vielfalt der Fragestellungen in der Religionswissenschaft möchte ich nun einige herausgreifen, die sowohl lokal als auch global von grosser Relevanz sind. Da ist an erster Stelle, angesichts der religiös motivierten oder zumindest religiös legitimierten Konflikte in vielen Teilen der Welt, zurzeit sicherlich die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt zu nennen 6. Der Bedeutung dieser Fragestellung Rechnung tragend, hat die Theologische Fakultät der Universität Bern ihre Lehrveranstaltungen im vergangenen Sommersemester auf diesen Themenkomplex konzentriert. Auch die diesjährige Tagung der Deutschen Gesellschaft für Religionsgeschichte, die im September in Erfurt stattfand, stand unter dem Leitmotiv «Religion(en) im Konflikt». Mir erscheinen religionswissenschaftlich fundierte und differenzierte Analysen der Legitimationsstrategien von Gewalt in den verschiedenen religiösen Traditionen der Welt von grosser Bedeutung, wenn man nicht das Feld den Ideologen vom Schlage eines Samuel Huntington, der in der weltweiten Renaissance der Religionen einen «Kampf der Kulturen» heraufziehen sieht, überlassen will.

Hier schliesst sich gleich ein weiteres Forschungsgebiet der Religionswissenschaft an, das der Beziehung zwischen Politik und Religion. Inwieweit liegen politischen Entscheidungen religiöse Paradigmen zugrunde, inwieweit bestimmen sie gesellschaftliche Legitimationsprozesse? So wird zur Zeit die US-amerikanische Politik wesentlich von oft nicht explizierten religiösen Prämissen bestimmt, die militärischen Konflikten eine fast heilsgeschichtliche Dramatisierung im Kampf zwischen Gut und Böse abgewinnen.

Ein spannendes Feld für die religionswissenschaftliche Systematik ist auch die Analyse machtpolitischer Strategien, die im Rekurs auf religiöse Autorität legitimiert werden. In meinem Institut hat kürzlich eine Studentin die Programme zweier schweizerischer christlicher Parteien auf ihre religiösen Paradigmen und deren Umsetzung in politische Forderungen untersucht. Das Ergebnis, ich möchte es hier nicht im Einzelnen kommentieren, war sehr aufschlussreich für

die Analyse der Instrumentalisierung religiöser Gefühle potentieller Wählerinnen und Wähler zur Erreichung politischer, und damit säkularer, Ziele.

Angesichts der Diversität der Forschungsgegenstände stellt sich die berechtigte Frage, welches Ausbildungsziel das Fach eigentlich verfolgt. Hierzu ist zuerst zu bemerken, dass Religionswissenschaft nicht auf ein spezifisches, klar umrissenes Berufsziel hin studiert wird, ein Schicksal, das sie mit den meisten Fächern der philosophisch-historischen Fakultät teilt. In einer religionswissenschaftlichen Ausbildung wird den Studierenden vielmehr das methodische und theoretische Rüstzeug an die Hand gegeben, gesellschaftliche Strukturen auf ihre zugrunde liegenden Paradigmen zu analysieren. Der Schwerpunkt liegt in der Religionswissenschaft auf der Analyse der Handlungsstrategien, die spezifisch religiös motiviert sind oder begründet werden. Neben der systematischen Ausbildung spezialisieren sich Religionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf eine religiöse Tradition ihrer Wahl, die sie in ihren historischen und gegenwärtigen Manifestationen studieren. Dazu gehört auch eine philologische Ausbildung. So zieht z.B. die regionale Spezialisierung auf Indien ein Studium der Sanskrit-Sprache und moderner indischer Sprachen nach sich. Philologische Kompetenz ist vonnöten, weil Religion, wie Niklas Luhmann treffend bemerkt hat, «nur als Kommunikation... eine gesellschaftliche Existenz» 7 hat. Absolventinnen und Absolventen der Religionswissenschaft sind daher aufgrund ihrer systematischen und regionalwissenschaftlichen Ausbildung idealerweise in der Lage, die kulturspezifischen Paradigmen religiöser Kommunikation zu verstehen und in den eigenen kulturellen Kommunikationskontext zu übersetzen.

Kein europäisches Land kann es sich mehr leisten, auf solche Expertinnen und Experten der eigenen und fremder Kulturen zu verzichten. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Absolventinnen und Absolventen des Fachs nicht eine wissenschaftliche Karriere anstreben, sondern nach dem Abschluss ihres Studiums in Berufen im öffentlichen Sektor arbeiten, in denen ihre spezifische Kompetenz gefordert ist.

Religionswissenschaft gilt als eines der so genannten «kleinen Fächer», eine Bezeichnung, mit der ich wenig anfangen kann. Was soll «kleines Fach» heissen? Ist es klein, weil es nur wenige Studierende aufweisen kann, sich also offensichtlich nur wenige für die Gegenstände des Fachs interessieren? Quantität sollte in der Wissenschaft niemals das Referenzkriterium sein. Angesichts der beträchtlichen Studierendenzahlen der Religionswissenschaft in Bern kann es dies ohnehin nicht sein. Oder ist mit «klein» eine qualitative Wertung verbunden? Heisst «klein» etwa «unwichtig»? Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, dass in diesem Fach zentrale gesellschaftsrelevante Fragen verhandelt werden. Religionen als gesellschaftsgestaltende Kräfte spielen heute in lokalen wie globalen Kontexten eine immer wichtigere Rolle, und religiöse

Semantiken bestimmen zunehmend die Geschehnisse der Tagespolitik. Die Entzifferung solcher Semantiken ist nicht nur für die Selbstreflexion unserer Gesellschaft von Bedeutung, sondern hat für die Analyse globaler Modernisierungsprozesse eine hohe Aktualität. Der akademischen Disziplin der Religionswissenschaft kommt daher, in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, im Prozess der Ausdeutung moderner Gesellschaften eine zentrale und unverzichtbare Stellung zu.

Fussnotenanmerkungen

1 Eine Geschichte des Fachs Religionswissenschaft im Kontext der europäischen Modernisierung hat H.G. Kippenberg verfasst, siehe Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997.

2 Frank Doggett Learner, Rusty Hinges: A Story of Closed Doors Beginning to Open in North-East Tibet, London 1934, viii.

3 Jonathan Z. Smith, Map is not Territory. Studies in the History of Religions, Leiden 1978, 290.

4 «Verstehen» ist immer noch eines der wichtigsten methodischen Konzepte der Religionswissenschaft. Die dem «Verstehen«zugrunde liegenden hermeneutischen Regeln sind hingegen zumeist ungenügend bestimmt. Zur gegenwärtigen Diskussion siehe H.J. Klimkeit (Hrsg.), Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft. Vorträge der Jahrestagung der DVRG vom 4. bis 6. Oktober 1995 in Bonn, Wiesbaden 1997.

5 Ich folge hier einem systemtheoretischen Ansatz, siehe N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 116 ff.

6 Hierzu aus religionssoziologischer Sicht M. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der «Kampf der Kulturen», München 2000.

7 Siehe N. Luhmann, «Religion als Kommunikation«, in: H.TyrelI/V.Krech/H. Knoblauch (Hrsg.), Religion als Kommunikation, Würzburg 1998, 137, sowie ausführlicher ders., Die Religion der Gesellschaft a.a.O. 187 ff.