DIE VORBILDUNG
FÜR DAS UNIVERSITÄTSSTUDIUM, INSBESONDERE DAS MEDICINISCHE.
(29. April 1879.)
Hermann, Rectoratsreden.
Hochansehnliche Versammlung!
Das Gefühl der Dankbarkeit für die hochherzigen
Stifter unsrer Hochschule beseelt uns zwar jeden Tag
wenn wir die Hallen dieses stolzen Baues betreten,
aber ganz besonders an dem Gedenktage jener Stiftung,
an welchem wir von Neuem auf ein Jahr segensreicher
Wirksamkeit unsrer Alma mater zurückblicken
dürfen. Zu den jüngsten unter ihren Schwestern gehörend,
nahezu vom kleinsten Staate der sich zu solcher
Leistung emporschwang genährt und gepflegt,
hat sie trotzdem rasch eine hervorragende Stelle eingenommen,
und bildet wiederum im Staate selber eine
Art von Ruhepunct, an welchem die politischen Umwälzungen
Nichts geändert haben, weil unter keiner
Staatsleitung das Interesse für die Hochschule erkaltet
ist. Freilich hat es an Versuchen in den Organismus
der Hochschule einzugreifen nicht gefehlt, aber
dieselben wurden stets dictirt nicht von dem Streben
die öconomische Last des Instituts zu vermindern oder
gar abzuwälzen, sondern von der Meinung dass dasselbe
noch fruchtbarer, noch segensreicher gestaltet
werden könne, wobei selbst vermehrte Opfer nicht
gescheut wurden. Die Vertreter der Hochschule haben
solchen Versuchen meist ablehnend gegenübergestanden,
nicht aus conservativer Neigung oder aus
vornehmer Geringschätzung fremder Ansichten, sondern
in der Ueberzeugung, dass der Organismus der
Hochschule, wie er historisch in Jahrhunderten sich
herangebildet, und wie man ihn auch hier in Zürich
vor 46 Jahren adoptirt hat, sich noch immer im Grossen
und Ganzen bewährt, und allen vorgeschlagenen
Neuerungen vorzuziehen ist. Schon das spricht für
das Bestehende, dass die Aenderungsvorschläge nach
zwei fast diametral gegenüberliegenden Richtungen
sich bewegen. Die einen wollen die Universität in
eine Anzahl streng seminaristischer Fachschulen für
Pfarrer, Richter, Advocaten, Aerzte, Gymnasiallehrer
auflösen, die andern umgekehrt nicht allein ihre
Pforten Jedem ohne Prüfung öffnen, der vom Baume
der Wissenschaft kosten will, sondern sogar die Hochschullehrer
als Apostel der Wissenschaft hinaussenden
ins Volk, damit die Universität gleichsam zu einer
Schule höherer Erkenntniss für Alle werde.
Zwischen diesen beiden so sehr verschiedenen
Forderungen hält die Universität die glückliche Mitte.
Alles bietend was die Fachschulen verlangen, gewährt
sie es ohne Zwang Jedem der lernen will und zum
Lernen geeignet ist, auch wenn seine Bestrebungen
nicht in die Schablone eines Berufs passen. Dadurch
bewährt sich die Universität noch heute, so alt sie ist
und so sehr sich die Welt unterdess geändert hat; ihr
Mittel ist einfach: es heisst Lehr- und Lernfreiheit.
Wohl mag an der sogenannten academischen Freiheit
dereinst eine starke Hand gewisse Auswüchse wegschneiden,
um welche wenige trauern werden. Aber
diese Hand wird, wenn sie von einem genialen Kopfe
geleitet wird, nie an zwei Principien sich vergreifen,
einmal daran, dass der Studirende sich seine Vorlesungen
nach Gutdünken auswählt und dadurch ein
neues, pädagogisch wichtiges Recht ausübt, das ihm
auf der Schule versagt war, zweitens darin, dass wer
gewisse Garantien der Lehrfähigkeit gegeben hat, nun
lehren darf was und wie er will; denn nur so kann
vor Allem auch die noch verpönte und doch vielleicht
richtige Doctrin zum Durchbruch kommen, und zugleich
die Zahl der Lehrer durch die Mitwirkung jüngerer
Kräfte so entlastet werden, dass der Lehrer einen
grossen Theil seiner Zeit für die Forschung frei hat.
Diese gesunden Grundprincipien haben es allein
möglich gemacht, dass noch immer die Universität
die heterogensten wissenschaftlichen Fächer in sich
vereinigen kann, ohne etwas Unnatürliches zu werden.
Was schadet es, dass der Rahmen der vier Facultäten
längst fast für jede zu eng geworden ist, dass
in der theologischen Facultät viel Philologisches und
Historisches, in der juristischen auch die Volkswirthschaft
und Statistik, in der medicinischen ein grosser
Theil der Naturwissenschaften, und in der philosophischen
gar etwa fünf bis sechs ganz verschiedene Wissenschaftscomplexe
stecken? Der Student ist in Wirklichkeit
nur dem Namen nach an eine Facultät gebunden,
und die Facultäten sind heute im Grunde nichts
weiter als Abtheilungen der Lehrerschaft zum Behufe
von Berathungen und Beschlüssen. In diese Eintheilung
mag die Zukunft noch manche zweckmässige
Veränderung hineinbringen; für das Wesen der Universität
werden dieselben keine grosse Bedeutung
haben.
Die Jünglinge, welche an dies schöne, freie Institut
herantreten, das .ihnen jede Wissenschaft in lebendigem
Vortrage darzubieten bereit ist, können aber
nur dann mit Genuss und Nutzen in demselben leben,
wenn sie eine gewisse geistige Reife mitbringen. Mit
Recht sichert sich dieselbe überall der Staat wenigstens
für seine eigenen Angehörigen, indem er einen
sogenannten Maturitätsnachweis verlangt. Wenn er
im Allgemeinen Fremde ohne einen solchen zulässt,
weil er für dieselben sich weniger verantwortlich fühlt,
so liegt darin doch für die Universität selbst eine gewisse
Gefahr, wenn die Zahl der Fremden verhältnissmässig
gross ist. Denn nicht allein für das lernende
Individuum ist jene Reife wichtig, indem sie den sittlichen
Ernst, um den äusseren Zwang durch selbstständiges
Wollen zu ersetzen, und die Vorkenntnisse,
um den Vorträgen mit Nutzen zu folgen, in sich
schliesst, sondern auch für den Unterricht selbst ist
die Beschaffenheit der Hörenden von mächtigem Einfluss.
Nothwendig und selbst unvermerkt passt sich
der Vortrag dem mittleren Bildungsniveau des Auditoriums
an, und derjenige welcher durch starres Festhalten
der Höhe sich diesem Einfluss gewaltsam entzöge,
wäre ein schlechter Lehrer.
Kein schlechtes Zeichen unsrer Zeit ist es dass
sie, ohne sehr grosse Ehrfurcht vor dem Bestehenden
und Hergebrachten, sorgfältig untersucht, welches die
beste Vorbildung für den Hochschulunterricht sei, und
in welchem Umfange dieselbe nachgewiesen werden
müsse, um zur Zulassung zu berechtigen. Die mit
dem Bestehenden Unzufriedenen könnte man in technische
und in politische Neuerer eintheilen; die einen
haben von dem intellectuellen Bedarf andere Vorstellungen
gewonnen, als bisher geherrscht haben, die andern
wenden sich gegen den bevormundenden Geist,
welcher die Sorge, ob die Hochschule mit Nutzen besucht
werden kann, dem Individuum abgenommen und
auf den Staat übertragen habe.
Die erste, technische Frage ist unzweifelhaft für
uns die nächstliegende; sie ist namentlich in Bezug
auf die Vorbildung des Mediciners in einer schon zu
starken Bänden angewachsenen Literatur discutirt worden,
während man über die Vorbildung des Theologen,
Juristen, Philologen und Historikers im Allgemeinen
einverstanden, d. h. mit dem Bestehenden zufrieden
ist. Höchstwahrscheinlich würden auch für das Studium
der Naturwissenschaften ähnliche Forderungen
wie für das der Medicin von gleicher Seite gestellt
worden sein, wenn nicht mehr und mehr die rein naturwissenschaftlichen
Studien sich von den Universitäten
an die polytechnischen Unterrichtsanstalten verschöben.
Ich würde nun kaum wagen, die grosse Reihe
der Aeusserungen über jene brennende Tagesfrage,
die Vorschulung des Mediciners,. noch um eine zu vermehren,
wenn ich nicht auf einem wesentlich andern
Standpunct stände, als diejenigen, welche in der letzten
Zeit diesen Gegenstand behandelt haben. Für
mich handelt es sich nicht um Aufstellung von Forderungen
für die Vorbereitung des Mediciners, sondern
um solche für die gemeinsame Vorbereitung Aller,
welche studiren wollen.
Die Grenze zwischen dem Schul- und dem Hochschul-Unterricht
wird durch zwei Gesichtspuncte bestimmt.
Einmal die bestimmte Entscheidung für einen
Beruf. Bis zur Hochschule gehen Alle (ich spreche
hier nur von solchen, die sich für einen sogenannten
gelehrten Beruf vorbereiten) einen gemeinsamen, neutralen
Weg; an der Schwelle der Hochschule trennen
sich die Pfade. Die Schule soll also das geben, was
Alle brauchen. Zweitens muss für viele Gegenstände
des Unterrichts aus pädagogisch-sittlichen Gründen
ein gewisses Alter abgewartet werden; diese Gegenstände
müssen also dem Schulunterricht entzogen und
dem Hochschulunterricht reservirt sein, selbst wenn
ihre Kenntniss Allen nothwendig sein sollte. Ich
rechne hierher nicht allein gewisse Capitel der Anatomie
und Physiologie, gewisse sociale Verhältnisse
die den Juristen beschäftigen, sondern auch den philosophischen
Skepticismus gegenüber den Traditionen
der Geschichte, der Religion u. dgl.
Der Gesichtspunct dagegen, welcher in der neueren
Discussion über die Vorbildung des Mediciners
fast durchgehends hervortritt, ist ein ganz anderer.
Man bemisst grösstentheils die Anforderungen an die
Vorschule nach den Objecten des Fachunterrichts.
Der Mediciner, sagt man, soll, ehe er die Universität
betritt, möglichst viel von dem was zum medicinischen
Unterricht gehört: Physik, Chemie, selbst Anatomie
mitbringen, während man seine Vorkenntnisse im Lateinischen
und Griechischen als unpractischen Ballast
ansieht. Materiell werden wir auf diese Fragen sogleich
zurückkommen; augenblicklich bekämpfe ich
nur den zu Grunde liegenden Gedankengang. Grade
dasjenige, was der Fachunterricht in gründlichster
Weise bieten wird, könnte doch am ehesten im Vorunterricht
entbehrt werden, und wenn ich aus reinen
Utilitätsrücksichten Gegenstände für den Vorunterricht
zu empfehlen hätte, so wäre es vielleicht die Naturwissenschaft
und etwas von Bau und Verrichtungen
des menschlichen Körpers für den Juristen, den Theologen
und den Philologen, der auf der Universität
Nichts von all diesen Dingen hören wird, und für den
Mediciner eher Linguistik, Archäologie, etwas von
Naturrecht, Volkswirthschaft u. dgl.
Schon rein utilitarische Rücksichten führen uns
also auf den vorhin festgestellten Standpunct, dass der
Umfang des Vorunterrichts lediglich nach den Bedürfnissen
Aller, und nicht nach denen einzelner Berufe
bemessen werden muss; man müsste denn die Berufstrennung
schon durch Bifurcation der obersten Gymnasialklasse
einführen wollen, was ich aus der ebenfalls
schon urgirten Rücksicht auf das Alter, und die Nachtheile
allzufrüher Entscheidung für einen Beruf, nicht
für zweckmässig halten würde.
Der eben gestellten Anforderung an den gemeinsamen
Unterricht genügt nun aber — wage ich zu
behaupten — weder das Gymnasium noch vollends die
Realschule in ihrer jetzigen Gestalt. Ich habe stets
mit Vorliebe Umgang gepflogen mit Männern anderen
Berufes, aber sehr häufig gefunden, dass die ganze
Lebensanschauung derselben an den Nachwirkungen
eines äusserst einseitigen Schulunterrichtes krankt.
Wir Mediciner sind entschieden im Vortheil; denn
vermöge der Vorbildung im humanistischen Gymnasium
ist uns aus der Sphäre der Juristen und Philologen
Nichts so total fremdartig, wie Jenen Vieles
aus der unsrigen. Wie viele hochgebildete und vortreffliche
Männer kennen die Existenz der chemischen
Elemente nur von dunklem Hörensagen; ein namhafter
Historiker (derselbe lebt nicht in Zürich) war einst in
hohem Grade erstaunt, als wir auf dem Zürichberg
die Entfernung der Wollishofer Allmend aus dem Zeitintervall
zwischen Blitz und Donner der Schüsse mit
der Uhr abschätzten. Für diese, sage ich, nicht sosehr
wie man meist hört für die Mediciner, bietet der Gymnasialunterricht
zu geringe, oder zu wenig eindringliche
naturwissenschaftliche Kenntnisse und Anschauungen.
Bietet er vielleicht nach anderer Richtung zu viel?
Leicht könnte das sein; denn das Gymnasium stammt,
ohne erhebliche Veränderung, aus einer Zeit, wo die
höchsten Interessen der Menschheit in literarischen
Studien aufgingen und der Grad der classischen Vorbildung
gradezu die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit
bezeichnete. Suchen wir in dieser brennenden
Frage unsres und wohl auch noch des folgenden Jahrhunderts
die Befangenheit zu überwinden, die uns
Allen als Schülern des Gymnasiums anhaftet.
Sehr verschiedene Motive werden angeführt, um
das Studium der classischen Sprachen für allgemeine
Bildungszwecke zu empfehlen. Erstens die Schulung
des Verstandes und des sprachlichen Formensinns, den
die Erlernung jener streng logisch entwickelten, formenreichen
Sprachen gewährt, zweitens die grosse
Erleichterung für das Studium neuerer, besonders romanischer
Sprachen, die es mit sich bringt, drittens
das tiefere Eindringen in das Verständniss der Antike
in Literatur und Kunst, endlich viertens, ein sehr nüchternes
und doch fast ausschlaggebendes Moment, der
Umstand dass die Termini technici fast aller Wissenschaften
jenen Sprachen entnommen sind, ja für den Forscher,
den Entdecker, den Erfinder bei jedem Schritt
sich das Bedürfniss einstellt neue solche Termini mit
Hülfe der alten Sprachen sich herzustellen.
Hören wir, was hiergegen eingewendet werden kann.
Die Schulung des Geistes wird vielleicht in gleichem, ja
in höherem Grade durch Mathematik und Naturwissenschaften
erreicht. Logischer als alle lateinische und
griechische Syntax sind die Entwicklungen der mathematischen
Physik. Der sprachliche Formensinn
kann auch an neueren Sprachen sich schärfen, und
die Schönheit der Antike findet auch in den classisch
nicht unterrichteten Frauen ihre begeisterten Bewunderer.
Die Erleichterung des Erlernens lebender Sprachen
wird durch einen Unterricht in todten zu theuer
erkauft, wenn derselbe die zehn- bis zwanzigfache Zeit
in Anspruch nimmt. Endlich die fremden Termini
sind schon deshalb zu beseitigen, weil sie ein ungerechtes
Armuthszeugniss für die lebenden Sprachen
sind, und solange die Wissenschaft sie noch fortschleppt,
ist es kein Unglück wenn ihre Bedeutung
mechanisch erlernt wird. Ein falsch geschriebenes
oder falsch ausgesprochenes Fremdwort, höre ich rufen,
macht euch nervös, die ihr durch das Literargymnasium
verkünstelt seid, in Wahrheit aber ist es noch
lange kein so grosses Unglück als ein Fehler in sachlicher
Kenntniss.
Wer wollte bestreiten, dass in all diesen Einwänden
etwas Wahres steckt, und eines Tages, glaube
ich, werden sie vollkommen berechtigt sein; dann
wird man den classischen Unterricht wirklich nicht
mehr als ein allgemeines Bildungsmittel betrachten.
Von uns wird aber Niemand diesen Tag erleben. Einstweilen
verkörpern sich noch unsre Ideale des vollkommenen
Menschen in der Erinnerung an jene Epoche,
wo die volle und freie Entwicklung des rein Menschlichen
politische, literarische und marmorne Kunstwerke
schuf, welche wir heute noch, nach Jahrtausenden,
in einer Zeit wunderbarster Entwicklung der
Kenntnisse und Hülfsmittel des Lebens, nur nachahmen,
bestenfalls erreichen, nicht übertreffen können.
Die blosse Wiederentdeckung dieser unter den Stürmen
des Mittelalters selbst an ihrem Sitze verschollenen
Welt reichte hin, allen geistigen Interessen der
Menschheit neues Leben einzuhauchen, und wir gehen
noch immer in diese Schule. Wird die Menschheit
einmal eine ähnlich fruchtbare Periode erreicht haben,
so darf vielleicht jene erste lediglich dem Historiker
überlassen bleiben; jetzt schöpfen wir noch Alle mittelbar
aus dieser Quelle, und des künftigen Gelehrten ist
es würdig, sie soweit als möglich selber aufzusuchen.
Sollten also auch die rein utilitarischen Gesichtspuncte
des classischen Unterrichts noch so wenig zu
bedeuten haben, so wird doch der Wegfall desselben
eine höchst empfindliche Lücke im Gesichtskreise des
Mannes bedingen. Er wird sein Fach technisch vollkommen
beherrschen können, aber übel daran sein,
wenn er etwas daraus für Andre genussreich und geschmackvoll
darstellen soll; was für den Künstler die
Reise nach Italien und Griechenland, ist für den Gelehrten
jedes Faches das Eindringen in die literarischen
Kunstwerke der Alten. Einzelne glücklich angelegte
Naturen werden das eine wie das andere ohne Schaden
entbehren können, der Durchschnittsmensch nicht.
Eine nicht zu übersehende Seite des classischen
Unterrichts wird wie mir scheint viel zu wenig hervorgehoben,
nämlich das Gegengewicht welches er
dem direct nutzbaren Wissen gegenüber darstellt. Wir
lernen so Vieles um damit zu wirthschaften; es ist
gut wenn wir auch zu anderem Lernen angehalten
werden. Der Utilitarismus ist der entsetzlichste Feind
aller Wissenschaft; er ist aber unserm Jahrhundert so
sehr ins Blut übergegangen, dass die Einsichtigeren
jede Gegenwirkung sorgfältig cultiviren müssen. Die
Pädagogik muss Vieles auf Umwegen erreichen. So
seltsam es klingen mag, ich behaupte, dass um dem
Mediciner Interesse an denjenigen medicinischen Wissenschaften
einzuflössen, welche nicht direct Operationsmethoden
oder Receptformulare für das Krankenbett
liefern, von Anfang an seine Erziehung Nutzbares und
nicht Nutzbares in gleichmässigem Gemische enthalten
muss. Der classische Gymnasialunterricht hält die
Besseren zurück von dem leidigen Hineilen zu der
direct sich bezahlt machenden practischen Ausbildung,
prägt ihnen Hochachtung ein für die freie Forschung
jeder Richtung. Das Streben nach Wahrheit, das den
Menschen mehr adelt als selbst der Besitz der Wahrheit,
auch da zu lieben und zu bewundern, wo es auf
Dinge verwendet wird, die dem beschränkten Fachstandpunct
unnütz und müssig erscheinen, muss dadurch
anerzogen werden, dass man im Knaben und
Jüngling Fachinteressen erst möglichst spät aufkommen
lässt, und hauptsächlich darauf ausgeht, ihm möglichst
vielseitige Interessen einzuimpfen. Im Begriffe der
Realschule liegt, mag auch in der von Realschulmännern
Deutschlands betriebenen Agitation die Sache
allmählich, indem immer ein Vorkämpfer den andern
übertraf, bis zur Entstellung übermalt worden sein,
die ausschliessliche Sorge für nützliche Kenntnisse.
Für eine grosse Anzahl von Berufen schafft man damit
sicher ausgezeichnete Menschen. Aber nicht für
die gelehrten Berufe, d. h. für diejenigen in welchen
das Individuum nicht bloss Erlerntes auszuüben, sondern
bei jedem Schritte selbstständig zu forschen hat,
und aus welchen die Forscher der Zukunft sich wesentlich
zu rekrutiren haben. Welche Früchte der
Utilitarismus in der Wissenschaft hervorbringt, haben
wir Physiologen in dem widerlichen Kampfe gegen
das Experiment, welcher von britischen Emissären und
mit englischer Agitationsmethode auch nach Deutschland
importirt worden ist, zu sehen Gelegenheit an
den obscuren und anonymen ärztlichen Verbündeten
dieses Pamphlet- und Caricaturenkrieges, und es wäre
interessant zu untersuchen, welche Erziehung diese
Aerzte, welche in erster Linie nach dem practischen
Nutzen einer wissenschaftlichen Untersuchung fragen,
genossen haben. Freilich mögen nicht ihre Lehrer oder
das System ihrer Schule, sondern nur die Noth des
Daseins diese Verirrung verschuldet haben. Das Gymnasium
erzieht nicht lauter zukünftige Forscher, aber
es soll Jedem soviel wie möglich in Kenntnissen und
besonders in Gesinnung dazu mitgeben; Anlage und
Schicksale werden einen sehr grossen Bruchtheil immer
zu blossen Handwerkern des gelehrten Berufes
machen.
Immerhin ist der classische Unterricht nur ein
ziemlich indirect wirkendes Erziehungsmittel, und um
so mehr die Frage am Platz, welche Ausdehnung man
ihm geben soll. Die Zeit des Vorunterrichts ist stark
bedrängt, manche Anforderungen treten neu auf oder
gewinnen an Bedeutung. Die Fanatiker des Gymnasialunterrichts
haben einfach nur die Antwort: so wie
es ist, muss es bleiben; kurzsichtig beachten sie nicht,
wie sehr sie dadurch der Forderung Vorschub leisten,
auch die nicht classisch Vorgebildeten, d. h. die Realschulabiturienten,
zum Universitätsstudium zuzulassen.
Der wegen der Ueberbürdung des Vorunterrichts
gemachte Vorschlag, im classischen Unterricht das
Griechische ganz zu beseitigen, scheint mir der verwerflichste
von allen, denn fast in allen Vortheilen
die vorhin erwähnt wurden, steht das Griechische noch
vor dem Lateinischen. Es ist formenreicher und schwieriger,
daher von noch mehr ausbildender Wirkung, es
steht mit der Einführung in die Antike noch inniger
im Zusammenhang, und ist zum Verständniss und zur
Neubildung der Termini noch unentbehrlicher. Die
griechische Grammatik nur oberflächlich zu lehren,
auf richtige Accente u. dgl. weniger Werth zu legen,
wie allen Ernstes vorgeschlagen ist, ist des Gymnasialunterrichts
unwürdig. Man kann über die Ausdehnung
desselben streiten, aber seine Gründlichkeit
darf nicht angetastet werden, d. h. der Gymnasiallehrer
darf nichts Falsches dulden und durchgehen
lassen. Ein hervorragender Schriftsteller schliesst
einen Aufsatz über unsre Frage mit der Forderung:
kein griechisches Scriptum mehr! Auch dies ist eine
nicht das Quantum, sondern das Quale antastende
Forderung. Das griechische Exercitium oder Extemporale
ist kein Schritt weiter hinaus, sondern nur eine
Befestigung der Grammatik, und als solche unentbehrlich,
wenn überhaupt griechische Grammatik gymnasial,
d. h. gründlich getrieben werden soll. Wie will
man anders die richtige Anwendung der Accente, der
ähnlich klingenden Conjugationslaute u. dgl. controlliren?
Nein, wenn am classischen Unterricht abgeschnitten
werden soll, — und es wird sich allerdings das
Bedürfniss hierzu nachher herausstellen, — so muss
der Angriffspunct anderswo liegen. Eine ganz ungeheure
Zeit nimmt die Lecture von Autoren in Anspruch,
und diese, d. h. die dazu nöthige Präparation,
erfordert auch einen sehr bedeutenden Aufwand häuslicher
Arbeit. Und doch sind nicht viele Autoren zum
Lesen auf der Schulstufe geeignet. Keineswegs ist
jeder weitere Autor gleichbedeutend mit einem Stück
weiterer Einführung in die Antike, und überhaupt ist
diese letztere Seite des classischen Gymnasialunterrichts
sicher die schwächste. Durch die meist bruchstückweise,
ausser Zusammenhang gelesenen Autoren
gewinnt das classische Alterthum am wenigsten
Freunde; man erinnere sich doch, dass die Liebe zu
ihm hauptsächlich in der Mythologie, in den homerischen
Sagenkreisen, in der alten Geschichte und
später in der Betrachtung von Kunstwerken ihre
Wurzeln hat. Die Lecture erscheint dem begabtesten
Schüler als eine langweilige Fortsetzung des Tirociniums,
soweit es sich nicht um Dichter handelt, deren
Verse allerdings sich wohlgefällig dem Ohre und Gedächtniss
einprägen; bei den Dichtern werden auch
noch am ehesten abgeschlossene Stücke, Dramen,
Oden, vollständig gelesen, und ihr Inhalt ist meist
dem Lieblingsstoff der Jugend, den Sagen entnommen.
Aber wozu die vielen vielen Stunden des Cicero-Lesens?
Ist denn etwa die Erlernung der Ciceronianischen
Latinität das Ziel des Gymnasialunterrichts?
Latein ist längst nicht mehr wissenschaftliche Weltsprache;
wer hat heute noch lateinische Abhandlungen
zu schreiben ausser den Philologen? Die Historiker,
Xenophon, Herodot, Thucydides, Caesar, Sallust, Livius,
Tacitus, sollten als antike Autoren lieber im Geschichtsunterricht
bruchstückweise an richtiger Stelle
gelesen werden, als Beispiele antiker Geschichtsauffassung
und Geschichtsschreibung; dann werden sie
Genuss und Fortschritt bereiten; die Schwierigkeiten
des Tacitus erscheinen dann als eine interessante Eigenthümlichkeit,
in der Lateinstunde als ein lästiges
Hemmniss. Man lese also in den eigentlichen Sprachstunden
sehr wenige Autoren, und diese mehr um den
eigentlichen Sprachunterricht zu befestigen, als um den
Autor zu studiren. Ein classisches Lesebuch mit geeigneten,
auch stofflich nicht uninteressanten, sorgfältig
ausgewählten Stücken der verschiedensten Autoren,
so wie wir deutsche Lesebücher haben, wäre
vielleicht ein geeignetes Lehrmittel. Ja der Schüler
würde so von der alten Literaturgeschichte mehr lernen
als jetzt. Ich habe auf einem ausgezeichneten
Gymnasium von denjenigen Autoren, die nicht zufällig
auf dem Lehrplan standen, z. B. von Herodot,
Plutarch, Lysias, Catull, überhaupt gar Nichts gehört,
während Cicero bis zum Aeussersten getrieben wurde.
Man versehe jenes Lesebuch mit literargeschichtlichen
Notizen über alle excerpirten Autoren, und man wird
ein wahres Stück Einführung in die Antike haben.
Natürlich wird man einige Autoren den Schülern auch
im Original vorzulegen haben, vielleicht Einen lateinischen
und weiterhin auch Einen griechischen in jeder
höheren der betheiligten Classen. Die Dichter,
vor Allen Homer, werden dabei gewiss den Vorrang
verdienen; man liest ja auch in der Muttersprache auf
dem Gymnasium in erster Linie die Dichter.
Die angeregte bedeutende Beschränkung der Lecture
dürfte die Unterrichtstunden im Lateinischen und
Griechischen, ohne der Gründlichkeit Abbruch zu thun,
um mindestens ein Viertel ihrer Anzahl vermindern,
wodurch für andere unentbehrliche Dinge Raum genug
geschafft wird.
Absolut entbehrlich scheint mir auf der Gymnasialstufe
der Unterricht im Hebräischen. Zur allgemeinen
Bildung gewiss nicht nothwendig, hat er nur
für einen fast verschwindend kleinen Bruchtheil der
Schüler eine fachliche Bedeutung, und kann für diese
leicht auf der Universität nachgeholt werden.
Statt dessen sollte neben den alten Sprachen obligatorisch
für Alle, nicht bloss facultativ, ausser Französisch
auch Englisch und Italienisch, wenigstens kurze
Zeit, unterrichtet werden. Einer der wundesten Puncte
der jetzt geltenden Maturitätsbestimmungen für Mediciner
ist, dass sie ausser der Muttersprache nur Eine
lebende Sprache verlangen. Die genannten Sprachen
sind heute für jeden wissenschaftlichen Mann vollkommen
unentbehrlich. Es genügt, wenn die ersten
Schwierigkeiten auf dem Gymnasium überwunden werden,
besonders die der Aussprache, gegenüber welchen
der Selbstunterricht ohnmächtig ist. Die Grammatik
dieser Sprachen bietet dem in alten Sprachen Geübten
und im Französischen von Kindheit an Unterrichteten
so wenig ernstliche Schwierigkeiten, dass für jede ein
zweistündiger Unterricht durch zwei Semester vollauf
genügt um den Schüler zu befähigen, später wissenschaftliche
Arbeiten dieser Sprachen im Original zu
lesen, in Mussestunden den Classikern derselben sich
zuzuwenden, und einst mit Genuss in diesen Ländern
zu reisen. Wer da weiss, wie sehr die geringste
zwangmässige Einführung in einen Gegenstand auf
der Schulstufe die spätere Beschäftigung mit demselben
erleichtert, wird mir Recht geben. Nur zu oft
habe ich im Laboratorium, wenn ich einem Practicanten
eine italienische oder selbst eine englische Originalarbeit
in die Hand geben musste, die Antwort gehört:
das kann ich nicht lesen. Mit wie wenig Opfer
auf der Schulstufe wäre das zu verhüten gewesen!
Mit mehr Vertrauen auf persönliche Erfahrung
als in dem bisher Gesagten wende ich mich zu der
anderen Hauptseite des Gymnasialunterrichts, zur mathematisch-naturwissenschaftlichen.
Auch hier stelle
ich die Forderungen keineswegs für den Mediciner,
sondern für jeden der einem gelehrten Beruf sich widmen
will.
Die descriptiven Naturwissenschaften, Botanik,
Zoologie, Mineralogie, werden fast allgemein nur in
den unteren Gyrnnasialklassen gelehrt, und in den
oberen grossentheils wieder vergessen. Ich halte dies
für ein wahres Unglück. Der pädagogische Werth
dieses Unterrichts liegt bekanntlich weit mehr in der
Schärfung des Blicks für die Auffassung von Formen,
als in dem unmittelbaren Nutzen der gewonnenen
Kenntnisse. Selbst für den Mediciner ist die Kenntniss
von Pflanzen, sogar von Medicinalpflanzen, von
relativ unbedeutendem unmittelbaren Werth; wir suchen
den Fingerhut und die Eichenrinde nicht selber
in Wiese und Wald, ja unsre meisten Arzneien sind
Präparate, die selbst der Pharmaceut aus grossen
chemischen Fabriken bezieht. Aber wer nicht von
Jugend auf gelernt hat eine organische Form zu merken,
wird auch in der Anatomie unnöthige Schwierigkeiten
finden; ja selbst dem Philologen, namentlich
dem archäologischen Forscher, ist Schulung in der
Formenauffassung unentbehrlich. Dieser Auffassungsunterricht
kann nicht früh genug begonnen, und sollte
auf der Schulstufe keinen Augenblick unterbrochen
werden. Die zwei wöchentlichen Stunden, die ihm
das untere Gymnasium *) widmet, könnten auch auf
Eine reducirt, dafür aber auch im oberen Gymnasium
wöchentlich Eine Stunde, im Sommer Botanik, im
Winter Zoologie, und auf der obersten Stufe auch
Mineralogie beibehalten werden. Der mineralogische
Unterricht sollte nicht an den Schluss des unteren,
sondern an den des oberen Gymnasiums verlegt werden;
denn um an der Krystallographie Geschmack
zu finden, muss man mathematische und optische,
und für die descriptive Mineralogie auch etwas chemische
Vorkenntnisse besitzen.
Die erklärenden Naturwissenschaften, Physik und
Chemie, sind ein ungemein bildendes Element, daran
zweifelt Niemand. Trotzdem wird meist nur der Physik
gebührende Berücksichtigung zu Theil. Chemie wird
an vielen Gymnasien gar nicht gelehrt. Vom medicinischen
Standpunct wäre das durchaus nicht zu beklagen;
ja ich muss gestehen, dass ich mich vor Jahren
einmal in einer Berathung gegen chemischen Gymnasialunterricht
erklärt habe, weil ich ausschliesslich
das Interesse der Mediciner im Auge hatte. Ich bin
davon zurückgekommen. Gewisse chemische Begriffe
und Kenntnisse muss heutzutage jeder haben der auf
Bildung Anspruch macht, und deshalb wünsche ich
grade im Interesse der künftigen Juristen, Philologen
u. s. w., dass sie auf der Schulstufe mit der unorganischen
Chemie einigermaassen vertraut gemacht werden.
Es klingt seltsam, aber ist doch gerechtfertigt,
wenn ich sage: wollt ihr partielle Dispensationen einführen,
—gegen welche ich übrigens einen tiefen Widerwillen
habe — so dispensirt die Philologen vom
Griechischen und die Mediciner von der Chemie!
Und nun endlich die Mathematik. Schon vor fast
zehn Jahren habe ich die Forderung ausgesprochen,
die ich nach langjähriger Erfahrung im Unterricht jeden
Tag mehr als unabweisbar erkenne: der mathematische
Unterricht der Gymnasien muss eine Stufe
weiter geführt werden als es heute geschieht.
Manche Gymnasien, z. B. ein sonst vortreffliches
in einem unsrer Nachbarkantone, geben ihren Schülern
nicht einmal die analytische Geometrie, diese
Grundlage aller höheren mathematischen Anschauung.
Und doch ist der Begriff der Curve und des Coordinatensystems
einer der fruchtbarsten für jede wissenschaftliche
Beschäftigung und jeden Beruf. In der
Medicin brauchen wir ihn bei jedem Schritte, es ist
uns in Fleisch und Blut übergegangen, jede Abhängigkeit
durch eine Curve darzustellen; wir lassen sie uns
von der Natur selbst in dieser Form aufschreiben.
Aber nicht minder wichtig ist diese Denkweise für
den Statistiker, den Nationalökonomen; selbst der Finanzmann
sieht heutzutage den Gang der Curse vielfach
durch Curven dargestellt, und hat ein feines Gefühl
dafür ob der Curs gradlinigt oder gekrümmt, ob
gegen die Abscisse concav oder convex steigt und
fällt; die meteorologischen Nachrichten werden nach
verschiedenen Methoden durch Zeit- und Raumcurven
veranschaulicht; überall fast drängt sich diese anschaulichste
aller Auffassungsweisen für Abhängigkeiten uns
auf. Und welch hohen Genuss bietet schon das erste
Eindringen in die analytische Curvenlehre, die Lehre
von den Kegelschnitten, mit der einfachen Schönheit
dieser Linien und der Fülle eleganter mathematischer
Beziehungen, welche sie bieten. Gewiss wird mancher
Geist grade an dieser Stelle des mathematischen
Unterrichts erst wirklich für die Mathematik gewonnen.
Aber der Gymnasialunterricht muss noch einen
kleinen Schritt weiter gehen, er muss den Begriff des
Differentialquotienten den Schülern mitgeben. Mit
diesem Begriff und der Kenntniss des Differentiationsverfahrens,
welche durchaus elementarer Natur ist und
von jedem mittelmässigen Kopf verstanden werden
kann, enthüllt sich ein ganz neues und unendlich
fruchtbares Gebiet menschlichen Denkens. Die analytische
Geometrie führt grade zu einer der anschaulichsten
Methoden diesen Begriff zu lehren, und wenige
Lehrstunden in der obersten Klasse würden hierzu
genügen. Die ungefähre Anschauung der Curve, und
der Bedeutung ihrer Neigung, Krümmung, ihrer Wende-
und Maximumpuncte gewinnt hier feste Gestalt, und
ausserdem befähigt dieser geringfügige Aufwand an
Unterricht den Schüler zur Lösung einer grossen Anzahl
immer wiederkehrender Aufgaben, von denen ich
nur die Aufsuchung der Maxima und Minima erwähne.
Es ist mir immer unbegreiflich gewesen, warum das
Gymnasium diesen Gegenstand hartnäckig von sich
weist. Bei jedem Schritt des Unterrichts in der Physiologie
oder medicinischen Physik bin ich genöthigt
zu Umwegen meine Zuflucht zu nehmen, weil ich diese
Begriffe bei meinen Zuhörern nicht voraussetzen darf,
und noch mehr wird der Lehrer der Physik in dieser
Lage sein, wenn er den Begriff der Geschwindigkeit,
der Beschleunigung, Fall-, Wurf- und Pendelgesetze
u. dgl. zu entwickeln hat. Nur sehr wenige, welche
nicht direct Mathematik oder Physik studiren, finden
Zeit mathematische Vorlesungen zu hören. Das Privatstudium
aus Lehrbüchern ist aber erfahrungsgemäss
grade für den ersten Schritt in die Infinitesimalrechnung
hinein äusserst schwierig, während der lebendige
Vortrag hier leichtes Spiel hat. Ist nur dieser Schritt
überwunden, so hat die Fortsetzung dieser Studien aus
Lehrbüchern keine Schwierigkeit, wenigstens bis zu
derjenigen Stufe, welche zum Verständniss zahlreicher
Untersuchungen der mathematischen Physik befähigt.
Möglicherweise — ich besitze hierüber keine Erfahrungen
— ist mancher Schüler zu gering mathematisch
veranlagt um in dies Gebiet eingeführt werden
zu können, obwohl ich nicht glaube, dass für diese
Köpfe grade hier und nicht vielmehr schon auf viel
niedrigeren Stufen die Grenze des Verständnisses liegt.
Gut denn, so führe man diesen Unterricht wenigstens facultativ
ein. Hierin liegt keineswegs ein Widerspruch
gegenüber meiner vorhin ausgesprochenen Abneigung
gegen auf Berufswahl gegründete Dispensationen; nicht
der künftige Beruf, sondern die Befähigung würde hier
den Ausschlag geben, und nicht der Schüler, sondern
der Lehrer würde die Dispensation verfügen.
Es könnte scheinen als hätte ich mit der letzten
Forderung zu speciell das Interesse des Mediciners
im Auge; aber das ist nicht der Fall. Ich wage zu
behaupten, dass die Grundsätze der Differentialrechnung
ebensosehr wie die analytische Geometrie für
Jeden, der in Gedankenoperationen zu leben hat, das
Verständniss für quantitative Abhängigkeiten in ungeheurem
Grade, fördert, und in Wahrheit eine höhere
Art von Logik ist. Ein geschickter und anregender
Lehrer mache nur erst einmal den Versuch einen philologischen
Schulmann in dies Gebiet einzuführen. Eine
Freude wird hervorbrechen, welche für die Einführung
desselben als Schulgegenstand fruchtbar sein wird.
Wer hierfür durch Aufopferung anderer mathematischer
Doctrinen Raum gewinnen will, dem würde
ich am liebsten die sphärische Trigonometrie preisgeben,
ein sehr verbreiteter Unterrichtsstoff, der aber
weder den Horizont des Schülers erheblich erweitert
noch von grossem practischen Nutzen für die Mehrzahl
der Berufsstudien ist.
Die Gymnasiallehrer wenden ganz gewöhnlich gegen
Reformvorschläge dieser Art ein, es fehle an Zeit,
und die Schüler seien schon jetzt überbürdet, die Kurzsichtigkeit
von erschreckender Verbreitung. Allein ich
glaube gezeigt zu haben, dass die Zeit durch die Beschränkung
der lateinischen und griechischen Lecture
überreichlich gewonnen wird. Man bedenke, was es
sagen will, wenn 5 1/2-6 Jahre hindurch von 7 lateinischen
und 7 griechischen Stunden wöchentlich je 2
erspart werden, wieviel in diesen 4 Stunden gewonnen
werden kann, ohne selbst den durch Wegfall des
Hebräischen, des Mittel- und Alt-Hochdeutschen (das
im Lehrplan mancher Gymnasien steht) erreichten Zeitgewinn
zu rechnen. Ich könnte leicht einen Lehrplan
aufstellen (und ich habe es zu meiner eigenen Ueberzeugung
gethan), um zu zeigen, wie vollkommen jene
Forderungen ohne die mindeste Mehrbelastung der
Schüler erfüllbar sind. Die Kurzsichtigkeit übrigens
wird wohl besser bekämpft durch zweckmässige Einrichtung
der Schultische, gute Beleuchtung der Klassen,
Verminderung der häuslichen Arbeiten (besonders der
Lecture-Präparationen und der lateinischen Aufsätze),
vor Allem aber durch Unterdrückung des Romanelesens,
als durch den Wegfall einiger Lehrstunden.
Ich erlaube mir, noch einmal die gemachten Vorschläge
zu recapituliren: Bedeutende Beschränkung
der Lecture antiker Schriftsteller, ohne Verminderung
des grammatischen und syntactischen Unterrichts im
Lateinischen und Griechischen. Wegfall des Hebräischen
auch für künftige Theologen. Obligatorische
Einführung des Englischen und Italienischen neben
dem Französischen, wenigstens in dem Umfange dass
in den beiden obersten Classen Eine wöchentliche
Stunde abwechselnd oder nacheinander einer dieser
Sprachen gewidmet wird. Abwechselnder botanischer
und zoologischer Unterricht mit Einer Stunde wöchentlich
durch den oberen Theil des Gymnasiums hindurch,
auf der obersten Stufe dafür Mineralogie. Einführung
in die unorganische Chemie in einer der obersten Classen.
Ausdehnung des mathematischen Unterrichts bis
zur analytischen Geometrie der Ebene, und (wenigstens
facultativ) den Grundzügen der Differentialrechnung.
Ich weiss nur zu gut, dass die Leiter der Gymnasien,
fast durchgehends Philologen, grade dem Hauptmittel
für die Erreichung dieser Neuerungen, der Beschränkung
der griechischen und lateinischen Lehrstunden,
den hartnäckigsten Widerstand leisten werden.
Und doch werden sie zugeben müssen, dass das jetzige
Gymnasium eben eine einseitige Vorschule für Philologen,
in zweiter Linie für Theologen und Juristen ist,
und dass der Mediciner nur so nebenhergeht, obgleich
für ihn keine andre Vorschule existirt, weil er das Lateinische
und Griechische nicht entbehren kann. Ich
habe schon angedeutet, dass der Widerstand der Gymnasialvertreter
gegen jede Neuerung der ankämpfenden
Realschule einen halben Sieg verschafft hat. Indess
ist zu hoffen, dass dieser Widerstand gebrochen werden
wird, nicht zu Gunsten der Mediciner, sondern
des Gymnasiums selbst, das eben keine Fachschule
sein soll, auch für Philologen nicht. Ich bin überzeugt,
dass die Philologen selbst es eines Tages nicht ungern
sehen werden, wenn Tacitus, Plato, Demosthenes,
statt von unreifen Schülern, die vor Schwierigkeit
nicht zum Genuss kommen, erst auf der Universität
von solchen gelesen werden, die specielles Interesse
dazu mitbringen, und die Vorkenntnisse ebenfalls erst
in philologischen Vorlesungen ordentlich ausgebildet
haben.
Ein so reformirtes Gymnasium würde ich nicht
mit dem ominösen Namen "Realgymnasium" belegen.
Es soll, denke ich, daneben kein anderes Gymnasium,
etwa ein Gymnasium "erster Klasse", existiren. Wie
das jetzige Gymnasium der volle Ausdruck dessen ist,
was man vor 100 oder 50 Jahren volle allgemeine Bildung
nannte, so wird das Gymnasium der neuen Gestalt
ein Ausdruck unsrer heutigen Bildung sein. Seine
Abiturienten werden zu jedem Studium gleich gut vorbereitet
sein, und, wenn sie nicht studiren, in die Welt
treten mit weitem Horizont, erfüllt mit Interesse für
Alles was die Geister bewegt, mit warmem Herzen
für die Denkmäler der Vergangenheit, und dabei doch
mit geübtem Blick für das was sie umgiebt in Natur,
Industrie und Kunst.
Während wir aber beschäftigt sind, den Gymnasialunterricht,
dessen Unentbehrlichkeit zu bezweifeln
uns gar nicht in den Sinn kommt, möglichst zweckentsprechend
zu gestalten, rüsten sich hinter uns Andre
um die Controlle der sogenannten Maturität gänzlich
zu beseitigen. Die Universität Niemand zu verschliessen,
welcher glaubt sie mit Nutzen besuchen zu können,
ist ja eine alte, und allenfalls noch haltbare Forderung.
Aber man verlangt augenblicklich, auch die
Berufsprüfung, zunächst die medicinische, habe keine
Maturitätscontrolle auszuüben, sondern sich auf die
Feststellung der beruflichen Kenntnisse zu beschränken.
Schon deshalb habe jene Controlle keinen Sinn,
weil sie Kenntnisse betrifft, die einer vor mehreren
Jahren schon absolvirten Unterrichtsstufe entsprechen.
Allein es ist doch klar, dass, wenn überhaupt die dem
Maturitätszeugniss entsprechenden Kenntnisse als Bedingung
einer Approbation gelten, der Staat diese Bedingung
erst in dem Augenblick controlliren kann, wo
er um eine Approbationsprüfung angegangen wird.
Entweder also muss man das Maturitätszeugniss zur
Bedingung der Immatriculation und das Studienzeugniss
zur Bedingung der Approbation machen, oder,
einfacher, und den Gegnern staatlicher Bevormundung
wie man meinen sollte erwünschter, das Maturitätszeugniss
bei der Approbationsprüfung verlangen.
Wer beides nicht will, erklärt, dass es gleichgültig
ist, ob der Arzt, und entsprechend der Richter, der
Pfarrer, der Lehrer, eine allgemeinere Bildung hat,
als seine blossen Berufskenntnisse. Ja die letzte Consequenz
dieser Anschauung wäre, dass der Arzt auch
in den Grundwissenschaften der Medicin, in Anatomie
und Physiologie nicht geprüft wird, wenn man nicht
vielleicht überhaupt den ärztlichen Beruf gänzlich freigeben
will. Wer aber für die hohe Aufgabe des
Arztes, auch in Gemeinde und Staat, ein Verständniss
hat, wer im Richter mehr sieht als ein Organ
der öffentlichen Gewalt, im Pfarrer mehr als einen
rituellen Beamten, wird nicht so urtheilen. Der Arzt,
um bei diesem 'Berufe stehen zu bleiben, soll nicht
bloss der Rathgeber des Kranken sein, er ist auch
der Vertrauensmann des Gerichtes, der Versicherungsgesellschaft,
der technische Beirath der Gemeinde und
des Staates in unzähligen sanitarischen, baulichen und
pädagogischen Fragen, und er soll sein eins der geistigen
Oberhäupter seiner Gemeinde, der gefürchtete
Feind aller dunklen Existenzen, alles Schwindelhaften,
alles Aberglaubens, Spiritismus und Mysticismus. Ihm
den Instinct und die Feindseligkeit gegen diese Mächte
tief einzupflanzen, ist eine der Hauptaufgaben des Universitätsunterrichts,
aber dieser wird ohnmächtig sein,
wenn nicht die Grundlage wahrer Bildung schon auf
der Schulstufe gelegt ist. Und diese Vorbedingung
kann wieder nicht anders gesichert werden als indem
der Staat am Anfang oder am Schluss des Universitätsunterrichts,
also überhaupt einmal, ein Reifezeugniss
verlangt.
Durch äussere Umstände ist diese Forderung auf
schweizerischem Boden augenblicklich zu einer brennenden
Frage geworden. So erfreulich es ist dass
das frühere Medicinalconcordat sich durch Uebergang
des Prüfungswesens an die Eidgenossenschaft auf alle
Cantone ausgedehnt hat, so ist doch die grosse Schwierigkeit
entstanden, die Verhältnisse der wälschen und
die der deutschen Cantone zu einem für beide Theile
bequemen gemeinsamen Modus zu verschmelzen. Da
die Art des Vorunterrichts auf beiden Seiten wesentlich
verschieden ist, machten besonders die Maturitätsanforderungen
des Prüfungsreglements erhebliche
Schwierigkeiten. Dieser Umstand einerseits, andrerseits
die Krisis in welcher sich überall grade jetzt,
besonders auch in Deutschland, die Frage nach der
besten Vorbildung des Mediciners befindet, haben die
Bearbeiter des jetzt vorliegenden Entwurfs veranlasst,
die Maturitätsanforderungen überhaupt zu beseitigen,
d. h. Jeden ohne Weiteres zur Prüfung zuzulassen,
welcher glaubt sie bestehen zu können. Dieses Vorhaben
wird hoffentlich nicht ausgeführt werden. Von
allen Seiten haben sich bereits gewichtige Stimmen
dagegen erhoben, nicht bloss seitens der medicinischen
Facultäten, sondern namentlich und erfreulicherweise
auch seitens der ärztlichen Vereine. Die Folgen wirklichen
Fallenlassens der Maturitätsanforderungen wären
unabsehbar verhängnissvoll. In grosser Zahl würden
die mittelmässigen Schüler das Gymnasium vor vollständiger
Absolvirung verlassen, dem gefürchteten
Maturitätsexamen sich entziehen, und dem medicinischen
Studium sich zuwenden, in der leichtfertigen
Hoffnung in 4-5 Jahren doch die medicinische Prüfung
zu bestehen; namentlich vom Ausland würden massenhaft
solche Elemente zuströmen; und das mittlere
Bildungsniveau des schweizerischen Arztes, bisher dem
der Nachbarländer mindestens gleichstehend, würde
tief herabsinken.
Trotzdem muss man anerkennen, dass die Schwierigkeit
vernünftige Maturitätsanforderungen aufzustellen
nicht gering ist. Und deshalb scheint mir grade
jetzt der richtige Moment, nachdrücklich auf den Umstand
aufmerksam zu machen, dass die Frage des Gymnasialunterrichts
und die der Maturitätsprüfung nicht
nothwendig identisch sind. Natürlich kann das Maturitätsexamen
nichts enthalten, was nicht der Unterricht
geboten hat, aber umgekehrt kann und soll
der Unterricht viel mehr bieten, als das Examen
wirklich verlangt. Wir machen es ja im Berufsexamen
und Berufsunterricht ganz ebenso. Das was das
Examen beanspruchen muss, ist logischerweise das
Minimum, und das was der Unterricht bieten soll, das
Maximum der Kenntnisse. Ja das Examen am Schluss
des Gymnasialunterrichts hat nicht einmal jene pädagogische
Bedeutung wie die Universitätsprüfungen;
letztere nämlich sind das nothwendige Correlat zur
Lernfreiheit, der unentbehrliche Sporn für einen Theil
der Studirenden; der grosse Mahner, der uns den unangenehmsten
Theil der Handhabung academischer
Disciplin erspart; das Gymnasium dagegen mit seinem
Besuchszwang und seiner strengen Disciplin, die sich
auch auf die häuslichen Arbeiten erstreckt, hat ganz
andere Mittel als das Schlussexamen, um die Schüler
zur Thätigkeit anzuhalten. So kann es auch unmöglich
schwierig sein, gemeinsame Maturitätsanforderungen
für die ganze Schweiz aufzustellen; man halte
nur immer daran fest, dass man hauptsächlich eine
geistige Reife für ein vom Schulzwang freies Studium
durch die Prüfung feststellen will. Die Unterschiede,
die der Nordosten und der Südwesten der
Schweiz in dieser Beziehung macht, werden gewiss
nicht gross sein. Jedes Gymnasium aber soll seine
Ehre darin sehen, Schüler auszubilden, welche mehr
wissen, und vor Allem mehr können, als die Minimalforderungen
des Staates betragen, welche in der Maturitätsdefinition
ihren Ausdruck finden.
Diese Maturitätsbedingungen sollen dann aber
grundsätzlich für alle Berufe die gleichen sein; hoffentlich
erleben wir es noch, dass sie nicht mehr im
eidgenössischen Medicinalgesetz aufgeführt zu werden
brauchen, weil ein besonderes Gesetz die Maturitätsanforderungen
gemeinsam regelt für alle Fächer, für
welche die Eidgenossenschaft Prüfung und Approbation
handhabt, d. h. hoffentlich einst für alle gelehrten
Berufe.
Ich habe meinen Zweck erreicht, wenn es mir
gelungen ist, Sie für das eine Grundprincip zu gewinnen,
dass der tüchtige Jurist genau die gleiche
gymnasiale Vorbildung braucht wie der tüchtige Mediciner.
Fort mit allen Dispensationen auf der Gymnasialstufe!
Mit Bedauern sehe ich bei den Immatriculationen
häufig . jene leidige Dispensation vom
Griechischen, z. B. bei Medicinern. Vergebens frage
ich mich: was hat der junge Mann statt dessen gelernt?
Vielleicht spricht er fertig Italienisch und
Englisch, vielleicht ist er in der Mathematik sehr
weit vorgeschritten? Nichts von alledem. Der Schüler
hat einfach durch vorzeitige Entscheidung des Berufs
weniger gelernt als die andern. Die künftigen
Theologen dürfen auf dem oberen Gymnasium bei
uns für das Hebräische vom Unterricht im Französischen
dispensirt werden; — ein wahres Unglück,
wenn sie davon Gebrauch machen. Das Französische
ist doch gewiss auch für den Theologen, vor Allem
in der Schweiz, auf der Gymnasialstufe unendlich
wichtiger als das Hebräische, das er auf der Universität
viel rascher erlernen wird. Jede Dispensation
führt zu vorzeitiger Entscheidung des Berufes, und
huldigt dem falschen Grundsatz dass das Gymnasium
eine Fachschule ist.
Für einige Fächer, das erkenne ich gern an,
könnte möglicherweise eine Reduction des classischen
Gymnasialunterrichts die Nothwendigkeit mit sich
bringen, die academische Studienzeit um ein Semester
zu verlängern. Das Gewicht dieses Bedenkens verkenne
ich keineswegs, obgleich ich noch nicht überzeugt
bin, dass diese Folge nothwendig ist; allein
wenn sie eintritt, wird man sich mit ihr wohl oder
übel abfinden müssen, denn das allgemeine Interesse
muss den besonderen vorangehen. Ich glaube aber
nicht, lediglich vom Standpuncte des Mediciners gesprochen
zu haben.
Der Luftzug unseres stürmischen Jahrhunderts
streicht auch durch die Hörsäle unsrer Bildungsanstalten,
des Gymnasiums und der Universität. Vieles
haben wir sorglich festzuhalten, damit es nicht
vorzeitig hinweggeweht werde, aber Manches sollen
und müssen wir preisgeben. Mögen die erhaltenden
Kräfte auf das Wichtigste concentrirt werden; die
Entscheidung ist schwer, nur die Einsicht Vieler kann
zu einer weisen Verständigung führen. Eine solche wird
auch bei uns nicht ausbleiben, und jene Zugluft wird sich
schliesslich, darauf vertraue ich, wohlthätig erweisen.