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Ueber die Helvetier

und ihr Verhältnis
zu einer älteren Bevölkerung der Schweiz,
nebst einigen Worten
über Völkerwanderungen und über die
Swewen.

Eine akademische Amtsrede von

Friedrich Brömmel,
Doctor der Philosophie und ordentl. Professor der Geschichte an der
Universität zu Basel.
verlegt von J. G. Neukirch. 1836.

Verpflichtet als Rector unserer Universität, an einem Tage meines Amtsjahres in feierlicher Versammlung mit einer Rede aufzutreten, habe ich mir vorgenommen, bei dieser Gelegenheit einen Gedanken darzulegen, der sich in mir bei historischen Forschungen gebildet hat, nämlich den Gedanken, die Helvetier seien, als sie von der Schweiz Besitz nahmen, zu einer früheren Bevölkerung dieses Landes hinzugekommen. Ob meine Gründe für diese Ansicht auch Andere überzeugen werden, muss ich dahin gestellt sein lassen; doch darf ich glauben, der gewählte Stoff werde die Aufmerksamkeit meiner verehrten Zuhörer in Anspruch nehmen; und in der Wissenschaft ist eine sorgfältige Prüfung üblicher Meinungen, auch wenn die beabsichtigte Widerlegung mislingt, nicht ohne Werth. In der Wissenschaft ist es keine Anmaassung, was die berühmtesten Gelehrten ausgesprochen haben, einer scharfen Prüfung zu unterwerfen; die Wissenschaft strebt nach reiner Wahrheit; in ihr gilt nur gründliche Beweisführung, nicht das Wort oder der Buchstabe eines noch so grossen Mannes; wer auf das Wort des Meisters schwört, ist kein ächter Jünger der Wissenschaft; und Irren oder eines Irrthums überführt werden, ist keine Schande, wenn man mit Eifer und Liebe die Wahrheit sucht. Du, verewigter Johannes Müller, umfasstest mit inniger Liebe

die historischen Wissenschaften; an ihnen hängt auch meine Seele. Deine Manen werden mir nicht zürnen, wenn ich dir Irrthümer nachzuweisen unternehme: mag von deinen Verehrern Keiner mich schelten! Deine wahren Verdienste schätzt Niemand höher als ich.

Der Untersuchung, die wir vorgenommen haben, müssen wir zwei Bemerkungen vorausschicken. Die eine betrifft den Ausdruck, den wir gebrauchen werden, "die ursprüngliche Heimat eines Volkes." Die Griechen und Romer nannten manche Völker άντόχδονες oder aborigines, und dachten sich dabei solche, die in dem von ihnen bewohnten Lande ursprüngliche und von nirgend her eingewandert seien. Nach der Zeit des Griechen- und Römerthums wurde der Glaube allgemein, auf einem einzigen Punkte der Erde habe das ganze Menschengeschlecht seinen Anfang genommen, von da sich über alle Länder verbreitet, und hierbei sich in verschiedene Völker gesondert. In neuerer Zeit ist man von diesem Glauben abgekommen. Doch will man wieder die Inder und Perser, die Griechen und Römer, die Deutschen und Slawen von Einem Urvolke am Himmalaya herleiten, weil die Sprachen dieser Volker für einige Begriffe ähnlich lautende Wörter haben, und nach ähnlichen Gesetzen sich biegen. Vormals, wo man es wunderbar fand, dass die Völker der Erde nicht Eine, sondern verschiedene Sprachen haben, nahm man seine Zuflucht zu der babylonischen Verwirrung; jetzt, wo man die Aehnlichkeit einiger Sprachen unter einander auffallend findet, nimt man für die Völker, von denen diese geredet werden, eine gemeinschaftliche Abstammung an. .

Diese Meinung muss, will sie nicht mit sich selbst in Widerspruch gerathen, so viele Urvölker setzen, als sie die Sprachen der Erde in Aehnlichkeits-Classen eintheilt. Uns würde es als ein Wunder erscheinen, wenn die Sprachen nicht nähere und entferntere Aehnlichkeiten, grössere und geringere Verschiedenheiten hätten. Denn in der Sprache eines Volkes ist sein geistiges Gepräge abgedrückt; da nun der Menschengeist in alle Völker ausgegossen ist, so findet sich auch in allen Sprachen etwas Gemeinsames; und weil die Völker sich psychologisch unterscheiden, so weichen auch ihre Sprachen von einander ab; endlich weil die geistige Begabung der Volker zwischen einigen ähnlicher ist als mit anderen, so tritt auch zwischen den Sprachen der ersteren eine grössere Gleichartigkeit hervor. Uebrigens haben wie keineswegs den Vorsatz, in den anzustellenden Betrachtungen etwas zur Entscheidung über die Frage sagen zu wollen, ob von Einer Gegend der Erde das ganze Menschengeschlecht ausgegangen, oder ob in den verschiedenen Ländern eine ihnen eigenthümliche Bevölkerung entsprungen sei; wie erwarten nur, dass, dies leztere anzunehmen, nicht geradehin für verwerflich gehalten werde.

Zweitens ist im voraus zu bemerken, dass wir in der folgenden Untersuchung, um die Weitläufigkeit geographischer Umschreibungen zu vermeiden, mit dem Namen der Schweiz, so oft er genannt wird, immer nur das Land bezeichnen, das von dem Gotthard, den Berner Alpen und dem Genfer See im Süden, vom Bodensee und dem Rhein im Norden begränzt wird, dass also (Graubündten, Tessin, Wallis und Genf nicht mit zu verstehen sind.

Dass zu der Zeit, als die Römer von der Schweiz Kunde erhielten, gegen Ende .des zweiten Jahrhunderts vor der christlichen Zeitrechnung, die Helvetier in dem Lande wohnten, und dass diese zu dem gallischen Völkerstamme gehörten, ist keinem Zweifel unterworfen. Es fragt sich, sind die Helvetier ursprünglich in der Schweiz, oder wanderten sie ein? —Johannes Müller lässt *) die Helvetier von Westen her aus Gallien an den Main kommen, von diesem Flusse gen Süden wandern, und endlich in der Schweiz ansässig werden. Das will er mit einer Stelle aus Tacitus Schrift über Deutschland belegen **). Aber Tacitus sagt in der angeführten Stelle weiter nichts, als Helvetier seien über den Rhein in Deutschland eingedrungen, und hätten eine Gegend zwischen dem Rhein, dem Main und dem hercynischen Walde (d. h. hier dem Waldgebirge auf der rechten Seite des Oberrheins) eine Zeit lang inne gehabt. Nach Tacitus Worten können die Helvetier, die in Deutschland eindrangen, von. Süden her, aus der Schweiz, nach Deutschland gekommen sein, und schon vorher ihre Sitze in der Schweiz gehabt haben; auch ist es wenigstens sehr wahrscheinlich, dass er die Worte in diesem Sinne geschrieben hat; denn 1. spricht er nirgend, und eben so wenig ein

anderer Schriftsteller des Alterthums, von einer Einwanderung der Helvetier in die Schweiz; 2. wenn Jemand, ohne von Wanderungen der Helvetier zu reden, anführt, sie haben eine Zeit lang einen Strich des südwestlichen Deutschlands inne gehabt, so ist es am natürlichsten, zu denken, sie hatten ihn von Helvetien, aus besetzt; und 3. beruft sich Tacitus im Anfange der Stelle auf Worte Cäsars, "die Gallier seien einst tapferer als die Deutschen gewesen, Gallier seien in Deutschland eingedrungen" *), Tacitus führt darauf die Helvetier als Beispiel dafür an, und eben auch Cäsar sagt, dass sie hin und wieder aus der Schweiz in Deutschland eindrangen **). Johannes Müller scheint uns also gegen die Regeln richtiger Erklärung zu fehlen, indem er aus jenen Worten des Tacitus eine Einwanderung der Helvetier in die Schweiz, ja sogar den Weg nachweisen will, den sie dabei genommen hätten. Gleichwohl hegen auch wir die Meinung, dass die Helvetier nicht ursprünglich in der Schweiz, sondern eingewandert sind; doch wollen wir es auf eine andere Weise darzuthun suchen: vielleicht finden wir dann neben dem Beweise für die Einwanderung noch ein anderes Ergebniss.

Etwa sechzig Jahre, nachdem die Römer von der Schweiz und deren Bewohnern Kunde erhalten haben, im J. 58 vor der christlichen Zeitrechnung, wandern die Helvetier, am mit Weib und Kind, aus der Schweiz nach Gallien. Cäsar, der in demselben Jahre als Proconsul nach Gallien gekommen war, und gegen den Auszug der Helvetier in Kampf trat, gibt als Ursache der

Auswanderung Folgendes an: "sie waren kriegslustig; wollten sie einen Zug nach Deutschland unternehmen, so mussten sie erst über den Rhein setzen; wollten sie nach Gallien hineinstreifen, so hatten sie erst den hohen Jura zu übersteigen; diese Schwierigkeiten waren ihnen verdriesslich; sie beschlossen also, mit ihrer ganzen Macht nach Gallien zu gehen, sich da die Völker zu unterwerfen und da ala herrschendes Volk zu wohnen; sie glaubten, dies ausführen zu können, weil sie die anderen Gallier an kriegerischer Tüchtigkeit übertrafen; sie meinten, für ihre Zahl, für ihren Waffenruhm und ihre Tapferkeit sei ihr Gebiet zu klein" *). In dieser Angabe ordnet Cäsar Alles, was die Helvetier zur Auswanderung bewog, ihrem Kriegs- und Eroberungs-Geiste unter. Die Meinung der Helvetier, für ihre Zahl und Tapferkeit hätten sie ein zu kleines Gebiet, sagt durchaus nicht, dass das Land wegen beschränkten Flächenraumes und unfruchtbaren Bodens für die Ernährung des Volkes nicht ausreichte; schon der Ausdruck "Meinung" lässt eine Deutung auf Mangel an Nahrung gar nicht zu; es kann in den Worten kein anderer Sinn liegen, als: bei ihrer Tapferkeit hielten sie es ihrer Zahl für angemessen, Herren eines grösseren Landes zu sein. Ohne alle Nahrungsnoth konnten die Helvetier von Gallien angelockt werden: in der Schweiz hatten sie fast nichts, als die heimischen Erzeugnisse des Ackerbaues und der Viehzucht; in Gallien stand eine Menge grosser Städte; da boten Handel und Gewerbe mancherlei Genüsse:; und der beständige Hader zwischen den vielen kleinen Staaten des Landes liess keine gemeinsame

Vertheidigung erwarten. Man hat über die Auswanderung der Helvetier aus der Schweiz nach Gallien keine andere Ouelle, als Cäsars Nachrichten; man erkennt aus seiner ganzen Erzählung, dass er über die Ursache des Aufzuges genau unterrichtet war; man sieht auch nicht ein, and welcher Absicht er bei Angabe der Ursache die Wahrheit hätte entstellen sollen. Hatte er sich etwa zu entschuldigen, dass er die ausgewanderten Helvetier angriff und zurücktrieb? Unter den schon. bestehenden Verhältnissen Roms zu Gallien bedurfte das, selbst aus rein philosophischem Standpunkte betrachtet, keiner Rechtfertigung; wie viel weniger bei den Grundsätzen, nach welchen die Romer gegen andere Völker verfuhren! Wann hätte Rom, seitdem es glaubte, zur Herrschaft über den Erdkreis von den Göttern bestimmt zu sein, sich oder seinen Feldherrn nicht für erlaubt gehalten, auch gegen die ungefährlichsten und friedlichsten Völker Krieg zu beginnen? Und Cäsar kannte kein anderes Völkerrecht als das römische. — Nach dem allen darf an der Angabe Cäsars über den Beweggrund der Helvetier zur Auswanderung nichts geändert werden. Doch Johannes Müller sagt: "die Helvetier waren ein friedfertiges Volk *); sie beschlossen, ihr unfruchtbares enges Land um bessere Länder zu verlassen **); es war für weniger als 400,000 Einwohner zu klein ***)". Wir wollen seine Angabe näher betrachten; hierbei zuerst die Friedfertigkeit der Helvetier, dann die Unfruchtbarkeit und Enge des Landes im Verhältniss zu der Zahl des Volkes in Untersuchung ziehen.

Woher weiss Johannes Müller, die Helvetier seien friedfertig gewesen? Von dem Philosophen Posidonius aus Alexandrien, einem Zeitgenossen Cäsars. Strabo namlich führt in seinem Abschnitte über die Kimbern an *), dass Posidonius erzählt, "sie seien zu den friedfertigen und goldreichen Helvetiern gekommen." In dieser Stille ist das einzige Zeugniss für die Friedfertigkeit der Helvetier, und noch dazu nur so beiläufig enthalten. Schon der miterwähnte Goldreichthum, den die Schweiz nach der Beschaffenheit ihrer Gebirge nie gehabt haben kann, macht die Kennerschaft des Posidonius verdächtig. Gleichwohl gilt dessen flüchtige Angabe Johannes Müller'n mehr, als Cäsars ausführliche Darlegung. Auch hat der schweizerische Geschichtschreiber nicht bedacht, dass die Helvetier mit ihrer Friedfertigkeit das gallische Blut verleugnet, ja eine Ausnahme von einer Regel gemacht hätten, von der sich sonst keine Aufnahme findet. Alle Völker nämlich, die von Ackerbau und Viehzucht, ohne ausgedehnte Gewerbs- und Handels-Thätigkeit, ohne Kunst und Wissenschaft, und in einem nicht verweichlichenden Klima leben, sind zum Kriege geneigt; denn bei so mancher müssigen Zeit sucht die Fülle ihrer Kraft noch Beschäftigung, und nichts anderes spannt ihr Gefühl so mannichfaltig, nichts anderes bringt ihnen die eigene Tüchtigkeit so zum Bewusstsein, wie der Krieg. — Es scheint, Johannes Müller hat, ungeachtet das heutige Schweizervolk nicht von den Helvetiern

abstammt, sie doch, als vormalige Bewohner des Landes, warm in sein Herz geschlossen; es ist ihm nicht recht, dass sie auf Raub- und Eroberungs-Züge ausgegangen sein sollen: darum sind sie ihm auf ein Wort des Posidonius ein friedfertiges Volk; darum erzählt er auch ihr Benehmen bei dem Eindringen in Gallien anders, als Cäsar. Diesem zufolge *) verfuhren die Helvetier ganz so, wie alle Völker, die auf Erwerb in Kriege aufziehen; sie plünderten und machten Sklaven; doch nach Johannes Müller nahmen sie durch Noth gedrungen Lebensmittel, und da, wo ihnen Widerstand geleistet wurde, junge Leute nicht zu Sklaven, sondern nur zu Geisseln **). Aber, indem er die Helvetier Lebensmittel aus Noth nehmen lässt, vergisst er, dass sie, wie er einige Seiten vorher ***) selbst erzählt hat, reichlichen Vorrath aus der Schweiz bei sich führten, und indem er angibt, sie hätten junge Leute nicht zu Sklaven, sondern nur zu Geisseln genommen, übersieht er, dass er selbst die 10,000 Hörigen, die der Helvetier Orgetorix besass, für Leibeigene, die von Kriegszügen mitgebracht wären, erklärt hat U ).

Wir gehen nun weiter zu der Untersuchung, ob die Fruchtbarkeit und der Raum in der Schweiz für die Zahl der Helvetier zu klein war.

Der Boden der Schweiz soll unfruchtbar sein. Das ist er im Hochgebirge; aber auch dieses hat seine herrlichen

Weiden, und in der weiten Ausdehnung vom Hochgebirge gegen Norden bis zum Rhein gibt es eine Menge Landstriche, die durch Erdart und Klima zu den fruchtbareren Gegenden des mittleren Europas gehören. Nach statistischen Angaben wird gegenwärtig in der Schweiz von dem benutzten Boden, wobei die Alpenweiden nicht einmal mitgerechnet sind, nur ein Drittel für Ackerbau, die anderen zwei Drittel für Forsten, Wiesen und Weinpflanzungen verwendet; dennoch wird an Getreide so viel gewonnen, als 1,200,000 Menschen und 70,000 Pferde gebrauchen; und an Rindern, welche Thiergattung für die Ernährung der Menschen am wichtigsten ist, zählt die Schweiz auf jeder Ouadratmeile im Durchschnitt zwischen 1300 und 1400 während im östereichischen Kaiserstaate, wo doch auf weiten, zum Theil sehr fruchtbaren Strecken vorzugsweise Viehzucht getrieben wird, nur 800 auf die Ouadratmeile kommen *). —Es ist eine gewöhnliche Vorstellung, in älteren Zeiten seien die rauheren Gegenden eines Landes unbewohnt gewesen, sie hätten also den bewohnten Raum verengt. Aber das ist ein Irrthum. So war z. B. das nördliche Samnium, wo das Apenninische Gebirge am höchsten und breitesten ist, wo gegenwärtig nur eine spärliche Bevölkerung zwischen Wildnissen sich findet, zu der Zeit, als Italien in das Licht der Geschichte trat, von zahlreichen Einwohnern bis

zu den Gipfeln der Berge hinauf gartenartig angebaut *). Auch die Alpen nährten in Cäsars Zeit, und gewiss schon vorher in ungezählten Jahrhunderten, nicht bloss Thiere, sondern auch Menschen. Freilich sagt Johannes Müller: "in dem ganzen Gebürg ist wenig Spur, dass es bewohnt war **); die mitternächtlichen Berge lagen wüste ***)". Die Spuren setzt er in Erdwällen und in Mauerwerk unter dem Boden; als ob Gebäude, welche Trümmer hinterlassen, wie Tempel und Burgen, in den Alpen hätten aufgeführt werden müssen; und als ob da nicht Tausende von Hirtenwohnungen durch eine lange Reihe von Jahrhunderten hätten stehen, und, wenn sie zerfielen, auf dem alten Grunde wieder ausgebaut werden können, ohne Spuren ihres Alters zu zeigen! Da die Alpen des Gotthards vom Furka bis an die Quellen des Rheins bewohnt waren, wie Johannes Müller selbst erzählt U ), und da die Gegend zwischen dem Montblanc und dem grossen Bernhard, die doch zu den höchsten und rauhesten gehört, nach Strabo's Berichte UU ) eine zur Verwunderung zahlreiche Bevölkerung hatte: wäre es nicht eine unerklärliche Erscheinung, wenn die nördlicheren, weniger hohen und rauhen Bergreihen menschenleer da gestanden hätten? —Die Zahl Aller, welche bei der helvetischen Auswanderung von der Schweiz nach Gallien zogen, Männer, Weiber und Kinder, gibt

Cäsar auf 336,000 an *). Wie hätte das Land vom Genfer bis zum Constanzer See, von den Quellen der Reuss und der Aar bis zur Mündung dieser Flüsse in den Rhein, ein Land, in welchem jetzt über anderthalb Millionen Menschen leben, für jene kleine Zahl von Einwohnern nicht hinlänglich Raum und Fruchtbarkeit gehabt? —Freilich gab es hier in jener Zeit noch keinen Handel, und der Ackerbau wurde ohne Kunst getrieben; aber auch gegenwärtig lebt die grosse Mehrzahl der Einwohner von Bearbeitung des Bodens und von Viehzucht, und der Ackerbau wird jetzt noch in der Schweiz fast überall mit alter Einfachheit und bei weitem nicht mit der Kunst wie in den Niederlanden getrieben. Auch die Belgen hatten damals keinen Handel, und verstanden den Ackerbau ohne Zweifel nicht besser, als die Bewohner der Schweiz: nun vergleiche man bei Cäsar **) die Zahl der Helvetier mit der Menge der waffenfähigen Männer, die von den belgischen Völkerschaften zum Kampfe gegen ihn aufgestellt werden konnten; eine einzige der vielen Völkerschaften in Belgien, die Bellovaker, zählte 100,000 waffenfähige Männer, was eine Volkszahl von 400,000 Menschen voraussetzt. Freilich hat Cäsar vielleicht die belgische Kriegsmacht übertrieben, damit sein Sieg über sie um so mehr Bewunderung erregen möchte. Kann man aber

nicht auch vermuthen, aus demselben Grunde habe er die Zahl der Helvetier eher zu hoch als zu niedrig angegeben? — Auf jeden Fall scheint uns unzweifelhaft, dass in der Schweiz sich dreimal so viel Menschen durch Ackerbau und Viehzucht nähren konnten, als nach Cäsars Angabe auszogen. Da sich nun im Allgemeinen die Zahl der Einwohner nach den Mitteln des Unterhaltes richtet, so wird man versucht, zu glauben, dass in der Schweiz, ausser den Helvetiern noch eine andere und zahlreichere Bevölkerung vorhanden war.

Nach diesen nothwendigen Erörterungen über Fruchtbarkeit und Raum der Schweiz im Verhältniss zu der Volkszahl der Helvetier kehren wir zu der Frage zurück: warum ist anzunehmen, dass die Helvetier nicht ursprünglich in dem Lande, sondern eingewandert sind?

Johannes Müller bemerkt *): "aus dem Entschluss aller Helvetier, mit Weib und Kind die Schweiz zu verlassen, möchte man schliessen, sie haben seit nicht langen Jahren in diesem Lande gewohnt: aber, "setzt er hinzu, "die Zahl ihrer Städte, und was Posidonius meldet, scheint wider diesen Gedanken zu sein." Was Posidonius meldet, ist nichts anderes als die Friedfertigkeit der Helvetier; wir glauben, vorhin bewiesen zu habe, dass diese Angabe falsch ist: sie kann also nicht an dem Schlusse hindern, den Johannes Müller machen möchte. Auch aus der Zahl der Städte, überhaupt aus dem Dasein von Städten in Helvetien, scheint uns nicht zu folgen, dass die Helvetier seit langen Jahren in dem Lande sich befanden. Denn, waren sie, als sie aus Gallien in die

Schweiz kamen, von dorther an feste Wohnsitze und Ortschaften gewöhnt, was war natürlicher, als dass sie hier auch in Ortschaften sich niederliessen? Grosse Städte freilich entstehen langsam, wenn nicht die für den Handel günstigsten Umstände deren Wachsthum befördern; aber von grossen Städten in der Schweiz wird uns nichts gemeldet. Die Helvetier wohnten nach Cäsars Berichte *) in zwelf Städten und in vierhundert Dörfern; denkt man sich nun die kleine Zahl des Volkes **) in so vielen Orten vertheilt, beachtet man dabei, dass alles fehlte, wodurch grosse Städte entgehen, so wird man die zwelf Städte der Helvetier für nichts anderes, als für umschanzte, etwas grössere Dörfer halten; auch bezeichnet sie Cäsar mit einem Worte, welches Landstadt bedeutet. Warum hätten nun die Helvetier, selbst nur wenige Jahre nach ihrer Einwanderung in die Schweiz, nicht solche Orte haben können? —Johannes Müller'n scheint besonders in der Zahl dieser sogenannten Städte, die er als eine grosse betrachtet, ein Beweis dafür zu liegen, dass die Helvetier schon lange in der Schweiz gewesen wären. Aber warum hätte es längerer Jahre bedurft, in zwelf umschanzten Orten sich niederzulassen, als in dreien oder vieren? Die Städte waren um so kleiner, je grösser ihre Zahl. —Nichts steht nun, glauben wir, im Wege, wenn man aus dem Entschlusse aller Helvetier, mit Weib und Kind die Schweiz zu verlassen, folgeren möchte, dass sie nicht seit langen Jahren da gewohnt hatten. Doch warum würde Johannes Müller so schliessen? Ohne

Zweifel will er sagen: ein ganges Volk, das durch langen Aufenthalt in einem Lande heimisch geworden ist, entschliesst sich nicht, aus demselben wegzuwandern. Diesen Satz wollen wir zu begründen, und die Einwendungen, die gegen ihn erhoben werden möchten, zu widerlegen suchen.

Es ist dem Menschen eingepflanzt, dass er, bei allen Jugendwünschen, ferne Länder zu schauen; und Glück in der Fremde zu suchen, doch dass Verlangen hegt, die Jahre der Reife und des Alters da hinzubringen, und das Leben da zu beschliessen, wo das Gefühl für die Natur erwacht ist. Nicht allein an den Menschen, mit denen wir durch Blut, Freundschaft und Gewohnheit verbunden sind, hängt das Herz, sondern auch an dem Boden und dem Himmel der Heimat. Die Anhänglichkeit an die Heimat ist die Regel, ihr Mangel ist die Ausnahme. Sie wirkt in den verschiedenen Menschen mit ungleichen Starke; Mancher fasst leicht den Entschluss, sich für immer von der Heimat zu trennen; Andere können nur durch die äusserste Noth dazu gebracht werden. So ist es in allen Völkern; in den ungebildeten Völkern scheint die Anhänglichkeit an die Heimat selbst noch stärker und allgemeiner zu herrschen, als in den gebildeten; auch scheint es so sein zu müssen, weil die Gefühlsweise der ungebildeten näher der einfachen Natur steht. Wohl ist weise den Völkern die Anhänglichkeit an die Heimat vom Schöpfer eingepflanzt; ewiger Kampf wäre sonst um die schöneren und fruchtbareren Länder der Erde, und solcher Kampf würde alle Keime höherer Bildung ersticken: weise ist auch einzelnen Menschen jene Anhänglichkeit versagt; sie können Samen der Bildung hin zu

ungebildeteren Völkern tragen. — Häufig ausgewandert sind einzelne Menschen, einzelne Familien, auch Schaaren, die aus einem Volke oder aus mehreren benachbarten Völkern sich zusammenfanden; aber aus der ganzen Geschichte ist nicht nachzuweisen, dass ein gesammtes Volk seine Heimat, oder ein Land, worin es heimisch geworden, verlassen habe; wenigstens nicht, dass es ohne drückende Noth aus dem heimatlichen Lande weggezogen sei. Davon gibt uns die Geschichte nicht einmal an solchen Völkern ein Beispiel, zu deren Leben das Wandern gehört, denen das bewegliche Zelt zur Wohnung dient, und die ihren Reichthum und das Mittel ihres Unterhaltes, die Heerden, mit sich führen. Man nennt die Hunnen, die Bulgaren, die Awaren, die Ungarn Völker, die aus den Steppen Hochasiens wegzogen. Wir antworten: wanderten sie freiwillig aus? waren es ganze Völker? Wir konnten auch, und wohl nicht ohne Wahrscheinlichkeit, die Vermuthung aufstellen: es waren grosse Schaaren, die sich aus verschiedenen Nomadenvölkern Hochasiens zu gemeinschaftlichen Raub- und Eroberungs-Zügen zusammengesellt hatten. Berichte fehlen; Dunkel bedeckt die Awaren wie die Bulgaren, die Ungarn wie die Hunnen vor ihrem Eintritt in Europa. Blicken wir auf Nomadenvölker, von deren Auszügen wir eine Geschichte haben. Als die Araber eine lange Reihe gesegneter Länder vom Libanon bis zum Belurtag, vom Atlas bis zu den Pyrenäen erobert hatten? in Asien allein einen Flächenraum, der halb so gross ist, wie Europa: da hätten alle Beduinen die dürren Steppenstriche ihrer Heimat, wo kein Schatten sie vor der Glut des Sonnenstrahles schützt, wo ihnen nicht selten Gefahr, vor Durst umzukommen, droht,

gegen die fruchtbaren Fluren Aegyptens, gegen die Lorbeerhaine und Prachtstädte Syriens, gegen die üppigen Weiden und Orangen-Wälder Mediens vertauschen können; aber nach wie vor haben beduinische Völker in den arabischen Wüsten gelebt; wodurch sonst da zurückgehalten, als durch die Anhänglichkeit an die Heimat? Und als die Völker der mongolischen Steppe ihre Raub-Eroberungs-Züge vom japanischen Meere bis zum mittelländischen und bis an die Gränzen Deutschlands ausgedehnt, als sie das sorgfältig angebaute China, einen beträchtlichen Theil des überreichen Indiens, die schönen Länder Jrans unterworfen hatten: da wurde die Steppe nicht menschenleer, sondern die Hauptstärke der Mongolen blieb oder kehrte, der Heimat anhänglich, zurück. —Zeigt sich bei Völkern, welche im Umherwandern und im Wechseln des Aufenthaltes ihr Leben hinbringen, solche Anhänglichkeit an die heimatliche Gegend, sollte sie bei den Völkern geringer sein, die feste Wohnsitze in ihrer Heimat gegründet, und sich mit dem Boden durch dessen Urbarmachung gleichsam näher verbunden haben? Gewiss ist das Gegentheil anzunehmen. Seit drei Jahrhunderten sind Millionen Europäer nach Amerika hinübergegangen; aber welcher Landstrich in unserem Erdtheile, oder auch nur welches Dorf, hätte durch diese Auswanderungen seine Einwohner alle oder auch nur deren Mehrzahl verloren?

Vielleicht möchte Jemand die Teutonen und Kimbern und die so genannte Völkerwanderung gegen unsere Meinung anführen. Wer waren denn die Teutonen und Kimbern? Teutonen bedeutet Deutsche. Die Teutonen, mit denen Rom am Ende des zweiten Jahrhunderts vor

Christi Geburt in Kampf gerieth, waren bekanntlich nicht das ganze deutsche Volk: machten sie nun unter den Deutschen ein besonderes Volk aus? Wenn man das aus ihrem Namen ableiten wollte, so würde man das Widersinnige sagen: Deutsche, weil sie Deutsche heissen, sind ein besonderes Volk der Deutschen. Auch ist niemals ein Land nachgewiesen worden, in welchem die Teutonen als ein besonderes Volk gewohnt hätten. Von selbst empfiehlt sich folgende Annahme; die Teutonen waren aus mehreren Völkerschaften Deutschlands; grösstentheils jüngere Männer, welche, die verheiratheten mit ihren Frauen, sich von der Heimat und den Stammesgenossen abgetrennt und unter einander verbunden hatten, um durch gemeinsame Kraft im Auslande Beute und Eroberungen zu machen, oder durch die Waffen einen Unterhalt zu erwerben, den sie in ihrer Heimat zu kärglich fanden, oder den sie sich hier nur auf eine ihnen weniger angenehme Weise verschaffen konnten. Es war natürlich, dass der Teutonen-Haufen, aus mehreren deutschen Völkern hervorgegangen, da er ins Ausland zog, sich den Galliern und Römern gegenüber Deutsche nannte, wenn er sich nicht etwa einen neuen Namen gab. Auch die Kimbern waren Deutsche. Bedeutet ihr Name, wie man ihn hat erklären wollen, Kämpfer, so sagt er, dass Krieg ihr Gewerbe war, oder ist er von dem Worte Cymar (Geselle) abzuleiten, so bezeichnet er Solche, die sich zu gemeinschaftlicher Kriegführung zusammengesellt hatten: in beiden Fällen lässt er mit Wahrscheinlichkeit vermuthen, dass der Schwarm der Kimbern auf dieselbe Weise wie das Teutonen-Heer entstanden ist. Manche Gründe machen glaublich, dass der Schwarm der Kimbern viel früher

als das Teutonen-Heer sich gesammelt, , und geraume Zeit sich jenseit der östlichen Gränze Deutschlands, in slawischem Lande umhergetrieben hat, bevor er, mit den Teutonen verbündet, an die Alpen und nach Gallien rückte. Hier genügt es zu fragen, ob Jemand darzuthun vermöge, dass die Kimbern ein Volk gewesen, welches in seiner Gesammtheit die Heimat verlassen habe.

Was nun weiter die Völkerwanderung betrifft, so hat man allerdings ehemals die Meinung gehabt, die nördlichen und nordöstlichen Völker der alten Welt seien gegen das fünfte Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung von einem Wanderungs-Schwindel ergriffen worden, der sie nach Süden und Südwesten getrieben habe. Das Unstatthafte dieser Meinung, und das Unpassliche des Namens Völkerwanderung für die Begebenheiten, die man üblicher Weise mit dem Worte bezeichnet, ist schon längst dargethan worden. Was man die Völkerwanderung nennt, ist nichts anderes, als Gründung deutscher Staaten in den Ländern des weströmischen Reiches. Alle diese Staaten wurden nicht durch ganze Völker deutschen Stammes, sondern durch Haufen aus deutschen Völkern, und zum Theil durch gar nicht zahlreiche Haufen gegründet. Als Chlodwig das weite Gallien erobert und mancher Franke sich da auf gewonnenem Grundbesitze niedergelassen hatte, verlor das eigentliche Frankenland am unteren Rheine seine Bewohner nicht. Den grössten Theil Britanniens eroberten stückweise Schaaren von wenigen Tausenden, die aus Sachsen (d. h. den Nordwesten des heutigen Deutschlands), aus Schleswig und Jütland in einem Zeitraume von anderthalb Jahrhunderten hinübergingen. —Schwerlich hat wohl Jemand

die Vorstellung gehabt, auch nur aus einzelnen Theilen des Franken-, Sachsen- und Jüten-Landes seien alle Einwohner nach Gallien und Britannien ausgewandert; aber waren nicht die Gothen, Wandalen, Burgunder und Longobarden Völker, die in ihrer Gesammtheit aus der Heimat wegzogen? — Die Gothen, von denen bei der Völkerwanderung die Rede ist, hatten im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung ihre Wohnsitze an der unteren Weichsel; in der Mitte des dritten Jahrhunderts erscheinen sie auf der Nordseite des schwarzen Meeres und der unteren Donau; gegen Ende des vierten Jahrhunderts kommen die westlichen Gothen über diesen Strom in das römische Reich; sie ziehen plündernd in Griechenland, dann in Italien umher, und lassen endlich im südlichen Gallien und in der pyrenäischen Halbinsel sich nieder; die Ostgothen finden sich um die Mitte des fünften Jahrhunderts zwischen der mittleren Donau und der Sawe, und wandern nach Italien noch vor Ausgang desselben Jahrhunderts. Aber so wenig an der Weichsel wie an der Donau lag ihre Heimat; weder an der Weichsel noch an der Donau machten sie die ganze Bevölkerung aus. Sie stammten aus dem Lande der skandinawischen Halbinsel *), das noch heutiges Tages Gothland heisst, und dessen Bewohner noch jetzt Gothen genannt werden, wie in der ersten Zeit, aus der von Skandinawien Kunde zu uns gekommen ist. (Die Bewohner Dänemarks, Schwedens und Norwegens werden zu dem deutschen Völkerstamme gerechnet, nicht als ob

sie aus Deutschland dahin eingewandert wären, sondern weil sie mit den Deutschen gleiches Gepräge im Inneren wie im Aeusseren tragen. Die dänische Sprache, die schwedische und die norwegische sind ja mit der deutschen nur Mundarten einer und derselbigen Sprache.) Aus Skandinawien zogen noch bis zum zehnten Jahrhundert Schaaren uber das Meer, nicht in unbewohnte Länder; sie machten, wohin sie kamen, nicht einen bisher unbebauten Boden urbar; sie unterwarfen die alten Einwohner, und lebten von deren Abgaben und von Beute, die sie aus noch anderen Ländern holten. Die Geschichte der Gothen ist dadurch besonders lehrreich, dass sie am ausführlichsten und bestimmtesten die Weise solcher Volkschaaren kennen lehrt, welche die Heimat verlassen haben, um in fremden Ländern von Beute und Herrschaft zu leben. Wir wollen deshalb die Gothen etwas genauer betrachten. Aus Schweden sind sie an die preussische Küste herübergekommen, ohne Zweifel nicht auf einmal, sondern allmälig, wie Sachsen, Angeln und Jüten nach Britannien gingen; sie haben an der Weichsel auf beiden Seiten des Stromes die alten slawischen Einwohner unterworfen, ohne Zweifel in um so weiterer Ausdehnung, je mehr ihre Zahl aus der Heimat her zunahm. Was sie bewog, das Weichsel-Land zu verlassen, wird nicht berichtet; aber wir sehen, wir sie aus ihren nachmaligen Sitzen, mögen sie auch ein Jahrhundert in ihnen verweilen, immer in ein reicheres Land hinüberstreben, wenn sie ein solches in ihrer Nachbarschaft kennen gelernt haben. Dies dauert fort, bis die Westgothen zu Einer Südspitze Europas, die Ostgothen zu einer anderen gelangt sind. Im Gegensatze zu heimatlichen Völkern,

die nicht in ihrer Gesammtheit auswandern, zeigen die Gothen/ wie Volksschaaren, die sich von der Heimat getrennt haben und von anderen Völkern sich ernähren lassen, nicht eher wieder heimisch werden, als bis sie kein reicheres Land mehr erspähen, wenn nicht etwa ihr Weiterfluthen ein Damm hemmt, den sie nicht zu durchbrechen vermögen.

Zugleich mit den Gothen treten die Wandalen und die Burgunder in die Geschichte; beide werden, wie jene, in slawischem Lande gefunden, die Wandalen in der Lausiz, die Burgunder hinter der Oder; beide zeigen sich eben so geneigt, wie die Gothen, Ein erobertes Land und Ein unterworfenes Volk gegen andere zu vertauschen. Ob sie auch aus Skandinawien, oder ob sie aus deutschem Lande über die Slawen jener Gegenden gekommen waren, liegt im Dunkel. Wer aber möchte behaupten, sie hätten als ganze Völker die Heimat verlassen? wer möchte nicht vielmehr annehmen, dass sie, wie die vorhin aufgezählten Schaaren aus einem oder einigen Völkern deutschen Stammes durch Zusammengesellung eroberungslustiger Jünglinge und Männer hervorgegangen waren? — Aber die Longobarden finden sich zuerst auf der linken Seite der mittleren Elbe, in der Gegend, wo jetzt Magdeburg liegt, also nicht über einer slawischen Grund-Bevölkerung, sondern in ursprünglich deutschem Lande; doch wandern sie aus; hat da nicht ein ganzes Volk seine heimatlichen Sitze verlassen? Wir können hierauf erwidern: womit ist dargethan, dass die Langobarden, die im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung an der mittleren Donau auftreten, das ganze Volk ausmachten, welches in der Zeit um Christi Geburt an

der mittleren Elbe wohnt, und dass sie nicht vielmehr bloss ein Schwarm aus diesem Volke waren? Wir können, wenn wir das letztere behaupten, auch auf die kleine Zahl uns berufen, in der die Longobarden an der Donau erscheinen. Dass sich in der späteren Zeit für die Bewohner jener Gegend an der Elbe der Name Longobarden nicht mehr findet, ist kein Beweis für die Auswanderung des ganzen Volkes, da im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus eine Menge deutscher Volksnamen verschwunden sind, die Völker aber, die sich mit ihnen benannten, in den alten Gegenden fortgedauert haben; das zurückgebliebene Longobarden-Volk konnte in einem anderen Namen einbegriffen sein, während die ausgezogene Schaar den alten Namen beibehielt. Doch möchten wir die Auswanderung der Longobarden lieber auf eine andere Weise erklären.

Sie werden nämlich zu den swewischen Völkern gerechnet, und von diesen berichtet Cäsar *) "Mit Ackerbau beschäftigen sie sich nicht, sondern nur mit Waffenübung, mit Krieg und mit Jagd; von Kindheit an härten sie sich ab; Niemand hat festes Grundeigenthum, sondern die Volkshäupter theilen die Aecker auf jedes einzelne Jahr, wie viel und wo ihnen gut dünkt, den Familien zu, und diese müssen nach einem Jahre ihre Wohnung wieder an einem anderm Orte nehmen. Für diese Einrichtung führen sie mehrere Gründe an." Die erste Stelle unter den Gründen gibt Cäsar folgendem: "damit sie nicht, durch Gewöhnung an ein festes Eigenthum gefesselt, den Eifer Krieg zu führen gegen den Ackerbau vertauschen."

Diese merkwürdige, auffallende Nachricht über die Swewen wollen wir zu entwickeln suchen.

Hätte man in ihren Ländern bloss von Jagd und Viehzucht gelebt, so wäre an keine Vertheilung der Fluren gedacht worden: auch Ackerbau wurde getrieben, das hat man auch angenommen, und die Swewen, weil der Grundbesitz jährlich gewechselt wurde, für "ackerbauende Nomaden" gehalten *). Aber man hat dabei übersehen, dass sie sich, wie Cäsar ausdrücklich sagt, nicht mit dem Landbau beschäftigten. Da nun doch in ihren Gebieten Ackerbau getrieben wurde, so geschah es von Leuten, die nicht zu den Swewen gehörten; und diese Leute mussten ihnen unterworfen sein, weil die Swewen sich als Grundherren betrachteten: also waren diejenigen, die den Ackerbau besorgten, entweder Landes-Fremde und in die swewischen Gebiete als Sklaven gebracht, oder ältere Einwohner und von den eingesprungenen Swewen unterjocht. Zu der Annahme, das eigentliche Volk eines Landes lasse Ackerbau, mit dem es sich selbst nicht befasst, durch herzugeholte Sklaven treiben, findet sich in der ganzen Geschichte kein bestätigendes Beispiel; (selbst die europäischen Pflanzer in Westindien, wenn sie auch nicht selbst Hand anlegen, sind doch, wie schon ihr Name sagt, Ackerbauer). Wie oft dagegen hat eine siegreich eingebrochene Schaar sich zwischen einem ackerbauenden Volke niedergelassen, dessen Ländereien ganz oder zum Theil sich angeeignet, sie unter sich vertheilt,

und ihm die ganze Bearbeitung des Bodens überlassen. Wir erinnern hier nur an das Verfahren fast aller deutschen Kriegsschaaren, die in der so genannten Völkerwanderung die Länder des weströmischen Reiches eroberten, und an das Verfahren derjenigen Dorer, die in der so genannten dorischen Wanderung sich zwei Drittheile des Peloponneses und die Insel Kreta unterwarfen. Also schon dies, dass in den swewischen Staaten die Ackerbauer unterthan waren, und die Grundbesitzer sich um die Geschäfte des Landbaus nicht kümmerten, zeigt, wie uns scheint, die Swewen als erobernd Eingedrungene und die ihnen Unterworfenen als eine frühere Bevölkerung.

Weil die Swewen von den Beschäftigungen, durch welche gewöhnlich der Unterhalt gewonnen wird, nichts selbst trieben als Jagd, und weil diese nur Wenige auf weitem Raume nährt, so ist anzunehmen, dass die Eingedrungenen den grösseren Theil ihrer Lebensmittel aus den Abgaben und der Arbeit der alten unterworfenen Bevölkerung zogen: folglich musste diese, sollte sie nicht erdrückt werden, um das mehrfache zahlreicher sein, als die herrschende Schaar; wie die leibeigenen Bauern in Lakonien, die Heloten (mit Weib und Kind) auf 200,000 geschätzt werden, die steuerpflichtigen Periöken des Landes gleichfalls auf 200,000 Köpfe, die Dorer in Sparta dagegen höchstens auf 50,000 anzuschlagen sind. Dass die Swewen sich bloss mit Waffenübungen, mit Jagd und Krieg beschäftigen, und dass in ihren Staatseinrichtungen die Absicht mitwaltet, jede Verweichlichung zu verhüten *), erinnert an die Dorer in

Sparta, bei denen die Körperübungen und Abhärtungen darum zu einem vollendeten, das Leben von der Geburt bis ans Grab umfassenden Ganzen gestaltet wurden, weil diese Schaar im höchsten Maasse kriegerisch sein musste, wenn sie ihr Dasein mitten unter einem Volke sicheren wollte, das hinabgedrückt und kräftig, ihr feind und an Zahl weit überlegen war. Hat vielleicht auch bei den Swewen, neben der ursprünglichen Eigenthümlichkeit der Deutschen, der Aufenthalt zwischen einer zahlreicheren und unverweichlichten Bevölkerung eroberter Lander, und der Wille, die Herrschaft zu behaupten, oder noch grössere zu erwerben, dahin mitgewirkt, dass sie Waffenübung und Abhärtung zu ihren Geschälten machten?

Bei den Swewen zeigt sich die Macht der Häupter viel grösser als bei den anderen Deutschen; während bei diesen hohe Unabhängigkeit für das Eigenthum wie für die Person gilt, haben bei jenen die Häupter das Recht, die Familien aus reicheren Beamtungen in weniger einträgliche zu versetzen. Dieses Recht ist unbegreiflich, wenn man den Grundbesitz der untergeordneten Swewen als Eigenthum ansieht; und eben dieses Recht erklärt sich leicht, wenn wir den Grundbesitz derselben als Leben betrachten. Weiter ist das durchgängige Lehnwesen wenigstens sehr befremdend, wenn man die Swewen für heimisch in ihren Gebieten hält; und eben dieses Lehnwesen kann nicht auffallen, wenn wir annehmen, dass sie als Eroberer zu einer früheren Bevölkerung hinzugekommen sind. Die Eroberung war auf Rechnung der Anführer gemacht: diese hatten das Eigenthumsrecht über die erkämpften Ländereien; ihren Kriegsgefolgen wiesen

sie für den Unterhalt, den sie ihnen zu verabreichen schuldig waren, den Ertrag von Grundstücken an. Gerade so finden wir es später bei den Franken, als sie in Gallien und in Deutschland Eroberungen machten; doch bei ihnen nichts wie bei den Swewen, den jährlichen Wechsel des Besitzes. Gleichwohl scheint uns dieser nur aus der Kriegsverfassung eines Lehnstaates gehörig erklärt werden zu können. Wir legen Cäsar's Worte zu Grunde: "die Swewen sollen nicht, durch Gewöhnung an ein bleibendes Eigenthum gefesselt, den Eifer Krieg zu führen gegen den Ackerbau vertauschen." Unter dem Eifer Krieg zu führen kann man hier nicht ein kriegerisches Wesen verstehen, das sich, wie bei den alten Römern, recht gut mit dem Landbau verträgt; es muss vielmehr die stete Bereitwilligkeit gemeint sein, den Häuptern zu folgen, wenn diese zu einem Feldzuge rufen; eine Bereitwilligkeit, die nicht durch irgend eine Erwerbs-Thätigkeit beschränkt, sondern durch die Geschäftslosigkeit des Friedens und durch die hieraus entspringende lange Weile rege erhalten wird. Die untergeordneten Swewen sollten nicht Ackerbauer werden, sondern Kriegsmannen bleiben. Sind die Lehen zu dauerndem Besitze gegeben, so sorgt dee Inhaber für ihren guten Stand; er fängt wohl an, sich mit den angenehmeren Geschäften des Landbaues selbst zu befassen, und gewinnt Anhänglichkeit an den Boden; in Folge davon ist er weniger bereitwillig, sich zum Kriegsdienste zu stellen, so oft die Häupter es verlangen mögen, oder auch die Gegend, in der er heimisch wird, für immer zu verlassen, wenn sie das beherrschte Land aufzugeben und ein anderes zu gewinnen beabsichtigen Durch den jährlichen Wechsel

der Leben behielten die Swewen die Beweglichkeit eines stehenden Heeres. Auch hatten dabei die Häupter freiere Hand, Nachlässigkeit und Ungehorsam zu bestrafen für eifrigen Dienst und tüchtige Leistung reichlichere Vergeltung zu gewähren. Ist dagegen der Besitz eingewurzelt, so kann den säumigen Vasallen der Dienstlohn nicht leicht entzogen werden, weil sie ihn schon in Händen haben, und der Lehnsherr, sie aus dem Besitze zu treiben, nicht solche Hülfe findet, wie sie, sich zu behaupten, von ihren Genossen Beistand erlangen. Dadurch, dass bei den Franken die Lehen zu fast vollem Eigenthume wurden, versank ihr König und ihr Reich in Gebundenheit und Ohnmacht. — Aus der Kriegsverfassung möchten wir auch das Königthum erklären, das nicht bei den anderen Deutschen, sondern nur bei Swewen, z. B. bei den Markmannen in Marbod, erscheint. Die Kriegführung erfordert Ein Haupt: schon bei dem Kriege, durch den eine Swewen-Schaar ihre erste Eroberung machte, konnte eine aur Einer Person beruhende Einheit der Obermacht bleibend gegründet worden sein; war das nicht geschehen, so konnte in drohender Gefahr leicht derjenige unter den mehreren Häuptern eine Obermacht erlangen, der ausgezeichnete Kriegstüchtigkeit und ein zahlreiches Gefolge besass. Auch bei den Franken tritt das Königthum zuerst hervor, als ein Theil des Volkes in erobertem Lande Wohnsitze nimt, und eine gute Zeit hindurch bezieht es sich nicht sowohl auf die in der Heimat zurückgebliebenen Franken, als auf die ausgezogenen, bis durch die Grösse der Eroberungen jene von der Kriegsverfassung mit umwickelt werden.

Wie eine Kriegsschaar, wenn sie ein erobertes Land aufgab, um ein anderem zu gewinnen, die alte Bevölkerung

des ersteren nicht mitschleppte, sondern zurückliess; wie ferner in der späteren Lehnzeit die Hörigen auf dem Lehen verblieben, wenn dessen Inhaber wechselte; so nahmen auch, wie wir glauben, in jener früheren Lehnzeit die Swewen bei der jährlich neuen Vertheilung nicht die Unterthanen von einem Grundstück auf das andere mit hinüber, sondern diese behielten ihren Sitz auf der Scholle, die sie bebauten. Auch glauben wir, dass, wenn die Gränzen der swewischen Staaten bald erweitert, bald verengt sind, die unterworfene Grundbevölkerung eben so wenig mit der herrschenden Schaar sich ausdehnte und zurückzog, wie bei den Gränzveränderungen unserer Zeit in den Landstrichen, die von einem Staate an den anderen kommen, die Masse der Einwohner wechselt. Werin der Betrieb des Ackerbaues in den swewischen Ländern nicht abzuleugnen ist, so kann nur aus unserer Ansicht die grosse Beweglichkeit der swewischen Gebiete erklärt werden.

Swewen bewegten sich jenseit der Ostgränze des damaligen Deutschlands über slawischen Völkern; gegen Südwesten waren sie in Gallien eingedrungen; und im Süden Deutschlands hatten sie andere Deutsche unterworfen. Es bietet sich die Vermuthung dar, dass die swewischen Kriegsschaaren nach und nach aus den nicht swewischen Ländern des deutschen Völkerstammes ausgegangen waren, also aus Skandinavien, und aus einem grossen Theile der Gegenden, die seit dem dritten Jahrhundert Sachsen- und Frankenland heissen. Die Geschichte zeigt eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch die Bewohner dieser Länder von der Natur mit aufgezeichnet hoher Kriegstüchtigkeit gerüstet: hatten sie darin auch vor ihren süddeutschen

Brüdern Ueberlegenheit erhalten, gleichwie die Hellenen vor den anderen Völkern des pelasgischen Stammes? —

Dass auch Gallier aus ihrer Heimat wegzogen, im Auslande durch die Waffen Land und Unterthanen zu gewinnen, zeigt Italien, von dessen Norden sie seit dem sechsten Jahrhundert vor Christus einen grossen Theil eroberten; und dass die nach Italien wandernden Gallier nicht Völker waren, welche in ihrer Gesammtheit die Heimat verliessen, sondern aus daheim bleibenden Völkern sich abgesondert hatten, kann mit grosser Bestimmtheit dargethan werden; denn, als die Römer nach Gallien kamen, fänden sie da noch Völker unter denselbigen Namen, mit denen die nach Italien gezogenen Schaaren sich nannten.

Wir hatten die Behauptung aufgestellt, es lasse sich aus der ganzen Geschichte nicht nachweisen, dass je ein Volk in seiner Gesammtheit aus der Heimat oder aus einem Lande, in welchem es heimisch geworden, ausgewandert sei, wenigstens nicht, dass es freiwillig ausgewandert sei. Nach Beseitigung der Einwürfe, die dagegen erhoben werden mochten, halten wir uns nun zu dem Schlusse berechtigt: da die Helvetier allesammt und freiwillig auswanderten, so waren sie nicht ursprünglich in der Schweiz, sondern eingewandert, und hatten sich auch nicht lange genug in dem Lande aufgehalten, um darin heimisch zu werden. Ist nun zu glauben, die Schweiz habe, während die Nachbarländer zahlreich bevölkert waren, ohne Einwohner da gelegen? Ferner, wo fände sich ein Beispiel, dass ein Volk, nachdem es ein Land urbar gemacht hat, nicht in ihm einheimisch geworden wäre? zumal, wenn es ausserdem einige Menschenalter da gelebt hat. Wir folgern daher: hätten die

Helvetier den Boden der Schweiz urbar gemacht, so würden sie, die mehrere Menschenalter in ihr verweilt waren, in ihr auch einheimisch geworden sein; sie waren es nicht geworden: folglich hatten sie den Boden der Schweiz nicht urbar gemacht. Da sie nun urbar gemachten Boden in der Schweiz befassen, so müssen sie bei ihrer Einwanderung ein Volk vorgefunden haben. Wir sind denn abermals auf eine andere Bevölkerung der Schweiz neben den Helvetiern hingeführt; dass es eine solche gab, und zwar eine zahlreichere, als diese waren, mussten wir schon nach der Untersuchung über Fruchtbarkeit und Raum des Landes, wegen der kleinen Zahl des helvetischen Volkes, für wahrscheinlich halten. Da es nun in der Geschichte so häufig vorkommt, dass eine Schaar, die Heimat verlassend, in ein anderes Land, über ein anderes Volk hereinbricht, in dem eroberten Lande, zwischen dem unterworfenen Volke sich niederlässt, und, sogar nach geraumer Zeit, wieder aufbricht, um einen neuen, grösseren Besitz 'zu erkämpfen: so hegen wir die Ueberzeugung: die Helvetier waren eine Schaar, die aus der gallischen Heimat auf Eroberung ausgezogen, in der Schweiz eine frühere Bevölkerung unterthan machte.

Auch erwähnt Cäsar Unterthanen oder Hörige in Helvetien, und aus seiner Erzählung ist zu erkennen, dass ihre Zahl beträchtlich gross war *). Einer der vornehmen Helvetier, Orgetorix, derselbe, der zu der Auswanderung nach Gallien rieth, besass 10,000 Hörige, und

diese 10,000 waren kampffähige Männer. Johannes Müller sagt: "er hatte sie aus der kimbrischen Streiferei ererbt oder in Kriegen selbst erworben." Was die kimbrische Streiferei anbetrifft, so wollen wir davon absehen, dass Strabo *) berichtet, die Helvetier, die sich angeschlossen hatten, seien mit den Teutonen und Kimbern von dem römischen Heere unter Marius aufgerieben worden, aus welcher Niederlage nur Wenige durch Flucht entkamen; mögen die Helvetier glücklich heimgekehrt sein; aber welche gefährliche und beschwerliche Menge von Gefangenen wäre auf einmal in die Schweiz gebracht worden, wenn einem Jeden der helvetischen Edelleute, die mitgezogen waren, eine solche Anzahl zufiel, dass Orgetorix von Einem oder Zweien, höchstens wohl Dreien, unter denen, wie wir wissen, Keiner die Oberanführung gehabt hatte, 10,000 oder auch nur 5000 erben konnte! Ausserdem war seit jenem Zuge ein halbes Jahrhundert verstossen, also gewiss die Mehrzahl der damals Gefangenen todt; gleichwohl hatte Orgetorix noch die 10,000: es mussten wohl andere sein, als aus der Kimbrischen Streiferei Ererbte. Auch ist nicht glaublich, dass "er sie in Kriegen selbst erworben" habe; er hätte sie und Deutschland oder Gallien holen müssen; aber die Streifzüge dahin wollten ja, wenigstens seit einiger Zeit, nicht recht gelingen; und nochmals würden wir bei der grossen Summe aller Kriegsgefangenen in der Schweiz anstossen, wir müssten sonst glauben, Orgetorix sei unter den Helvetiern allein der glückliche gewesen, der Schaaren von Feinden als Gefangene einbrachte. Die grosse Menge der Hörigen, die Orgetorix besass, wird ohne allen Zweifel

am wahrscheinlichsten aus einer Eroberung der Schweiz durch die Helvetier erklärt, wobei sie den Boden und dessen alte Bebauer unter einander theilten. Fielen auch damals selbst keinem der Hauptanführer 10,000 Männer als Unterthanen zu, so konnte nach mehreren Menschenaltern durch Heirathen und Erbschaften eine solche Zahl in den Besitz eines Einzigen zusammenkommen.

Wohl nur die offeneren Gegenden der Schweiz wurden von den Helvetiern erobert, und im Hochgebirge behielten die alten Einwohner ihre Unabhängigkeit. Auch in jenen lagen wahrscheinlich die Wohnungen der früheren Bevölkerung nach uralter Weise auf Aeckern und Wiesen zerstreut; die Helvetier dagegen siedelten sich in Ortschaften an. — Waren diese eine Schaar, welche die Heimat verlassen hatte, um durch Krieg sich Besitz zu verschaffen, und waren sie in dem eroberten Lande mit Hervorbringung . von Lebensmitteln weniger beschäftigt, weil sie zum Theil von den Abgaben eines unterworfenen Volkes lebten, so findet sich darin auch die vollständigste Erklärung der heftigen Kampfbegierde, die nach Cäsars Zeugniss bei ihnen herrschte.

Wir glauben jetzt, wenigstens bis zu grosser Wahrscheinlichkeit dargethan zu haben, dass die Schweiz schon vor der Einwanderung der Helvetier bevölkert war, und das diese Bevölkerung auch unter den Helvetiern in dem Lande geblieben ist. Wir hegen die Meinung, das ältere Volk habe in der Schweiz auch da fortgedauert, als die Helvetier untergingen: dies aber darzulegen, und die Frage zu beantworten, zu welchem Völkerstamme es gehöre, müssen wir auf eine andere Gelegenheit verschieben.

Nachwort.

Niebuhr äussert in der zweiten Ausgabe seiner römischen Geschichte (Th. II, S. 589) die Meinung: "der etruskische Stamm, welcher sich, umgeben von den Galliern, in den Alpen behauptete, sei einst auf ihrem nördlichen Abhange und nach Deutschland hin ausgebreitet gewesen; denn die Mauern auf dem Ottilienberge im Elsass hätten aufbauende Aehnlichkeit mit den etruskischen: auch deutsche Nationen müssten bis in die schweizerischen Alpen gewohnt haben; denn nur dadurch habe Wallis zu Livius Zeit von halbdeutschen Völkerschaften bewohnt sein können; "als die Celten sich ausbreiteten, waren die einwandernden Helvetier Meister der Schweiz und wahrscheinlich, nebst andern Völkern des Stamms, von ganz Schwaben geworden."" Mehr sagt Niebuhr weder über die Schweiz noch über die Helvetier; doch ist es genug, um zu sehen, dass auch er diese nicht für die ältesten Bewohner des Landes hält. Seine Worte, "die Helvetier waren Meister der Schweiz geworden", zeigen zwar nicht deutlich, lassen jedoch vermuthen; dass er annimt, die Helvetier hätten die frühere Bevölkerung unterworfen. Es ist mir erfreulich, mit einem so gelehrten und scharfsinnigen Forscher zu gleicher Ansicht über den Gegenstand gekommen zu sein. Entlehnt habe ich sie von ihm nicht; der Weg, auf welchem ich zu ihr gelangt bin, ist in den vorstehenden Blättern gezeichnet; man wird ihn als eigenthümlich erkennen. Auch unternimt diese Untersuchung, nicht bloss Ergebnisse über die Schweiz und über die Helvetier, sondern allgemeinere, über so genannte Wanderungen der Völker, aufzufinden; und gibt eine noch nicht versuchte Erklärung über einen bedeutungsvollen Punkt in der ältesten Geschichte der Deutschen. Daher entschliesse ich mich, den Aufsatz im Druck Gelehrten vom Fache zur Prüfung vorzulegen.

Basel, 31. Det. 1836. .