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Die Freiheit der Berufswahl.

Rektoratsrede

gehalten am 4. Dezember 1897
von
Philipp Lotmar,
Professor in Bern.
Verlag von Duncker & Humblot. 1898.

Alle Rechte vorbehalten.

Hochgeehrte Versammlung!

An dem Tage, der als Stiftungstag unserer Universität gefeiert wird, mag es nicht unangemessen erscheinen, einer Seite der Hochschulen zu gedenken, die sie von den meisten anderen öffentlichen Lehranstalten unterscheidet.

Von den Mittelschulen und den Schulen der ersten Stufe heben sich unsere Universitäten ab nicht bloss durch die Gegenstände und die Methoden des Unterrichts — welche Unterschiede sich auf den ersten Blick darbieten. Eine nicht minder wichtige Differenz liegt darin, dass die Schüler der Universitäten die Berufswahl im grossen Ganzen bereits vollzogen haben und sich auf die Ausübung des gewählten Berufes vorbereiten, wogegen die Schüler der Mittel- wie der Primarschulen nicht zur Ausübung eines gewählten, sondern erst zur Wahl eines Berufes in den Stand gesetzt werden. Während daher die Schülerschaften jener Mittel- und Primarschulen zuoberst nach dem Lebensalter gegliedert sind, weist die Studentenschaft der Universitäten in erster Linie eine mehr oder weniger scharf begrenzte Gruppierung nach Berufen auf.

Mit dem Eintritt in eine Universität vollzieht sich mehr oder minder deutlich eine Berufswahl. Angesichts dieser Eigentümlichkeit bleiben wir in unserm Bereich und auf gemeinsamem Boden, wenn wir hier, soweit es in einer Stunde angeht, die Frage erörtern, wovon die Berufswahl abhängt, in welchem Sinne von Freiheit der Berufswahl zu sprechen, und in welchem Umfang solche Freiheit vorhanden ist. Diese Erörterung kann nebenbei zum Nachdenken über den Platz anregen, den unsere Berufsthätigkeit im Ganzen der Volksarbeit einnimmt.

Von Berufswahl — denn über ihren Begriff haben wir uns vorab zu verständigen — kann nur da die Rede sein, wo Berufe vorhanden sind, wo nämlich die Gesellschaft so gestaltet ist, dass die Arbeiten, deren es zur Erhaltung oder zur Förderung der Einzelnen, der Gruppen und des Ganzen bedarf, unter die Glieder der Gesellschaft verteilt sind. Denkt man diese mannigfaltigen Hand- und Kopfarbeiten als die eine Arbeit der Gesellschaft oder als Volksarbeit, so ist die Entstehung von Berufen eine Teilung dieser Arbeit 1. Ein solcher Zustand rührt ursprünglich nicht von vorbedachtem Eingriff her, gleich der Rollenverteilung für die Aufführung eines Dramas. Vielmehr knüpft die urwüchsige Differenzierung, die in der Ausbildung von Berufen besteht, an die von der Natur gegebenen Verschiedenheiten des Alters, des Geschlechts und der Unterhaltsbedingungen an. In weiterer Entwicklung mag die Formierung so ausgezeichneter Berufe, wie die des Sängers, des Priesters, des Medizinmannes und des Schmiedes die bewusste Anpassung an praktische Forderungen gewesen sein.

Auch braucht, nach Ausweis der Geschichte, die Arbeitsteilung in der Gesellschaft keine bleibende zu sein, indem sowohl getrennte Gebiete wieder vereinigt 2, als auch einheitliche Gebiete specialisiert, d. h. in mehrere Berufe zerlegt werden. Wesentlich ist vielmehr für den Berufsbegriff bloss, dass die zur Fristung und Schmückung des Lebens nötige Thätigkeit nicht ganz von jedem entfaltet zu werden braucht oder vermag, dass der Einzelne in der Lage sei, die Arbeitskraft vornehmlich in einer Richtung zu gebrauchen, weil seine hiermit noch nicht befriedigten Bedürfnisse durch die Berufsarbeiten Anderer gedeckt werden 8. Ja bei den Waren produzierenden Kulturvölkern ist diese Berufstellung dermassen durchgeführt, dass Tausende durch ihre Berufsarbeit gar kein eigenes Bedürfnis befriedigen — man denke z. B. an Diamantschleifer und Glacéhandschuhmacher — und daher für alle ihre Bedürfnisse auf fremde Arbeit angewiesen sind.

Der Beruf ist hienach das Feld, auf dem Einer seine Arbeitskraft hauptsächlich entfaltet. Er ist so zu sagen der Wohnsitz der Arbeitskraft, das Gebiet, auf dem sie zu Hause ist. Berufsausübung ist dann die Thätigkeit eines Menschen, im Verhältnis zu der jede andere Thätigkeit desselben Nebenbeschäftigung, Betrieb von Allotria, Dilettantismus oder Erholung, vielleicht Passion, nicht aber Profession ist 4.

Der Beruf als Hauptarbeitsfeld unterscheidet sich nicht nur von dem Stand 5, dem Rang, der Klasse und von dem inneren Beruf oder Drang zu einem Unternehmen, wie ihn z. B. Sokrates als göttliche Schickung

sich beimass, oder die Jungfrau von Orleans empfand, als sie noch dem äusseren Beruf der Hirtin oblag 6. Er unterscheidet sich auch von dem Beruf, den man meint, wenn man von einem geschichtlichen oder natürlichen Beruf spricht als von Aufgaben, die einzelnen Gruppen oder Staaten gestellt seien 7. Was nämlich die Anderen von Jemandem erwarten, wünschen oder fürchten, dass er es ausführen werde — kraft seiner Natur, seiner Herkunft, seiner Erziehung, seiner Machtmittel — das nennen sie seine natürliche oder seine geschichtliche Aufgabe, seine Bestimmung oder Sendung, das, wozu er berufen sei, seinen Beruf in diesem Sinne 8. Aber das, wozu Einer, wie sie sagen, berufen ist, das bildet nicht immer seinen Beruf in unserem Sinne, und Mancher hat einen solchen Beruf, zu dem er keineswegs berufen ist.

Namentlich in Bezug auf die Frauen kann man oft von einem "natürlichen" Beruf derselben sprechen hören, wobei an ihre Funktionen als Hausfrauen, Gattinnen und Mütter gedacht wird. Gewiss wird niemand verneinen, dass diese Leistungen einen wichtigen echten Lebensberuf vieler Frauen ausmachen. Es lässt sich aber nicht — darauf hat schon Plato hingearbeitet — es lässt sich aus solcher Häufigkeit, oder daraus, dass dieser Beruf nicht in gleicher Weise von den Männern ausgeübt werden kann, keineswegs schliessen, das jeder andere Beruf der Natur einer Frau nicht gemäss oder gar widersprechend sei. Auch ist dieser "natürliche" Beruf der Frauen von anderen sehr folgenreich dadurch verschieden, dass er nach europäischer Sitte in der Regel die Verehelichung voraussetzt, so dass das Weib seinen "natürlichen"

Beruf nur wählen und ausüben kann, wenn es selbst zuvor zur Ehefrau erwählt worden ist; und diese vom Manne bethätigte Wahl hervorzurufen und zu befördern, ist ihr nach herrschender Moral nur mit wenigen Mitteln erlaubt 9.

Um zum reinen Berufsbegriff zu gelangen, müssen wir ihn schliesslich noch von Erwerbszweig oder Einkommensquelle abgrenzen. Gewiss fallen beide oft zusammen. Dass weithin der Beruf thatsächlich die Aufgabe hat und erfüllt, seinen Mann und durch diesen Andere zu nähren oder gar zu bereichern, ist ein Umstand, der für die Berufswahl ins Gewicht fällt und für die Berufsstatistik massgebend ist 10. Allein einerseits giebt es Berufe, die weder Einkünfte gewähren noch zu gewähren bestimmt sind, wie z. B. die haushälterische und erzieherische Thätigkeit, die von der Ehefrau selber berufsmässig geübt wird 11. Und andererseits giebt es ständige Einkommensquellen, die keineswegs einen Beruf ausmachen, wie z. B. das Zimmervermieten oder der Rentenbezug. Es gehört danach nicht zum Wesen des Berufs, dass er Erwerbszweig sei. Wohl mag diese Verbindung in vielen Fällen vorteilhaft sein, indem sie den Berufseifer spornt, allein im ganzen ist zu vermuten, dass die menschliche wie die menschheitliche Entwicklung besser geraten würde, wenn allenthalben der Beruf nicht um des Erwerbes willen gewählt und ausgeübt würde. Denn "jede Arbeit erzielt den ihr eigentümlichen Erfolg dann am sichersten und reinsten, wenn der Blick des Arbeiters unbeirrt durch andere Ziele lediglich jenem sich zuwendet" 12. Man spricht missbilligend von . brotloser

Kunst, und doch gilt es nicht für wünschenswert, dass die Kunst nach Brot gehe. —

Mit dem Begriff des Berufs ist der der Berufsverschiedenheit, die Mehrheit von Berufen und die Möglichkeit einer Berufswahl gegeben. Diese Berufswahl geht mitunter der Ausübung des Berufes lange vorher. Die Ausübung vieler Berufe setzt die Erlangung gewisser Fertigkeiten voraus. Schon mit der Vornahme der dazu führenden Schritte wird mehr oder minder bestimmt eine Berufswahl getroffen, indem diese Schritte den Lehrling oder Schüler einem gewissen Berufe zuwenden oder auch nur von gewissen Berufen ablenken und entfernen. Man muss daher bei der Freiheit der Berufswahl auch die der Berufsausübung vorangehenden, auf sie abzielenden Schritte als zur Berufswahl gehörige in Anschlag bringen.

Da das Interesse an der Freiheit der Berufswahl aufs innigste mit der Bedeutung der Berufswahl zusammenhängt, so haben wir uns nunmehr diese selbst zu vergegenwärtigen. Zunächst ist es für den Einzelnen aus mehreren Gründen von Wichtigkeit, ob er diesen oder jenen Beruf ergreift. In den bürgerliche Gesellschaften sind die Berufsarten schon an sich, d. h. auch abgesehen vom Umfang der persönlichen Anlagen in verschiedenem Grade einträglich und sie gewähren damit in verschiedenem Masse die Möglichkeit des Lebensgenusses Da die ökonomische Ergiebigkeit eines Berufes in dem besteht, was seine Ausübung abwirft, so ist sie auch davon abhängig, das für seine Ausübung Raum d. h. die entsprechende Nachfrage vorhanden sei. Die

Wahrscheinlichkeit, dass aus Mangel hieran eine unfreiwillige Unterbrechung der Ausübung statt finden werde, ist bei einem Beruf grösser, als bei dem anderen. Der Arbeiter der Spinnerei oder des Hochofens ist auch darum wirtschaftlich schlechter gestellt, als z. B. der besoldete Staatsbeamte, weil er durch den Untergang der Fabrik oder eine Schwankung des Marktes die Gelegenheit zur Berufsausübung einbüssen kann.

Die Einträglichkeit eines Berufes ist ferner abhängig von der Dauer der zur Berufsthätigkeit erforderlichen Kräfte. Manche Berufe können bis ins hohe Alter ihres Inhabers ausgeübt werden. Hingegen die Masse der Handarbeiter "erreicht bereits mit der Mitte der zwanziger Jahre das für sie mögliche Lohnmaximum; je älter der Arbeiter wird, je geringer seine Leistungsfähigkeit, desto geringer sein Verdienst, desto unsicherer seine Existenz" 18.

Dass Jemand diesen statt jenes Berufes ergreift, d. h. welche Berufswahl er trifft, ist ferner entscheidend für Ehren, Ansehen, Gesellschaftsstellung, die ihm zu teil werden, und dadurch in gewissem Grad auch für sein Glück. Es ist genugsam bekannt — bedarf also keiner Ausführung 14 — dass in weitem Umfang, wiewohl nach Land und Zeitalter wechselnd, gewisse Berufsarten einer grösseren socialen Schätzung geniessen als andere, und demjenigen, der sie ergriffen hat, ohne weiteres ein grösseres Ansehen, mehr Ehre verleihen, auch wenn er an eigener Leistungfähigkeit oder Ehrbarkeit den Inhabern geringer geachteter Berufsarten nicht überlegen ist oder nachsteht. Der Beruf kann also zu den Kleidern gehören, die Leute machen, und wenn

sonst der Mensch den Posten bekleidet, so sieht man auch nicht selten, dass der Posten den Menschen bekleidet.

Noch einschneidender als nach Einträglichkeit und Ansehnlichkeit ist die Unterscheidung der Berufe nach der Art der Arbeit selbst, mit der sie ausgeübt werden. Es bedarf keiner langen Überlegung, um zu würdigen was es bedeutet, ob diese oder jene Seite der Arbeitskraft, und in welchem Masse und unter welchen äusseren Umständen sie vom Beruf in Anspruch genommen wird. Man kann sich leicht vorstellen, wieviel es ausmacht, wann, wo und wie ein Beruf auszuüben ist, ob mit grosser oder kleiner Anspannung, bei Tag oder bei Nacht, in langen oder kurzen Schichten, im Freien, im Wald oder Feld, auf dem Meere oder unter der Erde, in wohlgelüfteten und erwärmten Räumen, in erleuchteten Büreaus, Theatern, Schul- und Studierstuben, oder auf schwanken Gerüsten und steilen Dächern, in düstern Werkstätten, dumpfen Höhlen und Schachten, vor glühenden Essen und nie rastenden, betäubenden Maschinen, die die Abfälle des Stoffes, die Splitter, Funken und Staubkörner den Augen und Lungen entgegentreiben 15.

Diese und ähnliche Besonderheiten der Berufsarbeit beeinflussen vor allem die wichtigste Wurzel des Glückes, die Gesundheit. Dass es Berufskrankheiten giebt und eine "industrielle Pathologie", ist auch ausserhalb der betroffenen Kreise bekannt. Die giftigen Gase und Dämpfe, der häufige Temperaturwechsel, die Nässe und die unnatürliche Körperhaltung, welche Atmung, Verdauung und Blutumlauf hemmt, bilden Ursachen akuter

Störungen oder langwierigen Siechtums und vernichten die Kräfte. Zu diesen andauernden Einwirkungen der Berufsthätigkeit treten noch die gewissermassen zufälligen, nämlich die den Körper verstümmelnden Unfälle, von deren erschreckender Zahl die statistischen Berichte seit dem Aufkommen von Fabrikinspektion und Unfallversicherung zuverlässige Kunde geben 16. In Ausübung des Berufs eine Blutvergiftung, eine Verwundung zu erleiden, Gliedmassen einzubüssen oder dem Beruf zum Opfer zu fallen, ist möglich bei manchen, nicht bei allen Berufen.

Mit der Art der Berufsarbeit können aber nicht bloss physische, sondern auch kaum minder empfindliche psychische Leiden zusammenhängen. Nicht weniger schwer als durch die Uneinträglichkeit, den Mangel socialer Geltung oder die Mühe und Gefahr der Arbeit kann Einer gedrückt und gepeinigt werden durch den Besitz eines Berufs, der seiner Natur widerspricht. Eine verfehlte Berufswahl bedeutet, wo nicht etwa eine Umsattelung ausführbar ist, in vielen Fällen ein verfehltes Leben. Denn ein Beruf, der nicht die Hauptanlagen und -Neigungen ins Spiel bringt oder gar in entgegengesetzter Richtung zu schaffen gebietet, der z. B. die gewünschte Wirkung auf Andere oder die Vertretung der Überzeugung ausschliesst oder der in Abhängigkeit versetzt, wo die Selbständigkeit Bedürfnis war — ein solcher Beruf kann eine unversiegliche Quelle der Unzufriedenheit bilden. Ob diese Qual unter den Besitzenden sehr verbreitet ist, ist schwer zu sagen. Wer aber nur einigermassen der Lage des handarbeitenden Proletariates

seine Aufmerksamkeit widmet, wird finden, dass sie hier fruchtbaren Boden haben muss. "Wenn," sagt einer der ersten Schilderer dieser Lage, "wenn freiwillige produktive Thätigkeit der höchste Genuss ist, den wir kennen, so ist die Zwangsarbeit die härteste, entwürdigendste Qual. Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas thun zu müssen, was Einem widerstrebt. Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto mehr muss ihm seine Arbeit verhasst sein, weil er den Zwang, die Zwecklosigkeit für ihn selbst fühlt, die in ihr liegen"17.

Die Art der Arbeit differenziert nicht nur die Berufe nach Mühsamkeit, Gefährlichkeit, Lästigkeit, was von den Betroffenen empfunden wird, sie entscheidet auch über die Richtung, in der sich das Individuum entwickelt, ohne dass dieses sich der Einseitigkeit bewusst zu sein braucht, der es dabei anheimfällt. Indem die Arbeit innerhalb der Gesellschaft an Lebensberufe verteilt ist, wird die harmonische Ausbildung zu einer seltenen Ausnahme. Der Beruf, der nur einzelne Kräfte in Anspruch nimmt, kann sie zwar steigern zu Gunsten von Güte und Grösse ihrer Leistungen, aber nur indem gleichgeordnete Bedürfnisse und Anlagen unbefriedigt bleiben oder verwahrlost werden. Von der Berufswahl hängt es nun ab, ob durch diese meist gelassen hingenommene Verkümmerung die Muskulatur oder der Sinnesapparat oder das Denkorgan betroffen wird.

Diese Verkrüppelung kann nicht stärker hervorgehoben werden, als von Adam Smith mit Bezug auf den Handarbeiter geschehen ist 18.

Gewöhnlich glaubt man, dank der socialen und rechtlichen Parität ihrer universitären Vertreter 19, dass innerhalb der Kopfarbeit nichts dergleichen obwalte, dass hier die Berufswahl zwar über die Wissensprovinz entscheide, deren Bekanntschaft gemacht wird, jedoch im übrigen alles intakt lasse. Da darf ich als Jurist mir erlauben, an den Ausspruch eines Philosophen zu erinnern, der in mehr als einem Fach zu Hause war. "Alle abstrakten Wissenschaften", sagt Ludwig Feuerbach, "verstümmeln den Menschen; die Naturwissenschaft allein ist es, die ihn in integrum restituiert, die den ganzen Menschen, alle seine Kräfte und Sinne in Anspruch nimmt"20.

Wichtig fürwahr und wert, dass ihrer Freiheit nachgefragt würde, wäre die Berufswahl, auch wenn von ihr nur des Einzelnen Schicksal abhinge, und wenn nicht an ihrem Ausfall, somit an der Freiheit der Berufswahl auch die Gesellschaft interessiert wäre. Wenn sie zu ihrem Fortbestand oder ihrem Fortschritt ständig gewisser Leistungen in gewissem Umfang bedarf, so muss sie wünschen, dass ihr dieselben nicht entgehen, dass es ihr also nicht an Solchen fehle, die sich der Vornahme widmen. Ebenso muss ihr daran gelegen sein, dass sich ihr nicht mehr Kräfte zur Verfügung stellen, als die zu erzielenden Wirkungen erheischen.

Es mag sein, dass zur Ermöglichung der Auslese ein Beruf von mehr Leuten ergriffen werden müsse, als zur Deckung des Bedarfes gehört, immerhin ist diese Notwendigkeit ein Notbehelf, ein überdies nicht immer wirksamer Notbehelf zur Qualitätsverbesserung. Der

wünschenswerte Zustand bleibt der, dass eine Übersetztheit der Berufszweige nicht stattfindet. Nach der eidgenössischen Volkszählung vom 1. Dezember 1888 gehörten von 1000 Personen bekannten Berufsverhältnisses 397 der Veredlung der Natur- und der Arbeitsprodukte, sagen wir dem Gewerbe an, während 79 auf den Handel fielen; bei der deutschen Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895 wurden an Erwerbsthätigen (samt Dienenden und Angehörigen) in Bergbau, Hüttenwesen, Industrie und Bauwesen 20 1/4 Millionen, dagegen in Handel und Verkehr fast 6 Millionen gezählt. Eine Umkehrung dieser Verhältnisse — sie werde einmal als möglich angenommen — würde eine zwiefache Beeinträchtigung des quantitativen Interesses bedeuten, das die Gesellschaft an der Berufswahl hat.

Ihr .Interesse beschränkt sich aber nicht auf die Zahl, es erstreckt sich auch auf die Leistungsfähigkeit der Berufsthätigen. Ist es ihr ernst mit ihrem Gedeihen, so muss die Gesellschaft wünschen, dass die Berufe von den geeignetsten Personen ergriffen werden, und dass jedes Mitglied den für es geeignetsten Beruf ergreife. Wenn daher eine für einen bestimmten Beruf untaugliche, für einen anderen taugliche Person den ersteren Beruf wählt, so erleidet die Gesellschaft eine doppelte Einbusse, weil sie sich in dem erwählten Berufe minder gut bedient findet, und ihr andererseits eine Kraft ungenützt bleibt, also verschwendet wird. In unseren heutigen Gemeinwesen wird das erwähnte qualitative Interesse von Gesellschaftswegen nur ausnahmsweise wahrgenommen. Die körperliche Tüchtigkeit wird allgemein vor der

Übernahme des Soldatenberufes festgestellt, mitunter bei Jugendlichen vor Zulassung zum Beruf des Bergmannes oder des Bäckers. Sonst pflegt sich der moderne Staat um die physische Eignung zum Berufe nicht zu bekümmern, er überlässt es regelmässig dem Einzelnen, ob er die zum gewählten Berufe erforderlichen Körperkräfte, z. B. widerstandsfähige Lungen mitbringe. Dagegen technische Fertigkeit, wissenschaftliche Erfahrung, moralische Zuverlässigkeit oder finanzielle Zulänglichkeit unterliegen bei einer Reihe von Berufen staatlicher Prüfung, bevor die Ausübung dieser Berufe gestattet ist. —

Angesichts der gewaltigen Bedeutung der Berufswahl, die bisher in Erinnerung gebracht wurde, braucht die Wichtigkeit der Freiheit der Berufswahl nicht erst versichert, geschweige denn nachgewiesen zu werden. Man versteht ohne weiteres, dass diese Freiheit von grösstem Einfluss auf die Berufsgliederung sein wird, und das Interesse des Einzelnen wie das des Volkes, die bei der Berufswahl in Frage kommen, davon abhängen, ob und in welchem Masse die Freiheit der Berufswahl vorhanden oder aufgehoben sei.

Es giebt im heutigen Sprachgebrauch kaum etwas Umfassenderes und daher Unbestimmteres als die "Freiheit". Denn damit wird nur etwas Negatives, nur die Abwesenheit von Fesseln oder Hindernissen ausgedrückt 21. Was für Fesseln oder Hindernisse das sind, muss in jedem Fall, da von Freiheit die Rede ist, gesagt oder durch den Zusammenhang verdeutlicht werden.

Niemand, der von Freiheit der Berufswahl spricht,

denkt dabei an eine Art der mystischen Wahl- oder Willensfreiheit, d. h. Niemand, der sie behauptet, will damit in Abrede stellen, dass jede Berufswahl aus so zwingenden Gründen erfolgt, wie irgend eine andere Wahl, jeder ist überzeugt, dass die Berufswahl ein so ursächliches Geschehen ist wie die Wahl einer Wohnung, eines Kleides, eines Reisezieles.

Aber auch an die Abwesenheit natürlicher d. h. in der Natur des Wählenden liegender Hindernisse wird bei "Freiheit der Berufswahl" nicht gedacht. Manche Berufe können nur von Solchen ausgeübt und so denn zunächst ergriffen werden, die mit bestimmten Körper- und Geistesgaben versehen sind, und einzelne Berufe setzen ein wenigstens mittleres Mass von natürlichen Anlagen voraus.

Ich weiss nicht, ob es wahr ist, wie behauptet wird 22, dass die Fähigkeit zu mechanischen Fertigkeiten viel verbreiteter ist, als die zu rein geistigen Berufsarten, und ob Adam Smith recht hat, wenn er meint 28, es sei kaum zu bezweifeln, dass ein junger Mann, den man zu einem Schuhmacher in die Lehre gebe, ein Paar Schuhe zu machen lernen werde, während die Wahrscheinlichkeit, dass derselbe Jüngling im Studium der Jurisprudenz es dahin bringen werde, sich durch seinen Beruf zu ernähren, nur ein Zwanzigstel betrage. Jedenfalls bedarf selbst die ursprünglichste und einfältigste Handarbeit komplizierter Organe, und wenn wir die Reihe der Berufe durchgehen, so begegnen wir den mannigfaltigen natürlichen Werkzeugen, die für sie vorrätig sein müssen. Wo diese nun gänzlich oder im nötigen Umfang fehlen,

da findet sich der Kreis der wählbaren Berufe verengert.

Man kann zugeben, dass jemand durch unzureichende Disposition verhindert sei, den Beruf des Musikers oder des Zimmermannes, des Schauspielers oder des Lokomotivführers zu ergreifen, dass somit seine Berufswahl beschränkt sei — und doch wird man anstehen, hier seine Freiheit der Berufswahl für beeinträchtigt zu erklären. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit sind nicht Schranken der Freiheit. Eine solche Schranke wird nur da angenommen, wo sie ausserhalb desjenigen liegt, dessen Wahlfreiheit in Frage steht. Unsere Freiheit der Berufswahl ist ein Stück der politischen und socialen Freiheit, womit gesagt ist, dass der Mangel natürlicher Voraussetzungen von Berufen, wie Kraft, Gewandtheit, Wohlgestalt, Sinnesschärfe und Talent, weil diese Voraussetzungen immer unerlässlich sind, nicht zu den Hindernissen jener Freiheit zählen kann. Als politisches oder sociales Gebilde kann die Freiheit der Berufswahl auch nur politische und. sociale Schranken haben, und solche sind nicht unverrückbar.

Auch die Entscheidung über die Berufswahl, die nach Privatrecht den Eltern oder ihren Vertretern zusteht, hat nichts mit unserer Freiheit zu thun. Die Berufswahl erfolgt wohl in der Mehrzahl der Fälle zu einer Zeit, da der Nächstbeteiligte noch nicht selbständig ist; darum wird seinen Eltern, Vormündern und Pflegern überlassen oder auferlegt, statt seiner die Wahl zu treffen. Dass das Privatrecht sie ihm abnimmt oder versagt, ist keine Beschränkung seiner Freiheit der Berufswahl. Denn man versteht unter Freiheit der Berufswahl eine

Freiheit dessen, der die Berufswahl trifft, einerlei ob der Wählende auch selber den Beruf ergreifen oder nur für einen Anderen entscheiden soll. Dass dieser Andere eine solche in seinem Namen vorgenommene Wahl bisweilen als eine Behinderung seiner Freiheit empfinden mag — wie beim siebzehnjährigen Heinrich Zschokke der Fall war nach Ludwig Hirzels vortrefflicher Zeichnung seines Lebens 24 —darf uns nicht bewegen, in diesem Verhältnis etwas zu sehen, das mit der gemeinen Freiheit der Berufswahl zusammenhängt.

Wenn von Freiheit der Berufswahl gesprochen wird, so pflegt man sich zuvörderst politische oder rechtliche Fesseln vorzustellen, die jene Freiheit beeinträchtigen. Diese Art der Schmälerung kann verschiedenen Umfang haben.

Es kann erstens die Einrichtung bestehen, dass der Staat den einzelnen Mitgliedern des Gemeinwesens vorschreibt, welchen Beruf ein jedes zu ergreifen und auszuüben habe. Dieser positive Zwang schliesst alle Wahl aus, indem ausser dem einen vorgeschriebenen kein anderer Beruf ergriffen werden kann. Eine solche Einrichtung ist von Gesellschaftsphilosophen, namentlich von Plato, für andere Zustände als die unsrigen wiederholt ausgedacht und entwickelt worden. Ausserdem ist sie vereinzelt wirklich in der Geschichte aufgetreten, vornehmlich im alten Inkareich von Peru vor dem Eindringen der Spanier. Nach der dortigen "Organisation der Arbeit" war Jedermann zum Feldbau verpflichtet und niemandem gestattet müssig zu gehen. "Da man den Vorteil der Arbeitsteilung sehr wohl kannte, so war Jeder nach Bebauung

seines Ackerloses gemäss seiner Fähigkeit zu bestimmten, zum Besten der Gesamtheit zu leistenden Fronarbeiten verpflichtet. Damit keine ungleichmässige Belastung stattfände, waren die Arbeiter desselben Berufes in verschiedene Schichten geteilt, die einander ablösten. Jedem Peruaner war sein Lebensgang durch seine Geburt ein für allemal vorgezeichnet; war er ein Inka, so lebte er vom Schweisse anderer; war er ein Unterthan so war sein Leben Mühe und Arbeit. Aufenthaltsort und Kleiderschnitt, sein Beruf und die Wahl eines Weibes, das ganze Mass seiner Bedürfnisse und Genüsse — alles war ihm von der Regierung vorgeschrieben"25.

Anderwärts treffen wir den rechtlichen Berufszwang nur teilweise ausgebildet. So ist im sinkenden römischen Reich eine Anzahl von Berufen erblich gemacht worden, indem sich der Sohn von Rechtswegen dem väterlichen Berufe widmen musste. Das galt vom Dekurionat, d. h. dem Beruf des städtischen Ratsherrn, von Handwerken, dem Militär und der Landwirtschaft, insofern sie von Kolonen betrieben wurde 26. Aus neuerer Zeit gehört hierher der von manchen Mutterländern gegenüber den. Kolonien geübte Zwang zum Anbau gewisser Rohprodukte (wie Baumwolle und Seide), die in den Manufakturen des Mutterlandes verarbeitet werden sollen.

Heutzutage ist der in Rede stehende Zwang etwas exceptionelles. Er kommt da vor, wo jede Freiheit aufgehoben ist, in den Strafanstalten und Arbeitshäusern, deren Insassen sich berufsmässig gewissen Arbeiten unterziehen müssen. Ausserdem ist zwar die Übernahme des Soldatenberufes, des Geschwornen- und. Schöffenberufes für die

erwachsenen Männer obligatorisch gemacht, allein dieser Zwang gilt nur für befristete Berufe. In einigen kleineren Kantonen giebt es nach Osenbrüggens Bericht "Amtszwang", indem Jemand wegen "Amtsverweigerung", d. h. Ablehnung des Amtes, zu dem er gewählt worden ist, bestraft werden kann 27.

Sieht man von diesen und ähnlichen Einzelheiten ab, so wird man der Behauptung beipflichten, dass Freiheit der Berufswahl insofern vorhanden sei, als nicht der Staat die gesellschaftliche Arbeitsteilung vornimmt und die Einzelnen den Berufszweigen überweist. Er vertraut, dass auch ohne dies die nach Art und Zahl erforderliche oder wünschenswerte Berufswahl erfolgen werde. In diesem Vertrauen sieht er sich freilich bisweilen getäuscht, wenn der Mangel an Unteroffizieren, Pfarrern, Volksschullehrern oder Landarbeitern empfunden wird. Wegen solcher Erfahrungen und aus anderen Gründen bemüht sich der Staat oder die das Staatsruder führende Gruppe durch finanzielle Hülfen und andere Mittel die erwünschten Berufszweige ins Leben zu rufen, blühend und besetzt zu erhalten. Auf dieses Streben lassen sich teilweise zurückführen die Titel und Orden, die den Inhabern gewisser Berufe in lockende Aussicht gestellt werden, die Pensionierung von Schriftstellern, Dotierung von Lehrstellen, Gründung von Fachschulen, Erziehung auf öffentliche Kosten und nicht zuletzt die Ein- und Ausfuhrverbote, Gewährung von Exportprämien, Aufrichtung von Schutzzöllen u. dgl. Allein dies weiter zu verfolgen und zu kritisieren 28, haben wir weder Zeit noch Anlass, da die erwähnten und verwandte Massregeln

zwar unter die staatliche Beeinflussung der Berufswahl fallen, nicht aber als Beschränkung ihrer Freiheit gelten können.

Nach der rechtlichen Beschränkung, die im Befehlen und Vorschreiben besteht, ist zweitens die zu betrachten, die ein Verbieten und Ausschliessen ist. Müssen Glieder eines Gemeinwesens nicht bestimmte Berufswege einschlagen, so können ihnen doch bestimmte Berufswege rechtlich versperrt sein. Auch in diesem Fall ist die Freiheit der Berufswahl beeinträchtigt. Solcher Schranken und Schlagbäume hat es in früheren Zeiten sehr viele gegeben, die dann vom Liberalismus, namentlich unter der französischen Revolution, und vom um sich greifenden Kapitalismus niedergelegt worden sind. In der deutschen Reichsverfassung von 1849 hiess es: "Es steht jedem frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wo und wie er will." Und heutzutage sehen wir Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz weithin anerkannt und wirksam. Der Betrieb eines Gewerbes wie der gleichzeitige Betrieb verschiedener Gewerbe ist regelmässig Jedermann gestattet. Handel und Handwerke sind nicht mehr streng geschieden, Zünften und kaufmännischen Gilden steht ein Recht, Andere vom Betrieb eines Gewerbes auszuschliessen nicht mehr zu. Geschlecht, Stand, Religion, Bürgerrecht und Staatsangehörigkeit machen für die Berufe des Kaufmanns, des Landwirts, des Gewerbetreibenden keinen Unterschied mehr. Die Ausübung der Advokatur und der Arzneikunde, wie die Beamtenlaufbahn sind von vielen Fesseln befreit worden.

Hingegen in vergangenen, doch nicht lang vergegangenen Zeiten findet man die Adligen da und dort vom Gewerbebetrieb, die Bürgerlichen vom Zutritt zu hohen Kirchen- und Militärstellen ausgeschlossen. Manchen Orts war den Katholiken und den Juden der Erwerb von Grundeigentum und damit die Ergreifung des landwirtschaftlichen Berufes fast völlig versagt. Andere wieder befanden sich im Besitz von Monopolen, von Zwangs- und Bannrechten, konnten den Betrieb eines Gewerbes überhaupt oder in Hinsicht auf den Ort, oder auf den Stoff und die Form der Erzeugnisse untersagen.

Gegenüber diesen weitgreifenden ehemaligen treten die noch bestehenden rechtlichen Hindernisse sehr zurück. Dass z. B. die Erteilung eines Patentes einschränkend auf die Berufswahl wirken kann, fällt in diesem Zusammenhang wenig ins Gewicht. Eher dass durch Strafurteil Personen für unfähig erklärt werden können zum Militär-, Flotten-, Eisenbahn- oder Telegraphendienst oder zur Bekleidung öffentlicher Ämter. Eine Alle treffende, aber nur von der Minderheit empfundene rechtliche Schranke liegt in der Ausschliessung vom Bettlerberuf und vom Verbrecherberuf. Zwar findet sich nirgends ausgesprochen, dass diese Berufe nicht erwählt werden dürfen, und kann man nicht sagen, dass der Staat auf jede Weise ihrer Ergreifung vorzubeugen trachte; da er aber doch die Ausübung nachdrücklich zu hindern sucht, so lässt sich auch hier von rechtlicher Beschränkung der Berufswahl, wiewohl besonderer Art, sprechen.

Viel geläufiger sind uns die rechtlichen Freiheitsbeschränkungen,

die sich auf die Geschlechtsverschiedenheit gründen. Ich brauche kaum zu sagen, dass es die Frauen sind, die dabei zurückgesetzt werden. Freilich sind ihnen nicht versperrt die Berufe, die nur Handarbeit, ländliche oder industrielle, verlangen, auch nicht das Handelsgewerbe. Ja in diesen Berufen werden sie nicht selten bevorzugt, weil sie bei buchstäblich gleicher Leistung wie die der Männer, wo nämlich Stücklöhnung besteht, mit kleinerem Lohne abgefunden werden können 29. Es sind vielmehr vornehmlich die höheren socialen Funktionen und die gewöhnlich weniger aufreibenden Thätigkeiten, an deren berufsmässiger Übernahme die Frauen in vielen Ländern rechtlich verhindert sind. Diese Verhinderung hat dann noch die mittelbare Folge, dass bei den offen gelassenen Berufen ein übermässiger Andrang erzeugt wird. Übrigens wird die Ausschliessung der Frauen von vielen Berufen nicht geradezu ausgesprochen, sondern indirekt dadurch herbeigeführt, dass sie die Bedingungen zu erfüllen ausser stand gesetzt werden, an welche die Übernahme jener Berufe von Rechtswegen geknüpft ist 30.

In der Aufstellung solcher Bedingungen mag man die dritte Art erblicken, in der die Freiheit der Berufswahl rechtlich beschränkt sein kann. Die Ausübung vieler Berufe setzt die Erstattung von Anzeigen, die Einholung von Genehmigungen, Konzessionen, Approbationen, die Lieferung sachlicher und persönlicher Sicherheiten, von Kautionen, Bedürfnis- und Befähigungsnachweisen, namentlich die Ablegung von Prüfungen voraus. Allerdings wählt seinen Beruf schon wer sich

an diese Prästationen macht, was ihm rechtlich freisteht. Aber abgeschlossen ist doch seine Wahl erst dann, wenn die Ausübung des erwählten Berufes keinem rechtlichen Hindernis mehr begegnet. Da dies nur nach Erbringung jener Voraussetzungen der Fall ist, so können sie als rechtliche Schranken der Freiheit angesehen werden. Dass es sich bei ihnen darum handelt, zum Wohl des Ganzen oder gewisser Kreise ein Übermass des Angebotes zu verhindern, die Konkurrenz einzudämmen oder eine Verbesserung der Berufsleistung zu befördern, ändert nichts daran, dass sie die Wahlfreiheit vermindern. —

Überblickt man hier noch einmal die rechtlichen Schranken der Berufswahl, bedenkt man, wie durch die der letzterwähnten Art Berufswege nicht verschlossen, sondern bloss erschwert werden, wie die Berufszuteilung, also die ersterwähnte Schranke, nur einen geringen Geltungsumfang hat, und wie die ehemaligen Hindernisse der zweiten Art heute fast alle beseitigt sind: so könnte man versucht sein, die Freiheit der Berufswahl als etwas wirkliches anzuerkennen und zu preisen.

Es ist begreiflich, dass der junge Schwärmer Camille Desmoulins unter dem frischen Eindruck der berühmten Augustnacht die Barrieren, die die Wege zu den Ehren und Anstellungen versperrten, für immer niedergerissen und unter den Franzosen keine anderen Unterschiede bestehend fand, als die der Tugend und des Talentes 31. Aber noch achtzig Jahre später konnte ein so besonnener Schriftsteller wie Mill in seinem glänzenden Plaidoyer für die Ehefrauen und die Damen bei der Thatsache -stehenbleiben, dass im grossen Ganzen heute allen

Männern jede Laufbahn von Rechtswegen offen stehe. Vom Monarchenberuf abgesehen, meint er, dass alle Positionen und Gesellschaftsvorteile dem ganzen Männergeschlecht zugänglich sind. Viele seien zwar nur erlangbar durch Vermögen, aber Vermögen könne von Jedermann erstrebt werden und werde thatsächlich von vielen Leuten niedrigster Herkunft erworben. Die Schwierigkeiten, fährt er fort, sind freilich für die Mehrzahl ohne die Hülfe glücklicher Zufälle unüberwindlich; aber kein männliches Wesen befindet sich unter einem gesetzlichen Bann; weder das Recht noch die öffentliche Meinung fügen ihm künstliche Hindernisse zu den natürlichen hinzu 32. Was Mill hier als Freiheit der Berufswahl im Auge hat und was er an vielen Stellen mit Beredtsamkeit zu erheben weiss, ist nur die rechtliche Unbeschränktheit der Berufswahl. Mit dieser identifiziert er die Freiheit der Berufswahl und lässt sich dabei von der Gleichheit vor dem Gesetze blenden.

Es ist aber leicht einzusehen und nicht selten hervorgehoben worden 33, dass es äussere Schranken der Berufswahl giebt, die ebenso stark sind als die Macht des Gesetzes. Und ihre Wirksamkeit ist so weitreichend, dass das napoleonische Wort: "Jeder französische Soldat trägt den Marschallstab in seiner Patrontasche" auf die Berufswahl im allgemeinen nicht anwendbar ist. Wenn es sich so verhält, dann ist die Freiheit der Berufswahl nichts, das wir schon geniessen, dann wohnt sie nur im Reich des Ideals. Und wenn unter der nur rechtlichen Freiheit, die wir besitzen, die vorhin besprochenen privaten und öffentlichen Interessen der Berufswahl zu

kurz kommen, so werden wir unseren Besitz nicht überschätzen.

Die Berufe, wie wir sahen, unterscheiden sich für den Einzelnen vorzüglich durch ihre Einträglichkeit, ihr Ansehen, die Mühsamkeit und Gefährlichkeit ihrer Arbeit und durch ihr Verhältnis zu den Anlagen und Neigungen. Hat nun ein Jeder das Recht jeden Beruf zu ergreifen, kann er insofern seinen Beruf frei wählen: was hinderte dann diesen oder jenen, den ergiebigen statt des unergiebigen, den missachteten statt des geehrten, den mühelosen statt des aufreibenden Berufes zu ergreifen? Wie kam dieser Mann dazu sich den Plagen und Gefahren des Bergbaues oder des Baugewerbes auszusetzen, da er das Recht hatte, Pfarrer zu werden? Warum ward dieser Arbeiter nicht Fabrikant wie sein Arbeitgeber, der von vornherein den Fabrikantenberuf ergriff? Warum wählte jener Handweber nicht den Advokaten- oder den Professorenberuf statt mit kärglichem Lohn am Hungertuche zu nagen? Was hinderte jene Dienstmagd oder Kellnerin Gouvernante oder Handelsfrau zu werden? Und was hielt diese Konfektionsarbeiterin ab, sich nach Trieb und Talent der bildenden Kunst zu widmen, statt jahraus, jahrein vom Morgen bis in die Nacht an der Nähmaschine zu sitzen, um in der besten Zeit gerade noch so viel zu verdienen, dass sie in der schlechten nicht zu Grunde geht 34?

Es genügen schon diese paar hausbackenen Fragen —man braucht gar nicht auf das grenzenlose Elend einzugehen, das die von allen Seiten andrängenden socialen Enqueten und Statistiken enthüllen — um ohne weiteres

klar zu machen, dass mit den rechtlichen die Schranken der Berufswahl nicht erschöpft sind, und dass hinter ihnen sich noch nicht die Freiheit der Berufswahl aufthut.

Vielleicht dass Jemand auf die eine oder die andere unserer Fragen erwidert: Diese Leute verzichteten freiwillig auf den minder anstrengenden und den höher geachteten Beruf, sie wählten ihn nicht, weil sie sich sagten, dass damit eine Übersetztheit eintreten, die sie der Arbeits- und Verdienstlosigkeit überliefern werde. Dies würde heissen: sie wählten diesen Beruf nicht, weil er keinen Erwerb versprach, während der gewählte Erwerb in Aussicht stellte. Allein Erwerbsquelle zu sein gehört nicht zum Wesen des Berufs. Denken wir uns jene Leute nicht auf den Erwerb durch Berufsarbeit angewiesen, so werden wir sie ihren Beruf ohne Rücksicht auf seine Einträglichkeit wählen sehen. Es war also nicht seine Beschaffenheit für sich allein, was sie abhielt jenen Beruf zu wählen, während seine Wahl ihnen freistand; sondern ihre eigene ökonomische Lage, die den Erwerb erheischte, hinderte sie den Beruf zu ergreifen, der nicht ausreichende Früchte zusicherte.

Aber es giebt tausend Fälle, in denen eine Erwägung wie die vermutete gar nicht angestellt wird, und tausend andere, in denen sie angestellt zur Ablehnung des sonst zusagenden Berufs nicht führen würde. Der arme Kohlengräber und sein Sohn mögen sich immerhin sagen, ob irrtümlich oder nicht, dass der Beruf des Apothekers, des Architekten oder des Börsenmaklers dem ihn wählenden Sohn den erforderlichen Unterhalt gewähren werde, oder sie mögen auch keine Betrachtungen

über die Ergiebigkeit dieser minder gefahrvollen Berufe anstellen: ist nicht das Kohlengräberkind durch seine Mittellosigkeit von der Wahl dieser Berufe ausgeschlossen?

Dass Besitzlosigkeit und Unzulänglichkeit des Besitzes die Ergreifung vieler Berufe verhindern, springt zu sehr und zu oft in die Augen, als dass man es zu beweisen nötig hätte. Und dieser Mangel entfaltet seinen hemmenden Einfluss in mehr als einer Richtung. Zunächst macht er unzählige Male die Vornahme der die Berufsausübung vorbereitenden Schritte unmöglich oder legt dafür die schwersten Opfer an Wohlbefinden auf. Ferner können viele Berufe auch von dem darauf Vorbereiteten nicht ohne gewisses Besitztum ausgeübt werden, weil sie z. B. Betriebsmittel verlangen. Hindert dieser Mangel, sonst vorgezogene Berufe zu ergreifen, so hält er andererseits oft beim ergriffenen Berufe fest, lässt es nicht zu dem für die Gesundheit notwendigen Berufswechsel kommen 35. Umgekehrt zwingt er nicht selten einen Beruf statt des bisher geübten zu wählen, weil dieser nicht mehr zu nähren vermag, erzwingt also einen Berufswechsel, der sonst unterbleiben würde 36. Und endlich nötigt er einen Beruf als Erwerbszweig zu wählen, wo sonst heilsame Berufslosigkeit bestehen würde; dies gilt z. B. von den 215000 Kindern unter vierzehn Jahren, die nach der deutschen Berufszählung vom 14. Juni 1895 im Hauptberuf erwerbsthätig waren oder zum Hausgesinde gehörten 37.

Je grösser der Besitzmangel ist, um so stärker wird der durch ihn auf die Berufswahl geübte Zwang ausfallen,

und dieser kann, wie die Erfahrung lehrt, so stark werden, dass er alle sonst die Berufswahl bestimmenden Motive überwältigt und ohne Rücksicht auf Missachtung, Mühseligkeit, Widerwärtigkeit und Gefährlichkeit, bisweilen auch ohne Rücksicht auf das Recht oder die Moral denjenigen Beruf zu ergreifen nötigt, der sich als die nächste Nahrungsquelle darbietet. Diese ist meist zugleich eine sehr unergiebige, so dass diejenigen, die wegen ihrer Armut einen gewinnbringenden Beruf zu erlangen wünschen müssen, durch eben diese Armut gezwungen sind, auf einen solchen Beruf zu verzichten 38.

Die rechtlichen und die ökonomischen sind nicht die einzigen Fesseln der Berufswahl. Ihre Freiheit wird auch noch beeinträchtigt durch Schranken, die man als sociale oder konventionelle bezeichnen kann. Von den besprochenen rechtlichen sind sie dadurch unterschieden, dass ihnen der gemeine staatliche Rechtszwang fehlt, von den ökonomischen dadurch, dass sie nicht bloss den treffen, der des Besitzes entbehrt. Eigentümlich ist ihnen, dass sie Jemanden an der Wahl eines Berufes, die rechtlich freisteht und wirtschaftlich möglich ist, verhindern, weil die Würde der Person und die Würde des Berufs als nicht einander deckend erscheinen 39. Die Sprosse, die einer auf der gesellschaftlichen Leiter einnimmt, gilt hier als zu hoch oder als zu niedrig gegenüber gewissen Berufen, so dass er, um sie zu ergreifen, hinabsteigen, oder sich über seinen Stand erheben müsste. Die massgebende Vergleichung wird entweder vom Einzelnen selbst angestellt, der in innerlicher Reaktion dem Beruf der höheren Stufe entsagt, beziehungsweise davor zurückschreckt

sich zu erniedrigen. Oder aber es sind die Anderen, die Höhergestellten und die Gleichgestellten, die mit den Zwangsmitteln des unpositiven Rechts — als Spott, Verruf; Isolierung, Verachtung — den Aufstrebenden niederhalten, den zu eigener Herabsetzung Neigenden in ihrem Kreise festhalten. In jedem Fall sind es äussere Schranken, denen er sich gutwillig fügt oder die ihm fühlbar gemacht werden. Die gegen Hinabsteigen gerichteten sind um so weniger wirksam, je mehr die Mittel zum Leben fehlen, indem die Notlage auch das Opfer der Würde erzwingen kann; und umgekehrt vermag in manchen Gesellschaften selbst grosser Reichtum dem Bürgerlichen nicht den Zugang zu Berufen zu öffnen, die der Adel, obwohl nicht dem Recht nach, ausschliesslich für die Seinen in Anspruch nimmt. Andererseits hat der wohlhabende Aristokrat, der sich von Seinesgleichen nicht abscheiden will, in vielen Ländern einen engen Spielraum der Berufswahl. "Das Söhnchen einer bemittelten Mutter," so klagte schon Justus Möser 40, "schämet sich die Hand an eine Feile oder Zange zu legen." Die Tochter "aus guter Familie" kann nicht ohne verstossen zu werden, sich dem Beruf der Ballettänzerin widmen, auch wenn Lust und Anlage sie dazu bestimmen. Und. der Sohn des grossen Bankiers oder geheimen Regierungsrates ist den Beruf des Barbiers oder des Droschkenkutschers zu ergreifen so wenig im stande, wie wenn er durch positives Recht daran gehindert wäre.

Die ökonomischen und socialen Fesseln sind nicht unzerreissbar. Aber wie wenig mit dieser Möglichkeit

gerechnet wird, ergiebt sich mit Evidenz aus der Thatsache, dass in allen Erörterungen des "ehernen" Lohngesetzes stillschweigend vorausgesetzt, d.h. als selbstverständlich betrachtet wird, dass die Kinder des Arbeiters wieder Arbeiter werden 41. Allerdings unter den gewöhnlichen Verhältnissen vermag nur ein ungewöhnlicher Kopf bedeutende sociale Schranken zu durchbrechen, und die Überwindung ökonomischer Hindernisse wird selten ohne die Hülfe solcher äusseren Glücksfälle gelingen, auf die nicht gerechnet werden kann. Aber für unseren alteuropäischen Standpunkt ungewöhnliche Verhältnisse finden sich in überseeischen Ländern 42. In den kolonisierten Gebieten von Amerika und Australien, auf frischem Gesellschaftsboden giebt es eine grössere Freiheit der Berufswahl 43: "Amerika, Du hast es besser Als unser Continent der alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern, Zu lebendiger Zeit, Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit."

Dass auch ohne Wechsel des Schauplatzes in ausserordentlichen Zeiten die Schranken der Berufswahl leichter übersprungen werden können, lehren die neueren Staatsumwälzungen. "In dieser Zeit," sagt z. B. Buckle mit Bezug auf die englische Revolution, "hing die Beförderung gänzlich vom Verdienst ab, und wenn einer Talent hatte, kam er sicher in die Höhe, was immer sein früheres Geschäft gewesen sein mochte. Cromwell selbst war ein Brauer und Oberst Jones, sein Schwager, war im Dienst eines Privatmannes gewesen." "Der Schneider und der Kärrner waren zu jener Zeit stark genug, den öffentlichen Angelegenheiten ihre Richtung zu geben und

sich eine hervorragende Stelle im Staate zu gewinnen." "Andere Gewerbe waren ebenso glücklich: denn die höchsten Ehren standen allen offen, wenn sie nur die erforderlichen Fähigkeiten zeigten." Und so wurden damals erfolgreiche Staatsmänner und Militärs Leute, die vordem Handwerker, Krämer, Hausierer, Bediente gewesen waren 44.

Dass die Freiheit der Berufswahl, so spärlich, ihre rechtlichen Hindernisse geworden sind, in weitem Umkreis nicht anzutreffen ist, dürfen wir nach Betrachtung ihrer ökonomischen und socialen Schranken als sicher annehmen. Es ist ein nur kleiner Bruchteil des Volkes, der jener Freiheit teilhaftig ist; weitaus die Mehrheit ist, ausser stande nach Talent und Neigung den Beruf zu wählen 45. Woher es komme, möchte einer fragen, dass nicht mehr und lautere Klagen über diese Unfreiheit erschallen. Allein die wohl bekannte Beschwerde über die Ungunst der Klassenlage schliesst auch diese Klage ein; der 'Schrei nach Hülfe gegen die Nöte des gewählten Berufes liegt näher als der Jammer über die Unfreiheit, in der es zu seiner Wahl kommen musste; und bei Vielen endlich bringen Überlieferung und Gewöhnung eine Gelassenheit, Ergebung oder Abstumpfung hervor, die eine grundsätzliche Fragestellung nicht aufkommen lässt.

Bei der überwiegenden Unfreiheit der Berufswahl ist ein sachgemässer, nämlich die Einzel- und die Gesamtinteressen währender Ausfall der Berufswahl im voraus nicht zu erwarten. Wie weit die Verletzung dieser früher besprochenen Interessen auf jene Unfreiheit zurückzuführen ist, lässt sich schwerlich feststellen. Gewiss ist nur, dass

die durch ökonomischen und socialen Druck erzwungene Hingabe an einen Beruf nicht bloss das Wohlbefinden des Einzelnen beeinträchtigt, bei dem der Zwiespalt von Sein und Thun zum Leiden wird 46, sondern auch das Ganze in Mitleidenschaft zieht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden dadurch der Gesellschaft Kräfte vorenthalten, die zu ihrem Vorteil gewirkt haben würden. Dies wird immer noch von Manchen 47 mit der unerwiesenen und unerweislichen Annahme bestritten, dass Talente nicht zu ersticken seien, dass jedes Genie sich Bahn breche. Dieses schädliche Vorurteil stützt sich einfach auf einige Vorkommnisse und ist demnach so wenig haltbar als die Meinung, dass Ideen nicht unterdrückt, Lehren nicht ausgerottet werden könnten durch Verfolgung oder Ausmerzung ihrer Bekenner. Dass aber dieses oder jenes Genie trotz unsäglicher Hindernisse durchgedrungen ist, liefert doch keinen Beweis dafür, dass in jedem Fall die Schwierigkeiten überwindlich sind, gestattet also keineswegs ein Gesetz von der Unwiderstehlichkeit der persönlichen Anlagen aufzustellen. Man muss vielmehr sagen, dass die Zahl der Talente, die durch widrige Verhältnisse verkümmert oder nachteilig entwickelt werden, sich der Berechnung gänzlich entziehe. Im Alton Locke lässt Kingsley seinen Helden, den Schneider sagen 48: "Es giebt aber unzählige Geschichten von grossen Engländern, die aus den untersten Klassen emporgestiegen sind." "Freilich," wird ihm erwidert, "aber wo sind die Geschichten von denen, die nicht emporgestiegen sind? von all den edlen Genies, die in Verzweiflung, Trunk, Hunger, Selbstmord geendet

haben, weil sich niemand die Mühe nehmen wollte, sie emporzuheben, damit sie den Weg gehen könnten, den die Natur ihnen vorgezeichnet? Die Toten plaudern nichts aus, und das alte übertünchte Grab, die Gesellschaft, wird nicht an sich selbst zum Angeber werden."

Welche praktischen Übel man ferner der Unfreiheit der Berufswahl nachsagen konnte, es bliebe immer noch der Vorwurf ihrer Ungerechtigkeit übrig. Die Einschränkung der Berufswahl, die nicht Alle trifft, wird als ungerecht empfunden. Dies wird wohl nur bei denen nicht der Fall sein, die die Unfreiheit darum lobenswert finden, weil sie die ökonomisch Schwachen zur Ergreifung der Berufe zwingt, die abstossende oder aufreibende, aber Allen unentbehrliche Arbeit erheischen. Allein es ist doch noch die Frage, ob solcher Zwang schlechthin unentbehrlich ist, d. h. ob diese für Bestand und Wohlfahrt des Ganzen erforderlichen Leistungen nicht auch in einer Gesellschaft gesichert sein können, in der die Beiträge zum Gemeinschaftsleben nach Massgabe der Kräfte gleichmässig verteilt sind.

Und gerade von seiten dieser Gleichmässigkeit ist unser Problem der Berufswahl durch die Utopisten behandelt worden, die von Thomas Morus bis Bellamy den gerechten Staat aus ihrer Einbildungskraft entworfen und eine darin wirkende Organisation der Arbeit geschildert haben, die an keinem der Übel krankt, mit denen unsere Berufswahl behaftet ist 49. Derartige Schilderungen sind nur dann mehr als belletristische Erzeugnisse, wenn sie zugleich nachahmenswerte Muster aufstellen. Dies kann bloss von denen gelten, die an

der gesellschaftlichen Arbeitsteilung selbst oder im Prinzip festhalten und ohne der Civilisation zuzumuten, auf tausendjährige Errungenschaften zu verzichten, die Übelstände unserer Berufswahl durch zwei Mittel zu vermeiden trachten. Erstens dadurch, dass sie die Angelegenheit der Berufswahl, da sie doch einmal dem Interesse nach eine allgemeine ist, auch wirklich der allgemeinen Fürsorge, das ist der Fürsorge der Gesellschaft unterstellen, ohne damit gerade auf die Berufszuteilung zu verfallen, wie sie im Inkareiche anzutreffen war. Und zweitens dadurch, dass sie die Berufe, alle oder nur die für das Ganze wichtigeren, ihrer Eigenschaft von Lebensberufen entkleiden, somit die Lasten bloss zeitweise auflegen oder sie periodisch neu umlegen. Hierdurch sollen etwaige Fehler der centralen Fürsorge verbessert, die Berufe mit der Würde gesellschaftlich verliehener Ämter bekleidet, und alle Mitglieder davor behütet werden, ihr Leben mit einem Beruf verbunden zu sehen, der als Kette empfunden wird. Die Urheber solcher Pläne wissen den nächstliegenden Einwürfen dadurch zu begegnen, dass sie ihre Organisation der Arbeit nicht als isolierte Neuerung hinstellen, sondern nur unter der Voraussetzung tiefgreifender Umgestaltung der Gesellschaft wirken lassen. Sie setzen eine völlig andere Güterverteilung voraus, als sie vorfinden, nehmen das Privateigentum an den Produktionsmitteln als nicht bestehend an und rechnen danach auf die Ausbildung einer brüderlichen und dem Gemeinwohl zugewandten Gesinnung, die jene Organisation der Arbeit willig umfasst und befördert.

Insofern derartige Pläne blosser Philanthropie entspringen,

nur auf Wünsche und Hoffnungen gebaut sind und den Anschluss an die Erfahrung nur suchen, um plausibler zu erscheinen, wird sich die Wissenschaft nicht mit ihnen einlassen. Sie braucht sie daher nicht gegen die Vorwürfe jener Freiheitsfreunde in Schutz zu nehmen, die, sich und die Ihrigen im Genuss der Freiheit der Berufswahl findend, jede über das Ganze auszubreitende Organisation als Bedrohung der Freiheit denunzieren 50, selbst wenn der auf der gewaltigen Mehrheit lastende Druck durch jene Regelung vermindert und der Individualität zur Geltung verholfen werden soll 51. Auch ist es überflüssig die Selbsttäuschung aufzuklären, der der Inhaber eines ihn befriedigenden Berufes ausgesetzt ist, indem er vergisst, dass er die Liebe zu seinem Beruf vornehmlich erst nach der Wahl und während der Ausübung erworben oder befestigt hat. Er kann sich schwer in die ursprüngliche Lage grösserer Gleichgültigkeit ideell zurückversetzen, von der man ausgehen muss, wenn man das Projekt einer gesellschaftlichen Regelung der Berufsfrage unparteiisch beurteilen will.

Die wissenschaftliche Methode gebietet die spekulativen Konstruktionen, ihre Licht- und ihre Schattenseiten 52, wie die Frage ihrer Durchführbarkeit auf sich beruhen zu lassen, und nur an der Hand der Erfahrung und der Geschichte die Entwicklung zu bestimmen, die für die Berufswahl erwartet werden kann. Zeigt uns die Geschichte, wie Berufe aufkommen und untergehen, gespalten und verschmolzen werden, so dürfen wir auch den heutigen Bestand nicht als einen immer dauernden betrachten. Zahl und Umfang der Berufe sind aber von

Einfluss auf die Freiheit der Berufswahl. Es lehrt uns ferner die Geschichte den Wandel der Berufe nach Einträglichkeit. und Ansehen, Mühsal und Gefährlichkeit, Wichtigkeit und Anziehungskraft, wovon wiederum die Berufswahl abhängig ist. Ferner besitzen wir zahllose Beispiele von staatlichen Eingriffen in die Berufswahl, rechtlichen Einengungen .und Erweiterungen ihrer Freiheit. Und dazu tritt endlich der geschichtlich wechselnde ökonomische und sociale Zwang, der die Einzelnen den zur Verfügung stehenden Berufen zuweist. Angesichts dieser massenhaften Änderungen, die die Geschichte der Berufswahl und ihrer Freiheit aufzeigt, ist es unmöglich zu glauben, dass die Stufe, die sie gegenwärtig bei den Kulturvölkern einnehmen, die bleibend ihnen zukommende bilde.

Es kann sich nur darum handeln, die Richtung zu erkennen, in der sich die Entwicklung wahrscheinlich vollziehen wird. In unserer Gegenwart, in der die Masse der Besitzlosen der grössten Unfreiheit der Berufswahl ausgesetzt ist, sieht man Bewegungen im Gange oder sich vorbereiten, die die Wirkungen dieser Unfreiheit beträchtlich abzuschwächen versprechen. Wenn man sich die zahlreichen Massregeln, die unter dem Namen des Arbeiterschutzes befasst werden, vollständig durchgeführt und sachgemäss auf alle, die landwirtschaftliche wie jede gewerbliche Arbeit erstreckt denkt, so braucht zwar dadurch der Spielraum der Berufswahl für die Besitzlosen nicht erweitert zu werden, aber da dann die Berufe, die zu ergreifen sie sich gezwungen sehen, eines grossen Teils ihrer Übel entledigt sind, so ist damit die

Unfreiheit ihrer Wahl erträglicher geworden. Gar nicht zu reden von der damit gewonnenen Beseitigung der Gefährlichkeit und der Schädlichkeit vieler Berufe — man braucht sich nur die ansehnliche Tragweite zu vergegenwärtigen, die der allgemeinen Einführung des Achtstundentages innewohnt, indem sie die Hälfte der schlaflosen Zeit von Berufsarbeit frei macht. Denn damit werden zwar noch nicht im Sinne der Utopisten die Berufe als Lebensberufe aufgehoben, aber es verliert für den Einzelnen die Berufswahl einen grossen Teil ihrer früher besprochenen Bedeutung.

Niemand kann verbürgen, dass alle derartigen und andere hier nicht mehr erwähnbare Eingriffe nach ihrem ganzen Umfang in den zwei nächsten Menschenaltern stattfinden werden, es kann aber auch niemand behaupten, dass ihre Realisierung ausser dem Bereich des Möglichen liege. Die einzige, freilich gewaltige Vorbedingung, dass nämlich die unter der Unfreiheit der Berufswahl am meisten Leidenden sich den Einfluss auf die Gesetzgebung und die Verwaltung erkämpfen, der ihrer Zahl und der Wichtigkeit ihrer Arbeit entspricht, nachdem einmal die Gleichheit vor dem Gesetz anerkannt ist — diese Vorbedingung erscheint so wenig unerfüllbar, dass mit ihrer Erfüllung gerade von ihren Gegnern gerechnet wird.

Inzwischen geht die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Boden des Privateigentums an den Produktionsmitteln geräuschlos und unaufhaltsam ihren Gang. Nach ihrem Bedürfnis erweitert oder schmälert sich die Freiheit der Berufswahl. Sie hat die rechtlichen Fesseln der Berufswahl gesprengt und die ökonomischen

verstärkt. Die Herren der Produktionsmittel entscheiden über die Berufswahl von Tausenden. Von ihnen hängt es ab, ob der Boden vielen Ackerbauern oder wenigen Hirten oder niemandem Berufsarbeit verschafft. In ihren Händen entfaltet das Kapital seinen unstillbaren Verwertungsdrang, aus dem es Zeitungen oder Eisenbahnen, Theater oder Elektricitätswerke und damit neue Berufsstellen ins Leben ruft. Sie machen aus dem ackerbauenden Landstrich einen industriellen, ziehen die Männer vom Pflug weg zur Maschine, und die Frauen vom häuslichen Herde in den Mechanismus der Produktion und Verteilung. Die vorwärts drängende physikalische und chemische Technik nivelliert die Menschenarbeit und überträgt deren ehemalige Mannigfaltigkeit auf die von Menschen beaufsichtigten Maschinen 53. Dabei geht die Anzahl der industriellen Betriebe beständig zurück, während der Umfang der einzelnen anschwillt, und die Menge der in die gleiche abhängige Berufslage versetzten Menschen zunimmt 54. Die Herren der gleichartigen Betriebe verbünden sich zu riesenhaften Kartellen behufs Regulierung der Produktion, vergrössern oder verkleinern nach eigenem Interesse die Arbeitsgelegenheit. Sie zeigen der Gesellschaft durch die That, welcher Einwirkung auf die Berufswahl sie fähig geworden ist, nachdem der Grossbetrieb eine gewisse Höhe erreicht hat, und die gesammelten Produktivkräfte einer bewussten Lenkung zugänglich geworden sind 55. Wie die Gesellschaft solche Einsicht und Möglichkeit verwerten wird, wann einmal die in den ökonomischen Banden Liegenden zum verhältnismässigen Einfluss auf den Staat

gelangt sein werden — darauf liesse sich nur mit Vermutungen antworten.

Bei alledem können die uns hier näher stehenden Lehrlinge und Lehrmeister der wissenschaftlichen Berufe sich unbesorgt der Hut und Mehrung der hohen Güter hingeben, die ihnen anvertraut ist. Wenn ihr Dienst der Musen kein Geheimdienst ist, wenn sie bei ihrer Forschung nicht bloss ihre Fachgenossen im Auge haben, wenn es ihnen ernst ist mit der Erhaltung und Steigerung der Kultur, nicht irgend eine Selbstsucht sie mit ihrem Beruf verknüpft, dann müssen sie, über Bücher, Mikroskop oder Retorte gebeugt, schon einmal den Klagelaut des gefesselten Prometheus vernommen haben — der in Tausenden ihrer Mitmenschen unterdrückten Natur. Und dann könnte ihnen wohl der Gedanke gekommen sein, dass sie ihre dem Erwerbskampf entrückte, der Erkenntnis zugewandte Berufsübung einer Freiheit der Berufswahl verdanken, die sie über die Mehrzahl ihrer Volksgenossen erhebt, und dass sie damit einer Vergünstigung teilhaftig sind, die sie nicht selber begründet haben. Wer sich vom diesem Gedanken beklommen und belastet fühlt, der wird jede Linderung der fremden Fesseln als eigene Erleichterung empfinden, und eine Entwicklung, die ohne Vermehrung der Knechtschaft Zeit und Kräfte fur die Förderung der Wissenschaft frei macht, muss von denen begrüsst werden, die selber sich der Wissenschaft geweiht haben.

Anmerkungen.

in der gewöhnlichen Erwerbsorganisation von selbst sich ergebende Konsequenz der Abnahme und des endlichen Aufhörens des Lohnes zugleich mit der Abnahme und dem Erlöschen der Arbeitskraft." Hiergegen richtet sich die Invaliditäts- und die Altersversicherung. Zur Würdigung der im Deutschen Reich geltenden s. Zadok a. a. O. S. 45-50.

it. In seiner Ausgabe des Werkes (II, 365) verweist Rogers auf neuere Korrektive. —Marx, Kapital I 8 S. 356: ,,... wie sie (die Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft) neben der ökonomischen jede andere Sphäre der Gesellschaft ergreift und überall die Grundlage zu jener Ausbildung des Fachwesens, der Specialitäten und einer Parzellierung des Menschen legt, die schon A. Ferguson, den Lehrer A. Smiths, in den Ausruf ausbrechen liess: "Wir sind ganze Nationen von Heloten, und es giebt keine Freien unter uns". S. 366: "Eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung ist unzertrennlich selbst von der Teilung der Arbeit im ganzen und grossen der Gesellschaft." — S. auch Engels, Dührings Umwälzung der Wissenschaft S. 248.

Freiheit des Individuums in sehr hohem Masse bedingt durch die Stellung der Eltern, die zur Verfügung stehenden Gelegenheiten und Mittel und sonstige Verhältnisse..."

pont s'enrichir qu'on a moins besoin de devenir riche, et où l'on peut d'autant moins échapper à la misère qu'on est plus misérable": L. Blanc, Organisation du travail p. 18. "Die wirklich aufreibenden und wirklich widerwärtigen Arbeiten werden fast durchgängig statt besser als alle anderen bezahlt zu werden, am schlechtesten von allen bezahlt, weil sie von solchen verrichtet werden, die keine andere Wahl haben": Mill, Grundsätze der polit. Ökonomie, deutsch von Soetbeer II, 48.

»Die. vielgerühmte "Freiheit der Berufswahl" besteht also nur zwischen sehr engen Grenzen."

auf dem Gebiete der gewerblichen Produktion... und dieser ist es, dem das Handwerk weithin erliegt." Die Bestandteile oder Bahnen dieses Prozesses S. 180-189.